1. "Philosophische Geschichte" versus "empirisch abgefasste Historie": Historische Relativität als frühbürgerliches Programm

Dass eine "bloß empirisch abgefasste Historie"1 nicht etwa deshalb, weil sie formell und de facto der Gegenwart die Vergangenheit ins Gedächtnis zu rufen und vorzustellen bezweckt, auch schon reell und de jure bestimmt ist, diese jener als die ihr eigene Geschichte nachzuweisen und in Erinnerung zu bringen, ist eine Einsicht, die für Kant noch den Evidenzcharakter handgreiflicher Erfahrung beansprucht und die ihn als durchaus typischen Vertreter einer bis ins 19. Jahrhundert hinein ungebrochenen Linie frühbürgerlicher Geschichtsbetrachtung ausweist. Zu manifest ist das konkurrierende Präsens, dem als der in machtvoller Ungleichzeitigkeit nicht sowohl universalistisch andauernden, als vielmehr absolutistisch sich restaurierenden Wirklichkeit der feudalen Tradition die mit entschieden eigenständigen Interessen und Intentionen aufkommende bürgerliche Gegenwart sich konfrontiert findet, zu unangefochten das von diesem konkurrierenden Präsens in Anspruch genommene Prärogativ, die Vergangenheit als ein von seinen unerledigt anderen Absichten und Bedürfnissen nicht bloß gezeichnetes, sondern charakterologisch unmittelbar noch beherrschtes Imperfekt mit Beschlag zu belegen, zu selbstverständlich deshalb schließlich auch die zwischen Indifferenz und aktivem Widerstand changierende Reserve, mit der unter dem Eindruck dieser ihrer Präokkupation die Vergangenheit den als bürgerliche Gegenwart ihr ebenso rücksichts- wie haltlos entsprungenen Tendenzen und Entwicklungen begegnet, als dass von einer "bloß empirischen", bloß auf das qua Imperfekt krude Faktum abgestellten Rezeption solcher Vergangenheit auch nur im mindesten deren Realisierung in einem natürlichen Verhältnis konstitutionsgeschichtlicher Kontinuität zur Gegenwart zu erhoffen und nicht im genauen Gegenteil ihre Identifizierung in der naturhaften Konstitution einer – nach Maßgabe ihrer Ausrichtung an jenem konkurrierenden Präsens – stets noch diskret zur Gegenwart sich behauptenden, förmlichen Gegengeschichte zu befürchten wäre. So wenig tatsächlich zeigt sich in ihrer unmittelbaren Gestalt die Vergangenheit disponiert, die Funktion einer als genetisches Reflexivum dessen, was neuerdings ist, verfügbaren Legitimationsinstanz für die Interessen und Intentionen der Gegenwart zu übernehmen, so sehr tendiert sie vielmehr dazu, dem an sie sich richtenden Legitimierungsanspruch der Gegenwart in der subversiven Voreingenommenheit eines nicht bloß auf unbestimmt anderes als die Gegenwart immer noch selbstmächtig reflektierenden, sondern durchaus zu einem regelrecht anderen Präsens selbsttätig nach wie vor drängenden, imperfekt differenten Prozesses entgegenzutreten und sich vorzuenthalten, dass bereits als Erfolg für die letztere sich verbuchen lässt, wenn ihr erst einmal nur gelingt, in abstrakter Negation der ganz und gar alternativen Determiniertheit, in der sich im Blick auf jenes konkurrierende Präsens die Vergangenheit auszuweisen droht, teils deren zielstrebig organisiert erscheinenden Widerstand auf nichts als die träge Passivität eines in Wirklichkeit "planlosen Aggregates"2 zurückzuführen, teils den dem Anschein nach "widersinnigen Gang"3 der durch sie verhandelten "menschlichen Dinge" in der zum beständigen Selbstwiderspruch neutralisierten Grundfigur eines ambitionslos nurmehr "verworrenen Spiels"4 sich verlaufen zu lassen.

Um einer derart im Imperfekt ihrer schlimmstenfalls sinnwidrig gegengeschichtlichen, bestenfalls sinnlos naturgeschichtlichen Umtriebe verstockten und in der Tat ebenso wenig zum konstitutionshistorischen Perfekt aufgehobenen, wie im politisch-ökonomischen Präsens bewältigten Vergangenheit nun dennoch das Zugeständnis einer konstitutionsgeschichtlich bestimmten Relation zur Gegenwart abgewinnen und die Bedeutung demnach eines für die Interessen und Intentionen der letzteren reklamierbaren Bestimmungs- und Rechtfertigungsgrundes vindizieren zu können, braucht es offenbar mehr und vielmehr entschieden anderes als die sei's selbstlose, sei's selbstverleugnende Beflissenheit einer "bloß empirischen" Geschichtsschreibung. Soll, das "sonst planlose Aggregat" einer dem generischen Selbstverständnis der Gegenwart sich beharrlich entziehenden Vergangenheit als das "System" einer zum genetischen Reflexionsmedium eben dieser Gegenwart sich stattdessen erklärenden Geschichte "wenigstens im großen... darzustellen"5, auch nur der Möglichkeit nach gelingen, so bedarf es tatsächlich einer Vermittlungs- und Aneignungsarbeit, die am "Leitfaden" "einer Idee, wie der Weltlauf gehen müsste, wenn er gewissen vernünftigen Zwecken angemessen sein sollte"6, nichts geringeres als den Versuch unternimmt, mit den Mitteln teils einer selektiven Wahrnehmung, teils einer interpretativen Umfunktionierung des historischen Materials die als die treibende Kraft hinter jenen "vernünftigen Zwecken" unschwer erkennbaren Interessen und Intentionen der Gegenwart der in imperfekt manifestem Eigen- und Widersinn weder vernünftig noch zweckvoll sich präsentierenden Vergangenheit eigenhändig allererst nachzuweisen und zum Kriterium einer sie auf der ganzen Linie ihres imperfekten Verlaufs ereilenden Grundrevision und förmlichen Neustrukturierung werden zu lassen.

Des theoretisch Bedenklichen dieses, aus einem "besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtung"7 mit interpretativ vernünftiger List und selektiv zweckvoller Tücke unternommen "ungereimten Anschlags"8 auf die Vergangenheit ist sich Kant dabei ebenso bewusst, wie er im Blick auf die praktische Durchführung der Attacke Zurückhaltung übt und zu Kompromissen neigt. Wohl wissend, dass unter den Bedingungen jenes die Vergangenheit als seine imperfekt eigene Empirie ebenso unbestreitbar präokkupierenden wie unübersehbar manifestierenden, konkurrierenden Präsens der unmittelbare Eindruck, den diese an dem "besonderen Gesichtspunkt" der bürgerlichen Gegenwart und ihrer eo ipso "vernünftigen Zwecke" orientierte "Weltbetrachtung" erweckt, nur der einer gänzlich fiktiven Unternehmung, eines "Romans"9 sein kann, erklärt er es vorsorglich für eine "Missdeutung meiner Absicht", anzunehmen, "dass ich mit dieser Idee einer Weltgeschichte, die gewissermaßen einen Leitfaden a priori hat, die Bearbeitung der eigentlichen, bloß empirisch abgefassten Historie verdrängen wollte"10. Wenn er dessen ungeachtet mit dem – alle scheinbare Zurückhaltung und Kompromissbereitschaft Lügen strafenden – unbeirrbaren Selbstbewusstsein, das sich hinter dem für die Alternative zugleich in Vorschlag gebrachten Titel einer "philosophischen Geschichte"11 verbirgt, dem Projekt eines solchen, die Vergangenheit im Kriterium der Interessen der Gegenwart reflektierenden und am "Leitfaden" ihrer "vernünftigen Zwecke" organisierenden "Romans" das Wort redet, so tatsächlich bereits in der – auf den Borg einer wie immer auch fernen Zukunft ausgesprochenen – zuversichtlichen Erwartung einer durchaus veränderten Situation. In der Erwartung nämlich einer Situation, in der diese Gegenwart des aufkommenden Neuen jenes konkurrierende Präsens einer restaurierten Tradition hinlänglich in den Konkurs getrieben und vielmehr liquidiert haben wird, um nicht bloß hier die anfängliche Empirie von Zeitgenossen, die in der Vergangenheit nur erst den für Trägheit erklärten Widerstand jenes konkurrierenden Präsens auszumachen vermögen, durch dort die Erfahrung von "späten Nachkommen", die die Vergangenheit nurmehr "aus dem Gesichtspunkte dessen, was sie interessiert, nämlich desjenigen, was Völker und Regierungen" im Sinne des durch die Gegenwart geltend gemachten Vernunftzwecks, das heißt, "in weltbürgerlicher Absicht geleistet oder geschadet haben, (zu) schätzen"12 wissen, förmlich zu widerlegen und umstandslos abzulösen, sondern um damit in der Tat auch hier die als plane Antigeschichte sich diskreditierende und enthüllende "bloß empirisch abgefasste Historie" in dort die als wahre Empirie sich realisierende und erfüllende "philosophische Geschichte" restlos zu überführen und regelrecht aufzulösen.

Fußnoten

... Historie"1
Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Ges. W. (hrsg. W. Weischedel), Bd. VI, Frankfurt a. M. 1964, S. 49.
... Aggregates"2
Ebd.
... Gang"3
Ebd., S. 34.
... Spiels"4
Ebd., S. 49.
... darzustellen"5
Ebd., S. 48.
... sollte"6
Ebd.
... Weltbetrachtung"7
Ebd., S. 49.
... Anschlags"8
Ebd., S. 48.
... "Romans"9
Ebd.
... wollte"10
Ebd., S. 49.
... Geschichte"11
Ebd., S. 50.
... schätzen"12
Ebd.