a. "Weltbürgerliche Vereinigung" und "Erweckung der Kräfte": Zukunft als Zielbestimmung

In der Absicht, die professionelle Geschichtswissenschaft ihrer am bitteren Ende als förmlicher Selbstverrat manifesten Verfallenheit an und Versunkenheit in den totalen historischen Relativismus zu guter Letzt doch wieder zu entreißen und – Ende gut, alles gut – jener vermeintlich unwiederbringlich verlorenen kritischen Distanz zum historiographischen Gegenstand, in der sie sich vorher behauptet, aufs Neue teilhaftig werden zu lassen, bemüht sich die Analytische Geschichtsphilosophie um eine Restitution und Wiederaufrüstung eben der früheren Empirie im Restbestand, die das Geschäft der kritischen Distanzierung von Anfang seines professionellen Bestehens an ebenso kriteriell bedingt wie maßgebend bestimmt und deren – in der Konsequenz ihrer Überforderung durch den Versuch einer dogmatisch-affirmativen Verwendung – ebenso katastrophisch-unerwarteter wie katabolisch-unaufhaltsamer Zusammenbruch demgemäß denn auch als das gelten muss, was den im historischen Relativismus resultierenden eklatanten Distanzverlust und spektakulären Konkurs der professionellen Geschichtswissenschaft verschuldet. Der als ontologisch-historiologisches Revisionsverfahren bestimmte Weg indes, auf dem die Analytische Geschichtsphilosophie diesem ihrem Bemühen um die Wiederherstellung der restbeständig früheren Empirie in der kritischen Geschäfts- und Funktionstüchtigkeit eines "Geschichte-als-Zeugnis"45 verkörpernden "dokumentarischen Beweises" zum Erfolg zu verhelfen sucht, ist – aller auf den zweiten Blick vermeintlichen Plausibilität zum Trotz – objektiv widersinnig. Indem die Analytische Geschichtsphilosophie mittels jenes ontologisch-historiologischen Revisionsverfahrens dem bis dahin von der professionellen Geschichtswissenschaft sei's manisch umworbenen, sei's melancholisch hochgehaltenen Topos einer als Anundfürsichsein vorausgesetzt originalen Vergangenheit den vernichtenden Prozess und standrechtlichen Garaus macht, befreit sie nämlich zwar die frühere Empirie im Restbestand von der hypothekarisch erdrückenden Last ihrer in Ansehung dieses verhältnis- und beispiellos paradigmatischen Topos glück- und hoffnungslos nominellen Prokura und stellt sie mit Hilfe der dem Topos originaler Vergangenheit substituierten Figuren variablen Präteritums tatsächlich denn auch in corpore der restbeständig früheren Empirie die technisch-formale Bedingung der Möglichkeit einer szientifisch-kritischen Distanzierung vom historischen Perfekt gegenwartsbezogen interessierter Geschichte wieder her. Aber gleichzeitig beseitigt – mit dem Resultat einer ebenso objektiven Ironisierung wie effektiven Widerlegung des dergestalt restaurativen Tuns – die Eliminierung des Topos originaler Vergangenheit als solche für die professionelle Geschichtswissenschaft überhaupt jede praktisch-materiale Notwendigkeit und reale Veranlassung zu solch szientifisch-kritischer Distanzierung. In der Tat gibt ja jene ontologisch-historiologische Elimination des die professionelle Geschichtswissenschaft bis dahin dominierenden und vielmehr tyrannisierenden, paradigmatischen Topos vorausgesetzt originaler Vergangenheit dem ganzen, von der Geschichtswissenschaft zum historischen Perfekt interessierter Geschichte professionellerweise unterhaltenen Verhältnis ein den Charakter grundlegend neuer Bedingungen aufweisendes, vollständig anderes Ansehen. Was der unter dem Eindruck des obsessiv übermächtigen Paradigmas originaler Vergangenheit in den totalen historischen Relativismus sich schickende Professionalismus der traditionellen Geschichtswissenschaft noch selbstverständlich als die Frucht eines – allem unbestreitbaren Anspruch auf die Geltung eines universalen Mechanismus und generellen Schicksals zum Trotz – diskriminierenden Sündenfalls und stigmatisierenden Vergehens sich vor Augen halten muss, das kann nun mit gleicher Selbstverständlichkeit der kraft ontologisch-historiologischer Besinnung von jenem paradigmatischen Topos sich emanzipierende Revisionismus der Analytischen Geschichtsphilosophie als das Ergebnis eines von aller Diskriminierung und Irreführung weit entfernten, essentiell bestimmenden und verbindlich beschließenden Konstitutionsakts und also, kurz, als ein der kategorialen Natur der Sache entspringendes exemplarisches Faktum und reguläres Objekt zur Kenntnis nehmen. Ein und dieselbe, in der Gestalt von gegenwartsbezogen interessierter Geschichte historisch perfekte Relativität, die die im Gewahrsam jenes paradigmatischen Topos Verhaltene nolens volens als demiurgisch lähmende Fessel und nämlich als Ausdruck der Verstrickung in ein einzig nur auf Kosten der substantiell einen Natur der Vergangenheit entstehendes partikulares Gebilde und historiographisches Blendwerk wahrzunehmen gezwungen ist, bereitet der aus dem Bannkreis jenes paradigmatischen Topos Entlassenen nicht die geringste Mühe, als einen, ganz im Gegenteil, transzendental verbindlichen Zusammenhang und nämlich als die Form der Darstellung des die Probe aufs Exempel von nichts als der generell identischen Struktur der Vergangenheit machenden, historiographischen Artefakts überhaupt und normalen Geschichtswerks zu realisieren. Und eben die im empirischen Zueignungsautomatismus durchgesetzte Abhängigkeit der Vergangenheit von der Gegenwart also, die für die unter dem Schock und Einfluss des Paradigmas originaler Vergangenheit stehende professionelle Geschichtswissenschaft einem, sich als totaler historischer Relativismus artikulierenden gnoseologisch-universellen Verdikt über schlechthin alles unter ihren Bedingungen etablierte historische Perfekt gleichkommen muss, kann der mit ontologisch-historiologisch gutem Grund der Faszination und Verbindlichkeit jenes Paradigmas sich verschließenden Analytischen Geschichtsphilosophie unmittelbar nun und umstandslos als vielmehr die epistemologisch-kategoriale Grundbestimmung schlechterdings jeder in ihrem Rahmen, egal ob specie imperfecta oder modo perfecto, konstituierten Historie sich zu erkennen geben.

Wie könnte angesichts ihres in Abwesenheit jenes eifersüchtigen Paradigmas solcherart grunderneuerten und mit der Konsequenz einer Transmutation gnoseologisch-universaler Verwerfung in epistemologisch- transzendentale Anerkennung radikal entspannten Verhältnisses zum historischen Perfekt gegenwartsbezogen interessierter Geschichte für die professionelle Geschichtswissenschaft nun noch die mindeste Notwendigkeit und der geringste objektive Anlass zu dem kritischen Abwehrgestus und refutativen Distanzierungsgebaren bestehen, zu dem ihr – ausgerechnet auf dem Weg der solchermaßen radikalen Erneuerung ihres Verhältnisses zum historischen Perfekt – die Analytische Geschichtsphilosophie in corpore der auf diesem Wege gleichzeitig revidierten früheren Empirie im Restbestand die Möglichkeit und den technischen Apparat zurückzuerstatten unternimmt? Das der vernichtend komparativen Beziehung zu jenem anmaßlich absoluten Kriterium originaler Vergangenheit ledige historische Perfekt interessierter Geschichte ist ja von sich aus ganz und gar nicht dazu angetan, den Verdacht eines auf Kosten der Wahrheit lancierten Schwindelunternehmens zu erregen und den Eindruck nämlich einer à fonds perdu eben jener originalen Vergangenheit organisierten Scheinproduktion zu erwecken. Wie könnte es dann aber auch die professionelle Geschichtswissenschaft dazu animieren, die pro majorem originalis praeteriti gloriam zuvor gepflogene Tradition der unter der Camouflage einer Vergleichs- und Verifizierungsveranstaltung gegen es vorgetragenen kritischen Offensive und Refutationskampagne fortzusetzen respektive wiederaufzunehmen? Unmittelbar tendiert vielmehr dies vom Druck jenes vorgeblich absoluten Kriteriums befreite historische Perfekt dazu, in der gelösten Gestalt eines der Natur der temporalen Sache selbst entsprechenden Resultats sich darzubieten. Und eben deshalb scheint es im Gegenteil einzig und nur geeignet, der professionellen Geschichtswissenschaft, wenn schon nicht das identifikatorische Verhalten eines unreflektiert-interessierten Teilhabers abzufordern, so jedenfalls doch das affirmative Verhältnis des unreserviert-engagierten Teilnehmers nahezulegen. Folglich scheint denn tatsächlich auch der einzige Grund, den unter diesen Umständen der nur um den Preis aller praktisch-materialen Notwendigkeit wiederzugewinnenden technisch-instrumentalen Möglichkeit zur Distanzierung vom historischen Perfekt interessierter Geschichte die Analytische Geschichtsphilosophie dafür, dass sie nun dennoch am Habitus jenes, hinter dem Anschein eines konstruktiv-kritischen Prüfungsverfahrens sich versteckenden Distanzierungsverlangens und Fluchtreflexes festhält, noch geltend zu machen vermag, eben die reflexhafte Gewohnheit selbst und also ein die skeptische Reserve im Interesse der Sache der Wissenschaft durch zynisches Verhalten im Dienste der wissenschaftlichen Institution substituierendes schieres Trägheitsprinzip zu sein.

Schwerlich mithin kann die von der Analytischen Geschichtsphilosophie aus der diagnostischen Proposition einer gänzlich neuen Beurteilung des Topos originaler Vergangenheit im Sinne einer vollständig erneuerten Kritik der Position historischen Perfekts gezogene therapeutische Konsequenz den Charakter überzeugungskräftiger Plausibilität und unwidersprechlicher Folgerichtigkeit beanspruchen. Wohl hingegen und mit aller Entschiedenheit scheint die der problematischen therapeutischen Konsequenz zugrunde liegende diagnostische Proposition als solche Anspruch auf die Geltung eines beweiskräftigen Arguments und stringenten Gedankengangs erheben zu können. In der Tat präsentiert sich, was im Zuge ihrer ontologisch-historiologischen Feststellungsklage die Analytische Geschichtsphilosophie mit der Implikation einer schlechthin vernichtenden Kritik gegen den von der professionellen Geschichtswissenschaft bis dahin hochgehaltenen Topos einer als Anundfürsichsein vorausgesetzt originalen Vergangenheit vorzubringen und als mit jenem Topos ganz und gar unvereinbare transzendentale Grunddefinition des Präteritums geltend zu machen weiß, als so augenfällig einleuchtend und derart umstandslos selbstverständlich, dass angesichts dessen die Frage nach den eigentümlichen Bedingungen und außergewöhnlichen Umständen sich aufdrängt, die überhaupt die professionelle Geschichtswissenschaft haben veranlassen können, diese unverbrüchlich transzendentale Verfassung der Vergangenheit hinlänglich außer Acht zu lassen, um für ihren in Gestalt jenes Topos originaler Vergangenheit eklatanten Verfassungsbruch den nötigen Mut, will heißen: die erforderliche Unbedarftheit und Ignoranz, aufzubringen. Was – so scheint zu fragen nicht bloß erlaubt, sondern geradezu geboten – kann überhaupt die professionelle Geschichtswissenschaft dazu vermögen, von dem präteritumskonstitutiven Grundverhältnis teils der im Allgemeinen ontologischen Abhängigkeit der Vergangenheit von der Gegenwart, teils der im Besonderen historiologischen Bezogenheit der Vergangenheit auf die der Gegenwart eigene futuristische Dimension ausreichend abzusehen, um für die im doppelten Sinn skandalöse Ansicht und Vorstellung einer teils ontologisch als Anundfürsichsein hypostasierten, teils historiologisch zum originalen Dasein fetischisierten Vergangenheit Platz zu schaffen. Das heißt, Platz zu schaffen für jenen Topos einer als Anundfürsichsein vorausgesetzt originalen Vergangenheit, der in einer völligen Umkehrung und regelrechten Perversion des wirklichen Verhältnisses in eben dem Maß, wie er selber die Position des in der Unmittelbarkeit genuiner Bestrebungen und Ursprünglichkeit ureigener Regungen subsistierenden ens realissimum und natürlichsten Wesens arrogiert, rückwirkend nun dem historischen Perfekt gegenwartsbezogen interessierter Geschichte dessen naturgemäße Orientierung an und sachkonforme Übereinstimmung mit den transzendental verbindlichen Prinzipien der Präteritumkonstitution überhaupt zum Vorwurf der der schlimmsten Heteronomie entspringenden gravierendsten Scheinhaftigkeit gereichen und zum Bösen der von der unheilbarsten Entfremdung zeugenden verwerflichsten Widernatürlichkeit ausschlagen lässt. Und also Platz zu schaffen für jenen paradigmatischen Topos, unter dessen traumatisierendem Eindruck das – unabhängig von dem Problem ungleichzeitig konkurrierender Bezugspunkte – assertorisch-klare Bewusstsein von der in objectu der Vergangenheitssache selbst konstitutionell ausgemachten Relativität aller Historie dem – zwischen Abscheu und Resignation changierenden und von der Skepsis bis hin zum Zynismus entfalteten – denunziatorisch-schlechten Gewissen des historischen Relativismus weicht.

Die Frage nach den näheren Umständen – und das heißt, nach den historisch spezifizierbaren Bedingungen – der mit Rücksicht auf die ontologisch-historiologische Konstitution der Vergangenheit die professionelle Geschichtswissenschaft auszeichnenden Ignoranz scheint umso unabweislicher, als das, was an konstitutionellen Bestimmungen des Präteritums die Analytische Geschichtsphilosophie nunmehr gleichermaßen zur Kenntnis nimmt und zur Geltung bringt, ja nicht etwa der Aufmerksamkeit der historiokritischen Reflexion der bürgerlichen Gesellschaft immer schon und seit jeher entgangen, sondern – wie das Gegenbeispiel der Kantischen Geschichtsphilosophie unschwer deutlich werden lässt – dieser historiokritischen Reflexion allererst und frühestens im Zusammenhang mit ihrer, auf dem Boden der entwickelten bürgerlichen Gegenwart sich vollziehenden Etablierung als professionelle Geschichtswissenschaft aus dem Blickfeld geraten ist. Dass die in Sachen Präteritumsbildung hiernach evidente konstitutionstheoretische Widersprüchlichkeit beziehungsweise transzendentallogische Unzurechnungsfähigkeit der professionellen Geschichtswissenschaft ein Fall nicht etwa bloß von originärer Stupidität und Blindheit, sondern durchaus von induzierter Stupefaktion und Verblendung ist und dass mithin die ontologisch-historiologischen Grundprinzipien der Vergangenheit nicht überhaupt aus quasi anthropologischen Gründen dem Bewusstsein der professionellen Geschichtswissenschaft verborgen geblieben sein können, sondern aus historisch bestimmten Ursachen ihrem Gedächtnis entfallen sein müssen, dafür steht in der Tat Kant ein. Was die geschichtswissenschaftliche Profession eines Burckhardt als bereits vollständig in Vergessenheit geraten ausweist, das setzt die geschichtsphilosophische Reflexion Kants noch als ein ebenso fundamentales wie selbstverständliches Verhältnis voraus.

So scheint erstlich die im Allgemeinen der ontologischen Stellung ausgemachte konstitutionelle Abhängigkeit der Vergangenheit von der Gegenwart der Kantischen Reflexion noch ganz und gar nicht zweifelhaft und im Entferntesten kein den Schwierigkeiten, die die professionelle Geschichtswissenschaft damit hat, vergleichbares Problem. Wenn Kant dem von ihm in Vorschlag gebrachten Modell einer "philosophisch" konstruierten Geschichte das Stereotyp der "empirisch abgefassten Historie" gegenübertreten und das Paroli eines unbestreitbar herrschenden historiographischen Standards bieten lässt, so ja nicht etwa, um jene "philosophische Geschichte" vor den sie zugrunde zu richten geeigneten Fall einer in an und für sich seiender Objektivität wahren Vergangenheit kommen zu lassen. Was die Kantische Geschichtsphilosophie dem durch sie projektierten Geschichtsverlauf selber als Einwand entgegen- und vielmehr als Einschränkung vorhält, ist beileibe nicht das Verum einer jeder Vermittlung durch gegenwartsspezifische Absichten überhaupt entratenden und in der isolationistischen Unmittelbarkeit genuiner Bestrebungen und ureigener Regungen auf sich gestellten Vergangenheit, sondern – wie schon zuvor erörtert – einzig und nur das Faktum eines praesenti casu noch wesentlich anderen Absichten und Bedürfnissen als den Interessen und Intentionen der frühbürgerlichen Gegenwart verpflichteten und modo imperfecto seines unaufhörlich spontanen Hervortretens gegen die planvoll "vernünftigen Zwecke" der letzteren indifferenten Präteritums. Das heißt, das Faktum eines Präteritums, das den Absichten und Bedürfnissen jenes – in absolutistischer Zuspitzung kontinuierten – traditionellen Erfahrungszusammenhangs verhaftet bleibt, der in der Rolle eines mit der frühbürgerlichen Gegenwart übermächtig konkurrierenden Präsens sich behauptet und der, wie er einerseits zwar aller in ihm resultierenden Vergangenheit den mit keiner "vernünftigen Absicht"46 vereinbaren Charakter eines die "Regierung des blinden Ungefährs"47 illustrierenden und vom "gesetzlosen Zustand der Wilden"48 zeugenden "verworrenen Spiels" und "widersinnigen Ganges menschlicher Dinge" vindiziert, so allerdings auch andererseits aller auf ihn gemünzten Historie die durch keine qua "philosophische Geschichte" bloße Absichtserklärung und abstrakt-vernünftige Projektion zu erschütternde Macht und Bedeutung einer als handgreifliche Sinnenfälligkeit empirischen Evidenz verleiht. Die gegen seinen eigenen Vorschlag einer "philosophischen Geschichte" von Kant in Anschlag gebrachte Faktizität "empirisch abgefasster Historie" stellt also ganz und gar nichts anderes dar als die – wie sehr auch immer zum unspezifisch blinden Reflex naturierte – spezifische historiographische Reaktion auf das schwergewichtige Bestehen eines mit der frühbürgerlichen Gegenwart in die Länge und Breite seiner naturwüchsig alternativen Bedürfnisse und planlos kontradiktorischen Absichten konkurrierenden Präsens. Und mitnichten dient sie denn etwa auch Kant dazu, gegen den als transzendentale Rahmenbestimmung des Präteritums überhaupt firmierenden Charakter gegenwartsbezogener Relativität den als transzendentes Existential der Vergangenheit selbst figurierenden Popanz einer an und für sich seienden Absolutheit ins Feld zu führen. Vielmehr bleibt ihre Funktion darauf beschränkt, nicht etwa das Prinzip der Abhängigkeit der Vergangenheit von der Gegenwart als solches in Frage zu stellen, sondern partout nur die empirischen Grenzen einer Subsumtion der Vergangenheit unter den qua "philosophische Geschichte" ihr durch die frühbürgerliche Gegenwart angesonnenen "besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtung"49 zu markieren.

Scheint denn aber schon die nach dem Bescheid der Analytischen Geschichtsphilosophie in genere der ontologischen Stellung ausgemachte konstitutionelle Abhängigkeit der Vergangenheit von der Gegenwart ein Grundverhältnis, das im Sinne einer selbstverständlichen Voraussetzung oder stillschweigenden Implikation die Kantische Reflexion zumindest nicht weniger als die auf seine Herausarbeitung und Explikation sich werfende Dantosche Analyse in Rechnung zu stellen und gelten zu lassen bereit ist, so ist nun vollends die in specie des historiologischen Standorts von der Analytischen Geschichtsphilosophie konstatierte funktionelle Bezogenheit der Vergangenheit auf die der Gegenwart immanente futuristische Dimension ein Sachverhalt, den jene mehr noch als diese ins Spiel zu bringen und eine tragende Rolle spielen zu lassen gewillt ist. Eben die in ihrer topischen Projektion und anschauungsförmigen Vorwegnahme als Zukunft deklarierte Potenz des Werdens nämlich, die die Analytische Geschichtsphilosophie nurmehr als den die exzentrische Dynamik eines unentwegten "zeitlichen Provinzialismus" provozierenden, schicksalhaft blinden Fleck und anonymischen Widerpart der durch ihre spezifischen Interessen und Intentionen determinierten Gegenwart wieder zur Kenntnis zu nehmen versteht, weiß die Kantische Reflexion noch vielmehr als den das dynamische Zentrum eines "nichts weniger als schwärmerischen" "Chiliasmus"50 bildenden autonomischen Reflexionspunkt und zureichenden Grund der die Gegenwart bestimmenden spezifischen Interessen und Intentionen selbst in Szene zu setzen. Was die Dantosche Analyse nurmehr als einen die "Organisationsschemata" der Gegenwart limitierenden und mit dem Nonplusultra ihrer unmittelbaren Bankerotterklärung konfrontierenden Hannibal ante portas der von der Gegenwart eingenommenen Positionen und behaupteten Stellungen wahrzunehmen vermag, das kann die Kantische Reflexion noch ohne weiteres als den die "vernünftige Absicht" der Gegenwart substantiierenden und als conditio sine qua non bedingenden Deus ex machina der von der Gegenwart selber vertretenen Interessen und verfolgten Intentionen in Anspruch nehmen. Denn weil der "vernünftige Zweck", um den Kant die Interessen der frühbürgerlichen Gegenwart kreisen und auf den er ihre sämtlichen Intentionen gerichtet sieht, die dem "Antagonismus" von individueller Freiheit und kollektivem Zwang entspringende und "frei von Instinkt durch eigene Vernunft"51 zu vollbringende "Erweckung aller Kräfte des Menschen"52 und "Entwickelung seiner Naturanlagen"53 ist, diese im Allgemeinen "vernünftige Absicht" indes nach Kants Überzeugung einen als "vollkommene bürgerliche Vereinigung in der Menschengattung"54 von ihm deklarierten besonderen, historischen Vergesellschaftungszustand als die unabdingbare Grundlage ihrer schließlichen Verwirklichung voraussetzt, erweist sich in der Tat die Zukunft als nicht bloß integrierender Bestandteil, sondern geradezu tragendes Element der Interessenlage und intentionalen Bestimmung der Gegenwart und artikuliert sich das generelle Interesse der Gegenwart an einer perfektionistischen Entfaltung ihres latenten Wesens je schon wesentlich und zuvörderst als das spezielle Streben nach einer futuristischen Veränderung ihres manifesten Seins. So sehr tatsächlich liegt diese, von Kant als "weltbürgerlicher Zustand"55 namhaft gemachte Zukunftsbestimmung in dem der Gegenwart eigenen Interesse und so sehr wahrhaftig ist sie in der Intention der Gegenwart einbegriffen, dass ihre Implikation und prozessuale Dazwischenkunft einem regulären Subjektwechsel gleichkommt, demzufolge sie, die als der zureichende Grund der Realisierung des Gegenwartsinteresses intervenierende Zukunft, die substantielle Bedeutung des eigentlichen Trägers und Wahrers des letzteren annimmt, wohingegen die Gegenwart selbst sich auf die funktionelle Rolle eines bloßen Stellvertreters und Zuträgers dieser, das Gegenwartsinteresse sich zu eigen machenden und für das ihre erklärenden Zukunft eingeschworen findet. Indem die Interessen und Intentionen der frühbürgerlichen Gegenwart zu dieser als "weltbürgerlicher Zustand" avisierten futuristischen Bestimmung der Gegenwart ihre Zuflucht nehmen und als zu ihrem desiderativen fundamentum in re und verheißungsvoll wahren Subjekt sich bekennen, lassen sie der Gegenwart selber gar keine andere Wahl, als mit diesem zukünftigen Zustand sich von ganzem Herzen zu identifizieren und, um des Erhalts eben jener durch ihn mit Beschlag belegten und wahrgenommenen Interessen in toto und Intentionen in genere willen, ihr vorzugsweise besonderes Interesse ihm als solchem gelten zu lassen und ihre exklusiv unmittelbare Intention auf ihn in specie zu konzentrieren.

So besehen, realisiert also – anders als die Dantosche Analyse – die Kantische Reflexion jene der Gegenwart eigene futuristische Dimension nicht sowohl und nicht bloß als den äußerlichen Bezug einer die Gegenwart im ganzen Umfang ihrer spezifischen Interessen und Intentionen mit dem Schicksal der Auflösung und Veränderung konfrontierenden abgründigen Grenze und unbekannten Größe, sondern vielmehr und emphatischer mit der immanenten Bedeutung einer der Gegenwart selber, um der konsequenten Wahrnehmung eben dieser ihrer spezifischen Interessen und Intentionen willen, den Charakter einer selbstüberwindenden Resolution und altruistischen Identität verleihenden, grundlegenden Perspektive und eigentümlichen Potenz. Und insofern ist nun natürlich auch die durch die Interessen und Intentionen der Gegenwart vermittelte und bestimmte Vergangenheit nicht erst – wie die Dantosche Analyse will – ex negativo der abstrakten Vergänglichkeit und vernichtenden Kontingenz der der Gegenwart eigenen besonderen Interessen und endlichen Intentionen an Zukunft als an den chronischen Fluchtpunkt einer sie fortwährend ereilenden unvorhersehbaren Revision verwiesen, sondern bereits ex cathedra dieser ihrer Vermitteltheit und Bestimmtheit durch die Interessen und Intentionen der Gegenwart mit der Zukunft als dem "chiliastischen" Zielpunkt einer sie immer neu orientierenden kontinuierlichen Interpretation zusammengeschlossen. Und zwar dergestalt zusammengeschlossen, dass hiernach eben dieser, in actu der Gegenwart geschlossene Bund der Vergangenheit mit der Zukunft – in förmlicher Aufhebung des unmittelbar angenommenen Determinationsverhältnisses und in Übereinstimmung mit dem zuvor konstatierten, zwischen Gegenwart und Zukunft sich ereignenden Subjektwechsel – schlankweg identisch mit jener Interessengemeinschaft ist, auf die als auf ihren eigenen, wenn schon nicht kategorial verbindlichen, so jedenfalls ideal verpflichtenden Bestimmungsgrund die aktuelle Gegenwart selbst sich beruft, und mithin zum wenn schon nicht konstitutiven Fundament, so jedenfalls regulativen Grundriss einer apperzeptionellen Einheit und objektiven Synthesis zwischen Gegenwart und Vergangenheit als gleichermaßen im Bunde mit dem Integral der Zukunft begriffenen Momenten des historischen Kontinuums wird. Weil und insofern die Gegenwart mit ein und derselben Handlung, mit der sie ihre spezifischen Interessen und Intentionen zum bestimmenden Gesichtspunkt und mediatisierenden Aspekt der Vergangenheit werden lässt, diese ihre Interessen und Intentionen der Obhut der Zukunft anvertraut und der als vordringliches Interesse und intentio principalis wahrgenommenen letzteren zu den treuen Händen ihrer voraussichtlich überlegenen Kapazität übergibt, stellt sich die scheinbar egoistisch motivierte, diskontinuierliche Requisition der Vergangenheit durch die Gegenwart als vielmehr bloße Integration der Gegenwart in die futuristisch dimensionierte Kontinuität der Vergangenheit selbst heraus und enthüllt sich der dem unmittelbaren Anschein nach einem privativen Interesse entspringende Akt der Verfügung der Gegenwart über die Vergangenheit als in Wirklichkeit einfache Bewegung der Solidarisierung der Gegenwart mit der der Vergangenheit immanenten Intention.

Fußnoten

... "Geschichte-als-Zeugnis"45
Danto, a.a.O., S. 183.
... Absicht"46
Kant, a.a.O., S. 49.
... Ungefährs"47
Ebd., S. 43.
... Wilden"48
Ebd., S. 42.
... Weltbetrachtung"49
Ebd., S. 49.
... "Chiliasmus"50
Ebd., S. 45.
... Vernunft"51
Ebd., S. 36.
... Menschen"52
Ebd., S. 38.
... Naturanlagen"53
Ebd.
... Menschengattung"54
Ebd., S. 47.
... Zustand"55
Ebd.