a. Restbeständig frühere Empirie und Verifizierungsverfahren: Die relative Geschichte als Gegenstand historischer Kritik

Es braucht indes kaum eine nähere Bekanntschaft – ganz zu schweigen von besonderer Vertrautheit – mit dem historischen Relativismus, so, wie er im 19. Jahrhundert in Erscheinung tritt und von da ab als ständige Einrichtung die zur Wissenschaft sich professionalisierende historiographische Reflexion der entwickelten bürgerlichen Gegenwart begleitet, um der Tatsache gewahr zu sein, dass er, seinem faktischen Erscheinen und tatsächlichen Auftreten zufolge, die obigen, in der einfachen Konsequenz der Kantischen Perspektive mit Plausibilität an ihn geknüpften Erwartungen nachdrücklich zu enttäuschen, allemal nicht bloß geeignet, sondern geradezu determiniert ist. Denn mag er auch noch so sehr im formell ebenso unbezweifelbaren wie förmlich evidenten Charakter einer in ihrer Unmittelbarkeit fast schon eines Reflexes in Begriffsgestalt verdächtigen Reaktion der entwickelten bürgerlichen Gegenwart auf nichts sonst als eben jenes, wie mit dem reflexiven Mechanismus, den die "philosophische Geschichte" Kants in Anschlag bringt, nur erst angestrebte, so in dem objektiven Automatismus, den die "narrative Organisation" Dantos voraussetzt, offenbar unterdes etablierte Verhältnis einer spontan empirischen Aufgeschlossenheit der Vergangenheit gegenüber den "übergreifenden Konzeptionen" der Gegenwart selbst sich vorstellen – weder zeigt die seiner Erfahrung entspringende historiographische Reflexion des 19. Jahrhunderts sich im Entferntesten überhaupt geneigt, dem dergestalt im empirischen Imperfekt durchgesetzten Verhältnis gegenwartsbezogen narrativer Organisiertheit noch immer die fraglose Positivität und unbesehen affirmative Bedeutung zuzugestehen, die, in der bloßen Projektform einer empirietranszendent perfekten Beziehung gegenwartsorientiert vernünftiger Zweckmäßigkeit ihm einzuräumen, Kant ganz selbstverständlich bereit ist, noch erweist sie insonderheit sich im mindesten disponiert, die, solchem Verhältnis gemäß, empirisch vermittelte interessierte Geschichte, über die die Gegenwart demnach eo ipso verfügt, tatsächlich nun die unaufhaltsam begeisterte Aufnahme und rückhaltlos jubelnde Zustimmung finden zu lassen, deren sie in der direkten Konsequenz der von Kant exponierten Bedürfnislage an sich doch wohl gewärtig sein dürfte.

Was vielmehr von Anfang an mit allen Anzeichen einer unvermittelt fixen Idee die der relativistischen Erfahrung entspringende, professionalisiert historiographische Reflexion der entwickelten bürgerlichen Gegenwart in Anspruch nimmt und was in dem Maß, wie es zur Gänze und stehenden Fußes von ihr Besitz ergreift, in der Tat dazu führt, den historischen Relativismus gleich eingangs als vermeintlich nur theoretisch-tautologischen Ausdruck einer schrankenlosen Zufriedenheit der bürgerlichen Gegenwart mit dem im Sinne der Kantischen Aufgabenstellung erzielten totalen Erfolg, wenn nicht kurzerhand zu widerlegen und zugrunde zu richten, so jedenfalls vorderhand in Frage zu stellen und nicht zum Zuge kommen zu lassen, ist ein uno actu seiner begrifflichen Konstatierung der der bürgerlichen Gegenwart als solcher gewordenen Befriedigung ihres Kantisch allgemeinen Verlangens nach konstitutionsgeschichtlicher Kontinuität der geschichtswissenschaftlichen Reflexion selber entspringendes weiteres und überraschend neues Kontinuitätsbedürfnis. Und zwar ist dies nun offenbar ein Bedürfnis nicht mehr nur nach konstitutionsgeschichtlicher, sondern gewissermaßen nach realgeschichtlicher Kontinuität, ein Bedürfnis nach Kontinuität nicht mehr bloß der "vernünftigen Zwecke" der Gegenwart als empirisch mit der Vergangenheit vermittelter, sondern darüber hinaus und vor allem auch jener, die "übergreifenden Konzeptionen" der Gegenwart mit der Vergangenheit zu vermitteln bestimmten Empirie: das – wenn schon nicht direkt eines Selbstwiderspruchs schuldige, so ganz gewiss aber ebenso wenig frei von Ungereimtheit erscheinende – unbezwingliche Bedürfnis nämlich nach nachträglicher Anerkennung dieser, in Erfüllung des Kantischen Desiderats nunmehr vorhandenen und im Begriff einer automatischen Relativität der Vergangenheit als die vorhandene registrierten, empirisch vermittelten interessierten Geschichte auch und ausgerechnet durch eben die frühere Empirie, die – unserem Verständnis der Kantischen Konstruktion zufolge – in Gestalt eines mit der Gegenwart um die Vergangenheit widerstandskräftig konkurrierenden Präsens bereits von dem transzendentallogisch bloßen Projekt einer solchen Geschichte so ganz und gar nichts wissen will, respektive eine derart interessierte Geschichte so ganz und gar nur im Niemandsland eines romanhaft bloßen Projekts sich vollbringen zu lassen entschlossen ist, dass in der Tat ihre eigene vorgängige Überführung und Transformation in einen durch die Gegenwart selber gesetzten, vergleichsweise interessengemäßen Erfahrungszusammenhang sich als die conditio sine qua non schlechterdings jeder Realisierung dieser projektierten Geschichte erweist. Oder genauer, – da ja die Überführung und Transformation jener, der Bestimmung der bürgerlichen Gegenwart gegenüber zumindest indifferent sich verhaltenden, feudalgesellschaftlich früheren Empirie unterdes stattgefunden hat und an ihre Stelle ein gegenwartsspezifisch ziviler Erfahrungszusammenhang de facto mittlerweile getreten ist, – definiert sich das die relativistische Reflexion der entwickelten bürgerlichen Gegenwart, ihrer vermeintlich nur affirmativen Funktion zum Tort, überraschend heimsuchende neue Bedürfnis als eines nach nachträglicher Anerkennung der nunmehr vorhandenen, empirisch vermittelten, interessierten Geschichte durch das, was von jener früheren Empirie nach ihrer Überführung und Transformation noch irgend übrig geblieben ist und was im Charakter "irgendwelcher Bruchstücke"30, eines ebenso fragmentarisch versprengten wie erratisch unaufgehobenen Restbestands, inmitten des durch die bürgerliche Gegenwart aus eigenen Stücken gesetzten, neuen Erfahrungszusammenhangs gleichermaßen sinnenfällig und gespenstisch perenniert.

Diese, die frühere feudale Empirie über die Grenzen ihrer absolutistisch äußersten Lebendigkeit hinaus und in den Geltungsbereich des neuen gegenwartsspezifisch zivilen Erfahrungszusammenhangs hinein nicht etwa nur unvermittelt repräsentierenden, sondern als ein ebenso unverwüstliches wie ruiniertes Präsens unmittelbar prolongierenden, isolierten Bruchstücke und exotischen Überbleibsel sind es nun also, deren Einverständnis mit und Zustimmung zu der empirisch vermittelten interessierten Geschichte, wie sie sie als das im Zueignungsautomatismus jener zivilen Erfahrung allzeit Gegebene konstatiert, zu erlangen, die professionalisiert historiographische Reflexion des 19. Jahrhunderts ein in ihrem Kontext offenbar ebenso natürliches und existentielles wie sub specie der Kantischen Aufgabenstellung befremdliches und ungereimtes Bedürfnis entwickelt. In der die Kantische Konstruktion bestimmenden Totalität eines als anderer sozialer Organismus mit der frühbürgerlichen Gegenwart um die Vergangenheit machtvoll konkurrierenden Präsens erweist sich jene frühere Empirie jeder à la Kant projektierten, gegenwartsorientiert "vernünftigen" Geschichte so offenkundig abgeneigt, dass – der geringsten Aussicht auf eine, in empirischer Geschichtsschreibung ihren Niederschlag findende und nämlich als "empirisch abgefasste Historie" Gestalt annehmende, gütliche Einigung und gedeihliche Verständigung über dieses ihr Projekt von vornherein beraubt – die bürgerliche Gegenwart eigentlich gar nicht umhin kann, die anschaulich-faktische Durchsetzung ihrer Geschichte vielmehr ausschließlich auf dem Umweg über eine vorherige tätlich-praktische Ersetzung jener Empirie durch einen als integrales corpus civile von der Gegenwart selber konstituierten und beherrschten Erfahrungszusammenhang anzustreben. Kaum aber ist dem dergestalt via obliqua betriebenen Projektrealisierungsverfahren der gewünschte Erfolg beschieden und hat mithin die vorgängige Umwälzung und Veränderung der empirischen Grundlage als solcher in der direkten Konsequenz das angestrebte Ergebnis einer auch und gerade als "empirisch abgefasste Historie" konzeptuell gegenwartsbezogenen Geschichte gezeitigt, weiß offenbar die im Kriterium ihrer empirischen Sichselbstgleichheit entwickelte bürgerliche Gegenwart im Reflexionspunkt ihres Erfolgs sich keinen besseren Rat und hat sie im Moment der qua Relativismus sich machenden theoretischen Feststellung ihres Triumphs augenscheinlich nichts Eiligeres zu tun, als mit dem so im Kantischen Sinne willkommenen Ergebnis und glücklich vollbrachten Werk zu eben jener früheren Empirie oder genauer zu dem, was in der Partikularität eines unverdaulichen Restbestands ihres hierin zeitlos präsenten Konkurses von ihr überdauert, zurückzukehren, um nun für das, was demnach nicht mehr nur in der leitfädelnd dürren Verschiedenheit einer transzendentallogisch konstruierten Realität sich behaupten muss, die wenigstens nachträgliche Billigung und wie immer auch verspätete Zustimmung dessen, was demnach ganz und gar nicht mehr in der aggregativ lebendigen Identität einer projektfeindlich organisierten Wirklichkeit sich beweisen kann, doch noch zu erlangen.

So unseriös und marottenhaft aus der Perspektive der Kantisch gewahrten und gewohnten Zentralbestimmung bürgerlicher Geschichtsschreibung dieses, sei's einer anakoluthischen Pietätsanwandlung geständige, sei's einer freiflottierenden Wiedergutmachungsregung verdächtige Bedürfnis nach nachträglicher Überbrückung des als conditio sine qua non der Herstellung einer konstitutionsgeschichtlichen Kontinuität der bürgerlichen Gegenwart offenkundig figurierenden Bruchs oder vielmehr Umbruchs in der fundamentalen Empirie und nach rückwirkender Etablierung einer realgeschichtlichen Kontinuität auch und gerade des empirischen Fundaments als solchen auf den ersten Blick auch anmuten mag – was dem Bedürfnis jedenfalls den Charakter und die respektheischend strikte Bedeutung einer allen Ernstes fixen Idee verleiht und was in der Tat den jählings von ihm betroffenen historischen Relativismus ins materiell genaue Gegenteil dessen, was als theoretisches Medium und Selbstverständigungsorgan der entwickelten bürgerlichen Gegenwart er zu sein formell den Anspruch erweckt: nämlich aus einem Reflex der Erfüllung in die Reflexion eines Desiderats zu verkehren tendiert, ist die in corpore der zeitgenössischen historischen Disziplin nur allzu manifeste Tatsache, dass vor seiner ebenso umständlichen wie demonstrativen Befriedigung an eine reuelos genussvolle Aufnahme und rückhaltlos affirmative Würdigung des der Gegenwart in der Kantischen Hauptsache ihres Verlangens nach konstitutionsgeschichtlicher Kontinuität beschiedenen und relativistisch von ihr vermerkten Erfolgs schlechterdings nicht zu denken ist. Ohne die vorher erlangte, weitestmögliche Sicherheit und Gewissheit, für die der Gegenwart im Zueignungsautomatismus ihrer sichselbstgleichen Erfahrung anheim gestellte interessierte Geschichte, wenn nicht das opportunistische Placet, so jedenfalls doch das neutralistische Licet jener im caput mortuum eines konkursiv fragmentarischen Präsens überdauernden früheren Empirie zu haben, erscheint die im historischen Relativismus auf den Begriff ihres wesentlich andren Verhältnisses zur Vergangenheit sich bringende geschichtswissenschaftliche Reflexion stante pede des sie ereilenden neuen Bedürfnisses nach quasi realgeschichtlicher Kontinuität nicht allein starrköpfig indisponiert, sondern geradezu vollständig unvermögend zu einem ungetrübten Genusse dieser, in Erfüllung der Kantisch kühnsten Erwartungen als die süß theoretische Frucht einer hartnäckig praktischen Anstrengung in den Schoß ihr fallenden interessierten Geschichte. Solange auch nur der mindeste Zweifel daran besteht, dass jene, als das memento mori ihres eigenen Konkurses zeitlos präsent perennierende, frühere Empirie, wenn nicht mit der qua Relativismus automatisch inzwischen vorausgesetzten, empirisch vermittelten, interessierten Geschichte sich überhaupt einverstanden erklärt und explizit konsentiert, so zumindest aber sie stillschweigend billigt und keinen Einwand gegen sie vorbringt, geschweige denn darstellt, zeigt die in Anknüpfung an die Grunderfahrung des historischen Relativismus ihr geschichtswissenschaftliches Selbstverständnis artikulierende, entwickelte bürgerliche Gegenwart sich regelrecht außerstande, diese, in den "übergreifenden Konzeptionen" der Gegenwart selbst das Kriterium ihrer spezifischen Orientierung und immanenten Bestimmtheit vorzufinden, unwiderstehlich angelegte Geschichte aus dem einfachen Grunde solcher – in ihr mit dem Gestus einer spontan empirischen Zueignung als gemeinsames Anliegen reproduzierten – Interessiertheit wirklich nun auch nach dem Muster der von Kant beschworenen "späten Nachkommen" als Gewinn zu schätzen und mit Lust sich gefallen zu lassen.

In der Tat genügt schon die bloße Möglichkeit eines der früheren Empirie in praesenti casu ihrer fragmentarischen Permanenz immanenten Widerspruchs gegen die im empirischen Mittel des der Gegenwart eigenen corpus civile nunmehr interessiert gesetzte Geschichte, um der professionalisiert historiographischen Reflexion der entwickelten bürgerlichen Gegenwart jede, wie auch immer beschränkte Befriedigung an der letzteren gründlich zu verderben und das von Kant ihr angesonnene beispielhafte Verhalten einer zweifelsfrei unbedenklichen Wertschätzung des Erreichten zu einem Muster ohne jeglichen Wert verkommen zu lassen. Um in diesem, für die Erhaltung ihrer Genussfähigkeit entscheidenden Punkte einer von Seiten dort der früheren Empirie im ganzen Umfang ihrer unverwüstlich fossilen Präsenz garantierten Attitüde mindestens völliger Neutralität und Widerspruchslosigkeit gegenüber der hier in, kraft neuer Erfahrung, automatischer Zueignung in den Schoß ihr fallenden, süßen Frucht konstitutionsgeschichtlicher Identität Sicherheit zu erlangen und allen Enttäuschungen vorzubeugen, scheut deshalb die professionelle Geschichtswissenschaft keine Mühe der Untersuchung und ist sie durchaus, die unendliche Anstrengung einer ohne bestimmten Anlass aus ganz und gar innerem Antrieb geübten und ins Detail der Sache sich förmlich verlierenden Forschungs- und Recherchiertätigkeit auf sich zu nehmen, bereit. So beherrschend ist tatsächlich das Bedürfnis der professionellen Geschichtswissenschaft, die der bürgerlichen Gegenwart im Mittel der von ihr eigenhändig gesetzten Erfahrung31 sich in Gestalt einer interessierten Geschichte automatisch erschließende konstitutionsgeschichtliche Identität, wenn schon nicht des nachträglich herzlichen Beifalls, so zumindest doch aber der schließlich widerspruchsfreien Duldung jener als isolierter Bestand und bruchstückhaft überdauernden, früheren gegenwartsfeindlichen Empirie teilhaftig werden zu lassen, und so überwältigend wahrhaft ihr Verlangen, erstere gegen jeden, von Seiten der letzteren eventuell zu befürchtenden Einspruch oder kontradiktorischen Anwurf vorsorglich und gewissenhaft abzusichern, dass nicht bloß im Dienste der Befriedigung dieses ihres Bedürfnisses nach einer präventiven Konfliktvermeidung kein Opfer an existentieller Zeit und analytischer Kraft ihr zu groß ist, sondern dass nun auch mehr noch ihr mit der Dringlichkeit einer fast schon zentralnervösen Erregung so bestimmt sich ergebendes, neues Verlangen zum eigentlich geschichtswissenschaftlichen Grundmotiv und Hauptanliegen avanciert, hinter dessen unwiderstehlicher Attraktivität und quasi primärprozessualer Bedeutung alles – der geschichtsphilosophischen Zielsetzung Kants entsprechend, im Moment des historischen Relativismus sich zugleich und wesentlich nur zur Sache meldende – identitätshistorische Genussinteresse der Gegenwart, wenn nicht überhaupt verschwindet, so jedenfalls auf eine – als bloß zusätzlicher Beweggrund nichts als bestenfalls sekundären Lustgewinn verheißende – entfernte Randbedingung sich reduziert. Vollständig präokkupiert, weil nämlich – rebus sic stantibus – ausschließlich motiviert durch dieses, ihr ebenso blindlings wie unverhofft untergekommene Bedürfnis nach quasi realgeschichtlicher Kontinuität als nach der, wo nicht vom Geiste der Affirmation getragenen, nachträglichen Einwilligung, so mindestens aber von jeglichem Widerspruchsgeiste verlassenen, resignativen Ergebung dort der als konkurrenzunfähig fragmentarisches Präsens sich überliefernden, früheren gegenwartsfeindlichen Empirie in hier die im Mittel einer als corpus civile spezifisch neuen Erfahrung mittlerweile durchgesetzte, gegenwartsbezogen interessierte Geschichte, verliert die historiographische Reflexion der entwickelten bürgerlichen Gegenwart die mit dieser Geschichte in der Kantischen Perspektive einer uneingeschränkt interessierten Betrachtungsweise ursprünglich auch und primär ja verbundene Absicht zweifelsfrei ungestörten Genusses geradezu aus den Augen. An eben dem – qua historischer Relativismus nicht bloß formell markierten, sondern materialiter elaborierten – Punkte, an dem zur Realisierung der solcherart Kantisch erklärten Genussabsicht endlich und mit dem guten Grund eines in objectu ausgemachten, unaufhaltsam spontanen Entgegenkommens sich der historiographischen Reflexion die ersehnte Gelegenheit offenbar bietet, ergreift dies andre Bedürfnis unversehens von ihr Besitz und nimmt sie im plötzlichen Umschlag so völlig gefangen, dass nicht nur ohne seine vorherige Befriedigung ihr in der Tat aller Genuss des in der Hauptsache der Kantischen Ambitionen demnach errungenen triumphalen Erfolgs strikt verwehrt bleibt, sondern dass nun auch mehr noch die Aufgabe seiner umständlich definitiven Befriedigung als solche bereits eine Bedeutung für sie gewinnt, die sie, wie einerseits auf die Lösung ausschließlich dieser Aufgabe als auf das – in voller Selbständigkeit und bar jeder Rücksicht auf geschichtsphilosophisch fernere Lustprämien durchzuführende – eigentlich geschichtswissenschaftliche Programm sich konzentrieren heißt, so andererseits nirgends sonst als in der Durchführung dieses Programms den – ohne den mindesten Rekurs auf weitere motivationale Ressourcen sich ergebenden – ganz und gar immanenten Lohn für ihre Mühe finden lässt.

Was als hartnäckiger Skrupel die professionalisiert historiographische Reflexion der entwickelten bürgerlichen Gegenwart plagt und was, wie es in ihr das Bedürfnis nach einem – auf vorbehaltlose Anerkennung oder zumindest uneingeschränkte Hinnahme der ersteren durch die letztere plädierenden – Vergleich hier der im Mittel einer der Gegenwart unterdes eignen Erfahrung automatisch sich offerierenden, interessierten Geschichte mit dort der im caput mortuum eines posthum fragmentarischen Daseins inzwischen sich präsentierenden, früheren gegenwartsfeindlichen Empirie erregt, so nun auch solchem Vergleich hinlänglich das Gewicht und das Ansehen einer – über allen Verdacht der bloßen Vor- und Pflichtübung schlechthin erhabenen – regulären Haupt- und Staatsaktion verleiht, um im Verhältnis dazu das Motiv einer mittels seiner an sich nur angestrebten Lizenz zum Genuss vollkommen in den Hintergrund treten, wo nicht sich überhaupt verlieren zu lassen, ist – näher besehen – ihre tatsächlich ebenso unerschütterliche wie eigentümliche Überzeugung, dass ohne die, wenn schon nicht rückhaltlose Zustimmung, so zumindest doch widerspruchslose Duldung jener früheren Empirie diese, mit allen Anzeichen einer perfekt konstitutionsgeschichtlichen Identität sich der Gegenwart im empirischen Zueignungsautomatismus erschließende, interessierte Geschichte in einem anderen Sinn zwar als die "philosophische Geschichte" Kants, aber mit durchaus gleicher Entschiedenheit fiktiv bleiben muss. Fiktiv nämlich nicht mehr zwar in dem mit der "philosophischen Geschichte" Kants verknüpften allgemeinen Verstand der aus Gründen einer transzendentallogisch eklatanten Unvereinbarkeit mit aller "empirisch abgefassten Historie" folgerichtig gegebenen, intentionalen Unwirklichkeit und historiographisch-politischen Ineffektivität, wohl aber in dem ihr – als kraft empirischer Vermittlung interessierter Geschichte – anhängenden, spezifischen Sinn einer im Grunde aller unbestreitbar empirischen Abfassung und im formalrechtlich evidenten Einklang damit dennoch vorhandenen, fundamentalen Unwahrheit und epistemologisch-szientifischen Inauthentizität. Und also fiktiv in der ebenso esoterisch zugespitzten wie privatistisch eingeschränkten Bedeutung und mit der ebenso generell akzeptierten wie persönlich gezogenen Konsequenz, dass, ungeachtet aller, sie als interessierte Geschichte empirisch konkretisierenden, umfassenden Verwirklichung, die ihr zuteil geworden sein mag, ihr doch immer noch die entscheidende, sie in dieser ihrer Realisierung kritisch zu objektivieren bestimmte und ausschließlich, wie es scheint, im Umkreis eben jener früheren Empirie zu erlangende, zusätzliche Bewahrheitung fehlt, deren sie offensichtlich bedarf, um vor den qua professionelle Geschichtswissenschaft skeptischen Augen ausgerechnet der entwickelten bürgerlichen Gegenwart, die sie an sich nur in ihrer konstitutionsgeschichtlichen Identität wahrzunehmen und im Zueignungsautomatismus zu bestätigen dient, Gnade zu finden und unter ihren, in ambivalentem Kontrast zu allem relativistischen Überschwang zusehends reservierter sich zeigenden Blicken die Geltung einer in ihrem Bestand tatsächlich gesicherten Sachhaltigkeit und zuverlässig ausgemachten Gediegenheit zu gewinnen. In genau dem Maß, wie in praesenti casu ihres posthum fragmentarischen Daseins jene frühere gegenwartsfeindliche Empirie der aus dem Zueignungsautomatismus einer inzwischen andren und neuen Erfahrung resultierenden, gegenwartsbezogen interessierten Geschichte sei's aktiv die nachträgliche Anerkennung versagt, sei's auch nur die in der Passivität eines bloßen Verzichts auf jeglichen Widerspruch sich erschöpfende, schließliche Duldung verweigert, enthält sie ihr diese, als förmliche Gegenprobe und beweiskräftiger Schluss die empirische Realisierung gleichermaßen zu ersetzen und aufzuheben bestimmte, kritische Verifizierung vor und lässt sie sie damit in der direkten Konsequenz des von der professionellen Geschichtswissenschaft dieser kritische Verifizierung beigemessenen wesentlichen Werts und konstitutiven Charakters einer hinter der Fassade ihrer relativistisch manifesten, unmittelbar empirischen Realität kaum verhohlen lauernden Unwahrheit und fatal vorherrschenden Inauthentizität nicht allein dringend verdächtig, sondern geradewegs überführt erscheinen. Bestrebt, die der entwickelten bürgerlichen Gegenwart im Automatismus zuteil werdende interessierte Geschichte mit einem im Sinne dieser kritischen Verifizierung gefassten Wahrheitsanspruch zu verbinden und sei's nur eigensinnig zu assoziieren, sei's mehr noch eigenhändig zu konfrontieren, findet sich die professionalisiert historiographische Reflexion an jene frühere Empirie in praesenti casu ihres fragmentarisch überdauernden Daseins als an eben die Instanz verwiesen, die im Moment ihrer mit Rücksicht auf solche interessierte Geschichte, wenn schon nicht vorbehaltlos ausgesprochene Zustimmung, so wenigstens ausgemacht widerspruchslose Duldung in der Tat den einzig gültigen Ausweis der beanspruchten Wahrheit und das hochamtlich exklusive Zeugnis der geforderten Authentizität darzustellen bestimmt ist.

Den Wahrheitsanspruch, dem mit der ganzen Entschlossenheit einer streng exemplarischen Eigenzensur die professionelle Geschichtswissenschaft der entwickelten bürgerlichen Gegenwart die der letzteren automatisch zugeeignete interessierte Geschichte unterwirft, bestätigendes oder zurückweisendes historisches Dokument beziehungsweise den Echtheitsnachweis, den mit dem ganzen Engagement einer kompromisslos freiwilligen Selbstkontrolle jene dieser abverlangt, erbringendes oder verweigerndes Geschichtszeugnis ist nun aber – technisch einfach ebenso sehr wie sachlich verblüffend genug! – die im wie immer auch defizienten Modus einer bloßen Sammlung von Bruchstücken sich erhaltende frühere Empirie deshalb, weil im Moment der – apart von aller der Gegenwart automatisch eignen Geschichte – durch ihre disjecta membra mehr schlecht als recht remembrierten und als historia sui generis notdürftig repräsentierten Vergangenheit sie über eben das spezifische Maß und wesentliche Kriterium verfügt, in Ansehung dessen und in Beziehung auf das dies von der professionellen Geschichtswissenschaft an die der Gegenwart automatisch eigne Geschichte gerichtete Bewahrheitungsansinnen und Authentifizierungsverlangen überhaupt nur einen bestimmbaren Inhalt und referierbaren Sinn gewinn. Das heißt, Wahrheit beglaubigendes Dokument und Authentizität bezeugendes Zeugnis ist die in versprengten Überresten und einzelnen Bruchstücken sich selbst überlebende frühere Empirie, plan und düpierend genug, deshalb, weil jene Wahrheit und Echtheit, in der die der Gegenwart automatisch eigne Geschichte teils erst einmal generell sich behaupten, teils dann auch speziell sich beweisen zu sehen, die professionalisiert historiographische Reflexion unvermutet verlangt, tatsächlich gar nichts anderes meint als die im traditionellen Sinne der adaequatio rei gefasste, weitestgehende und nach Möglichkeit völlige Übereinstimmung hier der der Gegenwart eignen und an ihr automatisch interessierten Geschichte mit dort einer Vergangenheit, die im Charakter eines kriteriell besonderen Imperfekts partout nur die der früheren Empirie in praesenti casu ihres fragmentarischen Überlebens entsprechende ist. Diese, als historia sui generis in den Überresten und Bruchstücken der früheren gegenwartsfeindlichen Empirie gegebene und, wenn auch vielleicht nicht in corpore, so immerhin doch in nuce ihres posthum fragmentarischen Daseins demnach beschlossene und enthaltene Vergangenheit ist es, mit der die der Gegenwart automatisch eigne Geschichte sei's überhaupt im Einklang zu finden, sei's mindestens nicht in Dissonanz anzutreffen, der professionellen Geschichtswissenschaft als das wortwörtliche Wahrzeichen und der maßgebliche Ausweis der für jene nachgesuchten Bewahrheitung gilt. Und sie denn auch umgekehrt ist es, die in Differenz zu der der Gegenwart automatisch eignen Geschichte beileibe nicht unbedingt schon zu wissen oder wenigstens zu vermuten, sondern überhaupt nur sich mangels besseren Wissens auszudenken und ungewiss vorzustellen, der professionellen Geschichtswissenschaft genau das – nicht allein unangenehme, sondern geradezu unerträgliche – Gefühl der Haltlosigkeit und schieren Fiktion erregt, das zu beschwichtigen und am Ende gar zu vertreiben, in der Tat nichts sonst als eine die automatisch eigne Geschichte auf die Probe ihrer Anerkennung respektive Duldung durch die frühere Empirie in praesenti casu ihres fragmentarischen Daseins stellendes und mithin der letzteren als des einzig gültigen Dokuments und Zeugnisses für die dennoch vorhandene Übereinstimmung der ersteren mit jener denkbarerweise differenten Vergangenheit sich versicherndes, gegenläufiges Verifizierungsverfahren in Frage kommt und sich tauglich erweist.

Fußnoten

... Bruchstücke"30
Ebd., S. 200.
... Erfahrung31
Aber in der Tat ist das "eigenhändig" gerade das Problem. Wie sich zeigen wird (Teil IV, S. 152-217), ist gerade dies, dass die bürgerliche Gegenwart, das Subjekt der Erfahrung, sich wesentlich in den, der die Erfahrung macht, und in den, der um sie reicher wird, dirimiert, und dass also von "eigenhändig" in Bezug auf letzteren am Ende höchstens noch metaphorisch, oder vielmehr ideologisch, die Rede sein kann, der entscheidende Grund dafür, dass die historiographische Reflexion des letzteren die von Kant ihr zugedachte Genussfähigkeit einbüßt und jenes neue, historiokritische Bedürfnis entwickelt, dessen Befriedigung offenbar den Vergleich der empirisch interessierten Geschichte mit einer restbeständig früheren Empirie und die dadurch zu vollbringende Herstellung einer Art "realgeschichtlicher Kontinuität" erheischt.