1. Sozialer Wandel statt Revolution: Die gebannte Gefahr

Erörtert und dargestellt wurde, was die eben hierbei zur professionellen Geschichtswissenschaft sich ausbildende historiographische Reflexion der entwickelten bürgerlichen Gegenwart nötigt, den von ontologisch-historiologischem Missverstand geprägten Topos einer im Anundfürsichsein genuiner Bestrebungen und ureigener Regungen verhaltenen, originalen Vergangenheit zu kreieren und als gleichermaßen den Hochaltar und die Schädelstätte eines Kults der historischen Wahrheit zu etablieren. Es ist ein die bürgerliche Gegenwart ebenso aktiv-funktionell bedrohendes wie passiv-strukturell kompromittierendes, revolutionäres Präsens, dem als mit der bürgerlichen Gegenwart um die Vermittlung und Bestimmung der Vergangenheit konkurrierendem, neuem historischem Subjekt die professionelle Geschichtswissenschaft durch jenen Topos einer Vergangenheit an und für sich und in origine gleichermaßen formaliter Tribut zu zollen und materialiter den Schneid abzukaufen unternimmt. Bleibt die Frage, was es der modernen historiographischen Reflexion wie etwa Dantos Analytischer Geschichtsphilosophie plötzlich ermöglicht, jenen ebenso lähmend monströsen wie kultstiftend imponierenden Vergangenheitstopos kraft ontologisch-historiologischer Kritik sich vom Halse zu schaffen und, frei von den Fesseln der qua Wissenschaft ihm gezollten kanonischen Obedienz, wieder zur Tagesordnung eines nicht allein als das Gegebene zur Kenntnis genommenen, sondern auch als das Natürliche akzeptierten historischen Relativismus überzugehen. Unter der Voraussetzung der für die Genese jenes Vergangenheitstopos gelieferten Erklärung liegt die Antwort auf diese Frage auf der Hand. So gewiss die Einführung jenes Vergangenheitstopos mit der – Mitte des 19. Jahrhunderts augenscheinlich akuten – Bildung eines revolutionär neuen historischen Subjekts zusammenhängt, so gewiss hat seine Abschaffung etwas mit der – Mitte des 20. Jahrhunderts allem Anschein nach perfekten – Auflösung eben dieses revolutionären Subjekts zu tun. Wenn die Liquidation jenes hypostatischen Vergangenheitstopos durch die moderne historiographische Reflexion etwas signalisiert, so dies, dass der für die professionelle Geschichtswissenschaft in ihrer klassischen Ausprägung konstitutive ökonomisch-gesellschaftliche Widerspruch und entsprechende praktisch-politische Konflikt nachgerade kein Problem mehr darstellt, dass also die auch und gerade in ihrer Vergangenheitsbewältigung sich spiegelnde Bedrohung der bürgerlichen Gegenwart durch ein sie ebenso aktiv in Frage stellendes wie objektiv kompromittierendes, revolutionäres Präsens aufgehört hat zu bestehen und mittlerweile selber der Vergangenheit angehört. Das heißt, die durch die Analytische Geschichtsphilosophie vollzogene relative Befreiung der professionellen Geschichtswissenschaft aus dem götzendienerischen Bannkreis der von ihr selber zuvor etablierten szientifischen Topik ist Ausdruck eben dessen, dass die Bedrohung der bürgerlichen Gegenwart durch ein sie konfrontierendes, sprengkräftig alternatives Präsens vorüber, dass die der bürgerlichen Gegenwart ins Haus stehende revolutionäre Gefahr gebannt scheint.

In der Tat hat da, wo sie während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unmittelbar bevorzustehen schien, nämlich im Kraft- und Spannungsfeld der entwickelten bürgerlichen Gegenwart, die Erhebung des revolutionären Präsens zur bestimmenden Gegenwart, die Verwandlung der proletarischen Internationale in eine sozialistische Staatengemeinschaft, kurz: die Revolution, nicht stattgefunden.75 In der Tat ist es der qua internationales Proletariat durch die entwickelte bürgerliche Gegenwart hervorgetriebenen "weltbürgerlichen Vereinigung" nicht gelungen, die ihr von ihren Betreibern und Ausbeutern aufgedrungene Fasson kategorialer Gesetztheit abzustreifen und jener politisch-ökonomischen Selbstbestimmung teilhaftig zu werden, die gleichermaßen der zwingende Schluss und die natürliche Konsequenz ihrer im Arbeitsprozess errungenen materialen Autonomie schien. In der Tat hat die dem neuen historischen Subjekt von der bürgerlichen Gegenwart als seine transzendentale Konstitution oktroyierte kategorialrestriktive Bestimmtheit und realabstraktive Form sich bei weitem haltbarer gezeigt, als zu erwarten stand. Statt unter dem Einfluss und Druck einer durch sie allein noch gefesselten und reprimierten prometheischen Kraft und substantiellen Subjektivität sich aufzulösen oder zu zerspringen, hat sich diese kategorialiter determinierende Form und realiter herrschende Bestimmtheit als elastisch und widerstandsfähig genug erwiesen, um den ihr innewohnenden Explosivstoff seiner gegen sie sich richtenden zerstörerischen Sprengkraft zu berauben und in die kooperativ dosierte Energie eines sie einschließenden allgemeinen Transformationsprozesses umzuwandeln. Indem jene, von der bürgerlichen Gegenwart ihm oktroyierte, äußerlich-kategoriale Form und heteronom-reale Bestimmtheit, gegen die kraft seiner im Arbeitsprozess errungenen materialen Autonomie das revolutionäre Präsens sich erhebt, dem Angriff – nicht zuletzt dank der polizeilich-militärischen Interventionen der Staatsmacht – wider Erwarten standhält, verliert sie allmählich den Charakter einer Fassade und Schale, die gesprengt und eliminiert werden muss, damit an ihre Stelle umstandslos die als sachliche Kompetenz und technische Qualifikation bestimmten Konstitutiva der dem revolutionären Präsens eigenen materialen Autonomie treten können, und gewinnt stattdessen die Bedeutung eines Gegen- und Widerstands, den es abzutragen und wegzuarbeiten gilt, um ihn ganz unmerklich durch eine als subjektspezifische Verfassung neue Konstitution und als sachgemäße Bestimmung andere Qualität zu ersetzen. So aber als zu überwindender Widerstand, als empirische, objektive Beschaffenheit, statt als zu zerbrechende Fessel, als transzendentale, restriktive Schranke, ins Auge gefasst und akzeptiert, verwickelt jene kategoriale Form und heteronome Bestimmtheit das revolutionäre Präsens in eine politisch-ökonomische Auseinandersetzung, bei der – entsprechend der naturgesetzlichen Verknüpfung von Erosion und Integration – jeder, im exoterischen Verstand gegen die kategoriale Form und heteronome Bestimmtheit sich richtende Zerstörungs- und Substituierungsversuch nolens volens den esoterischen Sinn einer auf die kategoriale Form und heteronome Bestimmtheit gerichteten Inkorporierungs- und Aufhebungsbemühung erhält. Das heißt, die Reaffirmation jener äußerlich-kategorialen Form und heteronom-realen Bestimmtheit in der Stellung nicht mehr bloß einer entschlossen abzustreifenden Larve, sondern eines umständlich abzulegenden Charakters, verwickelt das revolutionäre Präsens in einen Prozess, der eben deshalb, weil er das revolutionäre Präsens zwingt, jene Form als Widerstand abzutragen, statt sie als Bann zu durchbrechen, oder jene Bestimmtheit als Beschaffenheit zu erodieren, statt sie als Betrug zu dekuvrieren, tatsächlich gar nicht verfehlen kann, die dem revolutionären Präsens eigene, verdinglichungsfeindlich explosive Kraft in eine vielmehr bloße, objektkritisch konsumtive Energie umzumodeln und also die dem revolutionären Präsens vermeintlich verliehene, kriteriell vernichtende Gewalt über eine ihm oktroyierte entfremdete Form von Gesellschaftlichkeit zu dem in Wirklichkeit ihm gegebenen, essentiell verzehrenden Einfluss auf eine es okkupierende Form von gesellschaftlicher Entfremdung zu ermäßigen.

Reduziert sich solcherart aber die dem neuen "weltbürgerlichen" Subjekt verliehene revolutionäre Macht auf den Prozess einer nach Maßgabe des natürlichen Zusammenhangs von erosiver Beseitigung und digestiver Einverleibung nolens volens mit Amalgamierung synonymen Zersetzung, mit Aufhebung synonymen Abtragung, mit Anverwandlung synonymen Aufzehrung jener kategorialen Form und heteronomen Bestimmtheit, so liegt die Gefahr, dass dieser Prozess sich schließlich als bloße, jene Form und Bestimmtheit betreffende Transformationsbewegung herausstellt, am Ende auf eine bloße, jene Form und Bestimmtheit dem revolutionären Subjekt als ihm konformes Konstitutiv und immanente Bestimmung neu zu verpassen geeignete Revisionsveranstaltung hinausläuft, klar genug am Tage. Und in der Tat hat es im Laufe der nachfolgenden Entwicklung mehr und mehr den Anschein, als sei eben dies: die reformierende Umwandlung jener äußerlich-kategorialen Form in ein sacheigentümliches Element oder die redintegrierende Transformation jener heteronom-realen Bestimmtheit in eine subjektspezifische Struktur die heimliche Logik und ironische Ratio des vom revolutionären Präsens gegen jene Form und Bestimmtheit angestrengten Erosions- und Zersetzungsprozesses. In der Tat gewinnt es – zumal im Fortgang des 20. Jahrhunderts – mehr und mehr den Anschein, als sei der Prozess, mit dem das revolutionäre Präsens auf den von jener Form und Bestimmtheit ihm geleisteten unerwarteten Objektwiderstand dergestalt reagiert, dass es seine zur quasi-physikalischen Sprengung bereite revolutionäre Explosionskraft in eine zur quasi-chemischen Zersetzung disponierte subversive Erosionsenergie ummünzt, zwar seiner offiziellen Zielprojektion und äußeren Anlage nach in der allmählichen Ablösung und Ersetzung jener kategorialen Form und heteronomen Bestimmtheit durch die Bestimmungen der dem revolutionären Präsens eigenen materialen Autonomie begriffen, seiner inneren Logik und geheimen Mission zufolge aber vielmehr mit der unmerklichen Infiltration und Entstellung der dem revolutionären Präsens eigenen materialen Autonomie durch eben jene kategoriale Form und heteronome Bestimmtheit befasst.76 In der Tat will es um die Mitte des 20. Jahrhunderts ganz so scheinen, als sei das wesentliche Resultat des vom revolutionären Präsens gegen jene kategoriale Form und heteronome Bestimmtheit angestrengten Zersetzung- und Erosionsprozesses ein vollkommenes Amalgam aus heteronomer Form und materialer Autonomie, eine dem prozessierenden Subjekt zu guter Letzt angepasste, um nicht zu sagen angegossene, neue Konstitution und andere Fassung, die dadurch sich auszeichnet, dass sie das, was sie als ein äußeres Zwangsverhältnis substituiert, ebenso sehr als ihre spezifische, verbindlich innere Struktur retabliert, und die also die dem revolutionären Präsens qua sachliche Kompetenz und technische Qualifikation eigene materiale Autonomie als politischen Faktor nur unter der Bedingung zum Tragen und als Vergesellschaftungsmoment nur um den Preis zur Geltung zu bringen vermag, dass sie ihr zugleich jene, einer erosiven Revision unterzogene äußerlich-kategoriale Form und heteronom-brutale Bestimmtheit als mit aller sachlichen Kompetenz verknüpften inneren Sachzwang und mit jeder technischen Qualifikation verschmolzene subtile Naturnotwendigkeit innerviert und zur unausweichlichen Auflage macht. Als Verschmelzungsprodukt aus zum politisch erheblichen, phänomenalen Expertentum reformatorisch ausgebildeter, materialer Autonomie und zum ökonomisch verbindlichen, strukturalen Sachzwang revisionistisch internalisierter, heteronomer Form scheint sich die neue Konstitution und andere Fassung, die im Laufe seines zum sozialen Wandel ermäßigten politischen Emanzipationsprozesses das revolutionäre Präsens gewinnt, am Ende in der Gestalt einer zum ebenso schmiegsamen wie ehernen Gehäuse perfektionierten Passform oder vielmehr einer als seine Uniform dem Subjekt ebenso angemessenen wie angegossenen Zwangsjacke darzubieten. Das heißt, sie scheint sich als eine zur Lebensform totalisierte Fasson zu präsentieren, deren ideologisch zwingender Charakter, deren psychologisch erdrückender Einfluss und deren faktisch unentrinnbare Gewalt sich eben daraus ergibt, dass sie den in aller Form und Realität gegründeten Anspruch erheben kann, das Resultat einer durch die programmatisch-politische Anstrengung und die solidarisch-reformatorische Tätigkeit wesentlich nur des revolutionären Subjekts selbst vollbrachten Transformationsleistung zu sein. Einer Transformationsleistung, die in der Tat das deformiert heteronome Verhältnis der dem revolutionären Präsens durch die bürgerliche Gegenwart von außen oktroyierten kategorialen Bestimmtheit ins autonom formierte Verhalten des aus den eigenen Stücken seiner spezifischen Struktur mit der bürgerlichen Gegenwart kontrahierenden revolutionären Präsens selbst aufzuheben scheint. Einer Transformationsleistung, die in der Tat die privativ verdinglichende Kategorialität der bürgerlichen Gegenwart dem revolutionären Präsens als die ihm eigene, seine Relation zur bürgerlichen Gegenwart versachlichende, soziale Identität zu assimilieren scheint. Einer Transformationsleistung, die in der Tat die als Privatgesellschaft mit beschränkter Haftung auf dem revolutionären Präsens lastende bürgerliche Ausbeutungsmaschinerie und Klassenherrschaft in eine als Sozialstaat mit marktwirtschaftlicher Ordnung vom revolutionären Präsens höchstpersönlich getragene und aufrecht erhaltene Solidargemeinschaft und Schicksalsgenossenschaft zu verkehren scheint. Nicht nur seine revolutionäre Energie scheint in der Hervorbringung dieser, den äußeren Abhängigkeitsmechanismus durch den inneren Sachzwang, die handfest angelegte Fessel durch die hauteng anliegende Zwangsjacke, die heteronome Form durch eine autochthone Struktur ersetzenden neuen Konstitution und anderen Fassung das revolutionäre Präsens um die Mitte des 20. Jahrhunderts erschöpft und eingebüßt zu haben, es scheint auch darin selber zum Erliegen und an sein Ende gekommen, darin als solches zugrunde gegangen zu sein. In dieser seiner revidierten und zum schönen Schein einer homogenen Existenzform amalgamierten Fasson, die es gegen den mit staatlichen Machtmitteln anhaltenden Widerstand der bürgerlichen Gegenwart schließlich herausprozessiert, scheint das revolutionäre Präsens seinen ewigen Frieden nicht allein mit der bürgerlichen Gegenwart gemacht, sondern gleich auch selber gefunden zu haben.77

Fußnoten

... stattgefunden.75
Stattgefunden hat, mit ziemlicher Verzögerung und unter Mithilfe zweier Weltkriege, die Revolution im zaristischen Russland und später dann im nachkaiserlichen China, das heißt, in Staatswesen, deren ökonomische, soziale und militärische Rückständigkeit, schonungslos offengelegt durch die Kriegssituation, allzu schroff mit ihrer relativen technischen, politischen und bürokratischen Arriviertheit und mit den aus solcher relativen Arriviertheit sich ergebenden machtpolitischen Ambitionen beziehungsweise Ansprüchen auf internationale Geltung kontrastierten. Bei Betrachtung des "realexistierenden Sozialismus" der betreffenden Gesellschaften, des Resultats ihrer gehabten Revolutionen, kann man heute in der Tat den Eindruck gewinnen, es sei die Hauptfunktion, wo nicht der wesentliche Zweck dieser Revolutionen gewesen, einen Weg zu weisen, auf dem jene mit herkömmlichen, privatkapitalistischen Mitteln offenbar nicht mehr zu überbrückende Kluft zwischen nationalökonomischer Wirklichkeit und politisch-nationalem Anspruch, zwischen Rückständigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse und Fortgeschrittenheit des Staatswesens dennoch überbrückt werden konnte. Ihr Hauptvehikel und zugleich ihren tragenden Grund hätte diese qua Revolution inaugurierte Überbrückungs- und Anpassungsleistung in einer zentralistischen Planwirtschaft, ihre spezifische Differenz und zugleich ihr bestimmtes Resultat wäre ein dirigistischer Staatskapitalismus. Als einem System des verstaatlichten Kapitalismus beziehungsweise der gesamtgesellschaftlich geplanten und regulierten Verwertung und Verdinglichung könnte diesem, der Not und dem Ingenium des Nachzüglers entsprungenen Sozialismus durchaus die Qualität einer vernünftigeren und dauerhafteren Lösung ökonomischer und gesellschaftlicher Probleme zukommen, könnte ihm durchaus die Zukunft gehören. Aber so gewiss als sein leitendes Prinzip nicht die Erhebung eines revolutionären Präsens zur bestimmenden Gegenwart, sondern die materiale Einlösung einer nur erst formellen Gleichzeitigkeit mit den kapitalistischen Nationen, nicht die weltweite proletarische Erhebung, sondern eine internationalistisch aufgeladene nationale Behauptung sich erwiesen hätte, so gewiss wäre solcher Sozialismus nicht die Einlösung der in den entwickelten bürgerlichen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts dem Anschein nach bevorstehenden Weltrevolution.
... befasst.76
Es ist allerdings nicht zu übersehen, dass dieser auf die Transformation der heteronom-äußeren Form in sublim-technische Zwänge abgezielten "inneren Logik und geheimen Mission" des vom revolutionären Präsens angestrengten Revisionsprozesses immer wieder durch massive militärisch-polizeiliche Aktionen hat auf die Sprünge und nachgeholfen werden müssen. Tatsächlich ist ganz unausgemacht, wie viel vom schließlichen Resultat dieser Transformationsbewegung stricto sensu zu Lasten der "inneren Logik" jenes Zersetzungs- und Erosionsprozesses geht, den unter den Bedingungen des ihm von Seiten der bürgerlichen Gegenwart geleisteten unerwarteten Objektwiderstands das revolutionäre Präsens anstrengt, und wie viel davon vielmehr den höchst offensiven militärischen Maßnahmen und überaus aggressiven polizeilichen Sanktionen geschuldet ist, die für den Fall, dass jener Prozess, seiner "inneren Logik" gemäß, ein bestimmtes reformerisches Maß, seine revisionistisch eingeschränkte Kompetenz, zu überschreiten droht, die im Auftrag der bürgerlichen Gegenwart operierende Staatsgewalt bereithält.
... haben.77
Das allem Anschein nach fatale Ende, das so nach ihrem im 19. Jahrhundert fraglos überwältigenden Vormarsch und anerkanntermaßen unaufhaltsamen Siegeszug die von Kant propagierte "weltbürgerliche Vereinigung" im 20. Jahrhundert plötzlich nimmt, hat, vor allem in jüngster Zeit, in einem weiten Theoriebildungsspektrum, das von linker Melancholie über eine neomarxistisch kritische Theorie bis zu konservativer Zivilisations- und Kulturkritik reicht, Zweifel laut werden lassen teils an der Annehmbarkeit des Vereinigungsmodells im allgemeinen, teils im besonderen an der Vernünftigkeit eben des ökonomisch-kommerziellen Mechanismus, den bereits Kant wie dann auch Marx und seine Nachfolger als das Hauptinstrument und entscheidende Vehikel für die Realisierung jenes Vereinigungsmodells glauben geltend machen zu können. Richtet sich die generelle Skepsis gegen den Transzendentalismus, den abstrakt egalitären und totalitär synthetischen Zug, der propagierten Vereinigung, so zielt die spezielle Kritik auf das Moment von Selbstüberlistung in jener dialektischen Figur, die ausgerechnet den für die kapitalistische Vergesellschaftung konstitutiven ökonomisch-kommerziellen Mechanismus als zugleich das wesentliche Produktionsmittel der die kapitalistische Vergesellschaftung zu überwinden gedachten sozialistischen Vereinigung reklamieren und nutzbar machen möchte. Vom allem Anschein nach fatalen Ende her will es solcher Kritik scheinen, als sei diese als "List der Vernunft" propagierte Instrumentalisierung und Nutzbarmachung des bürgerlichen ökonomisch-kommerziellen Vergesellschaftungsmechanismus im Dienste und zum Zwecke der Hervorbringung eines weltbürgerlichen politisch-ökonomischen Vereinigungsmodus als veritable Selbstüberlistung auf die Propagatoren und Verfechter des letzteren zurückgeschlagen. Das heißt, es will der Kritik vorkommen, als sei, statt jener bürgerlich-ökonomische Mechanismus ein widerwilliges Instrument im Dienste der Erzeugung dieser weltbürgerlich-politischen Modalität, vielmehr das Engagement für diese weltbürgerlich-politische Modalität ein verblendetes Motiv, eine ahnungslose Antriebskraft im Dienste bloß der nationalen Durchsetzung und internationalen Ausbreitung jenes bürgerlich-ökonomischen Mechanismus gewesen. Solcher Kritik zufolge, scheinen also jene falschen Voraussetzungen, die nach dem Willen der Rede von der "vernünftigen List" das Wahre auf Kosten ihrer selbst hervortreiben und an der Stelle ihrer selbst setzen sollten, die Idee vom gesetzten Wahren nur gebraucht, wo nicht erfunden zu haben, um sich gleichermaßen die Motivation und die Legitimation für eine immer vollständigere Darbietung und immer erweiterte Reproduktion ihrer selbst zu verschaffen. Und solcherart kritisch betrachtet, kann und muss in der Tat dann auch die von Kant inaugurierte dialektische Verknüpfung der weltbürgerlichen Vereinigungsidee mit dem bürgerlichen Vergesellschaftungsmechanismus als die Selbstüberlistung sei's des mit dem Teufel paktierenden Weltbürgers, sei's des seine wirklichen Beweggründe rationalisierenden Bürgers erscheinen. So geschichtsphilosophisch einschneidend und entscheidend solche Kritik auch anmutet, hier ist nicht der Ort, sich mit ihr auseinanderzusetzen. So viel allerdings läßt sich sagen, dass jede Auseinandersetzung mit ihr in dem Maß eine Kritik der Kritik zu sein hätte, wie sie Anstoß an der quietistisch-perfekten Übereinstimmung nehmen müsste, in der sich solche Kritik mit dem Status-quo-Denken und den Resignationsforderungen der restaurierten bürgerlichen Gegenwart befindet. Als ein Beitrag zu einer solchen Kritik der Kritik versteht sich die vorliegende Arbeit insofern, als sie den Grad von Aktualität und das Ausmaß von Wirklichkeit deutlich machen will, das im 19. Jahrhundert jene "weltbürgerliche Vereinigung" in den Köpfen der Beteiligten und für ihre Reflexion gewinnt, das heißt, deutlich machen will, wie sehr die "weltbürgerliche Vereinigung" zu jener Zeit ein in der Realisierung begriffenes und von der Reflexion deshalb unbedingt ernst zu nehmendes Projekt ist. Von daher mag es dann nämlich erst einmal näherliegend erscheinen, nach den spezifischen Gründen des Scheiterns eines so entwickelten Projekts zu forschen, als das Scheitern des Projekts sich zum Beweis der generellen Verwerflichkeit seiner Grundlagen und in der Tat der ihm eigenen Grundlosigkeit dienen zu lassen.