B. Geschichtswissenschaft und Romantik

Es ist in diesem Sinn einer den sterblichen Überrest in die sterbliche Hülle oder die Allegorie ins Symbol transformierenden positiven Repräsentativität und affirmativen Verkörperung, dass in den romantischen Anfängen ihrer Karriere die historische Quelle des 19. Jahrhunderts reliquienhafte Züge prätendiert. Einen reliquienhaften Anschein kann dort die historische Quelle in dem Maß gewinnen, wie das andere Interesse und differente Subjekt, für das sie einzustehen und dessen Vergangenheit sie zu repräsentieren beansprucht, zwar die als der Kantisch "vernünftige Zweck" von der bürgerlichen Gegenwart verratene und preisgegebene "weltbürgerliche Vereinigung" ist, diese aber noch nicht in der empirisch ausgebildeten Gestalt eines sei's als internationales Proletariat die bürgerliche Gegenwart nachdrücklich kompromittierenden, sei's als "sozialistische Internationale" mit der bürgerlichen Gegenwart tatkräftig konkurrierenden, substantiellen Präsens, das heißt, noch nicht in der für die professionelle Geschichtswissenschaft maßgebenden Gestalt eines in Ansehung der bürgerlichen Gegenwart konkret subversiven Entwurfs und aktuell alternativen Programms, sondern nur erst in der esoterisch unaufgelösten Form einer sei's in die ferne Vorzeit verschlagenen, sei's zu utopischer Zeitlosigkeit entrückten, essentiellen Perspektive an sich oder ursprünglich bloß der bürgerlichen Gegenwart selbst, das heißt, in der Form eines mit Rücksicht auf die bürgerliche Gegenwart dissoziiert irrealen Anspruchs und abstrakt obsessiven Vorwurfs.

Wie gesehen, lässt die bürgerliche Gegenwart die ihr bis dahin wesentlichen affirmativen Interessen und eigentümlichen konstruktiven Intentionen just in dem Augenblick fahren, in dem diese Interessen und Intentionen eine als internationales Proletariat empirisch ausgemachte Gestalt annehmen und eine als proletarische Internationale präsentisch bestimmte Wirklichkeit werden. Und wie gesehen, gibt die bürgerliche Gegenwart die ihr bis dahin wesentlichen Interessen und eigenen Intentionen in eben dem Sinne preis, dass sie sie in actu dieser ihnen zuteil werdenden empirischen Verkörperung und präsentischen Realisierung zum Objekt einer privativen Ausbeutung macht und ins Vehikel klassenspezifischer Bereicherung umfunktioniert, statt sie als das neue historische Subjekt der nach Kantischem Modell erstrebten "weltbürgerlichen Vereinigung" sich zur Geltung bringen und in Szene setzen zu lassen. An exakt dem Punkt, an dem jene Interessen und Intentionen die Bestimmtheit und Konkretion eines qua Ökonomikum empirischen Faktums und qua Politikum historischen Faktors erlangen, verwandeln sie sich für die bürgerliche Gegenwart aus einem zu entfaltenden Motiv, einem zu elaborierenden Subjekt, in einen zu betätigenden Mechanismus, ein auszubeutendes Objekt, und verkehrt sich demnach die bürgerliche Gegenwart selber aus ihrem progressiven Beförderer und kapitalen Betreiber in ihren exklusiven Nutznießer und kapitalistischen Verwerter. Diesen inneren Zusammenhang von Interessenverrat und Interessenverkauf, von ausnehmendem Verlust und ausbeutender Verwendung der Intention, von subjektiver Entmotivierung und objektiver Umfunktionierung zur Kenntnis zu nehmen, ist die den Vorgang begleitende geschichtsphilosophische Reflexion der bürgerlichen Gegenwart unmittelbar weder genötigt noch imstande, geschweige denn willens. Sie ist es umso weniger, je weniger die faktische Interessenlage und objektive Intentionalität, angesichts deren die bürgerliche Gegenwart ihr vorheriges Interesse verliert und ihre frühere Intention einbüßt, den Eindruck einer effektiv empirischen Verkörperung des verlorenen Interesses und einer ernsthaft präsentischen Realisierung der verschwundenen Intention überhaupt zu vermitteln vermag, das heißt, je weniger das, was in Wahrnehmung ihres vorherigen Interesses und in Verfolgung ihrer früheren Intention der bürgerlichen Gegenwart hervorzutreiben gelungen ist, als ernstzunehmende Realisierung einer "weltbürgerlichen Absicht", als dem Plan und Vorsatz einer "weltbürgerlichen Vereinigung" entsprechendes Objekt und Faktum sich überhaupt erkennen lässt. Wo, wie in den westeuropäischen Ländern, eine relativ konsequente Entwicklung vom zu Anfang generativ idealen Interesse zur am Ende privativ interessierenden Realität, vom ursprünglichen Fortschrittsmotiv zum schließlichen Ausbeutungsobjekt, kurz, von der initiativen "weltbürgerlichen Absicht" zum resultativen industriellen Proletariat statthat, ist die das Geschehen kommentierende geschichtsphilosophische Reflexion zwar auch weit entfernt davon, das Verschwinden des zu Anfang umfänglich generativen Interesses der bürgerlichen Gegenwart an der Verwirklichung einer "weltbürgerlichen Vereinigung" in einen kausalen Zusammenhang mit dem Auftreten des am Ende ausschließlich privaten Interesses der bürgerlichen Gegenwart an der Verwertung der in Gestalt eines internationalen Proletariats mittlerweile verwirklichten "weltbürgerlichen Vereinigung" zu bringen. Dessen ungeachtet aber zeigt sie sich angesichts der überwältigenden Evidenz und unwiderstehlichen Überzeugungskraft eben dieser, der "weltbürgerlichen Absicht" gewordenen Ausführung und Verwirklichung disponiert, wie einerseits die Inanspruchnahme der bürgerlichen Gegenwart durch jenes Verwertungs und Ausbeutungsinteresse als das de facto Gegebene und gar Gebotene sich gefallen zu lassen, so andererseits das Verschwinden des der bürgerlichen Gegenwart zuvor eigentümlichen Ausführungs und Verwirklichungsinteresses als etwas Unvermeidliches und gar Natürliches hinzunehmen. Wo hingegen, wie im Deutschland der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Realisierung des ursprünglich auszuführenden Motivs als schließlich auszubeutendes Objekt, mithin die Verkörperung der initiativen Idee einer "weltbürgerlichen Vereinigung" in der resultativen Gestalt eines internationalisiert industriellen Proletariats überhaupt missglückt beziehungsweise in den erdrückend engen Grenzen des faulen Kompromisses, den die bürgerliche Gegenwart mit dem nach wie vor übermächtigen Präsens absolutistischer und separatistischer gesellschaftlicher Kräfte einzugehen genötigt ist, nur partiell oder ansatzweise gelingt, hat die teilnehmende geschichtsphilosophische Reflexion in der Tat nicht den mindesten Anlass, im Verschwinden der bis dahin erklärten Interessen der bürgerlichen Gegenwart mehr zu sehen als einen Akt unmotiviertester Preisgabe und im Verlust der von der bürgerlichen Gegenwart zuvor verfolgten Intentionen etwas anderes zu erblicken als einen Fall grundlosesten Verrats. Indem sie die bürgerliche Gegenwart ihre vorherigen allgemeinen Interessen und universalen Intentionen, statt gegen das Äquivalent eines umfassenden Ausbeutungszusammenhangs und einer ausgreifenden Verwertungsperspektive eintauschen, vielmehr für das Linsengericht taktisch-kleinlicher Vorteile und ständisch beschränkter Aussichten drangeben sieht, bleibt der geschichtsphilosophischen Reflexion der deutschen Misere nicht einmal jene für die gleichzeitigen westeuropäischen Verhältnisse kennzeichnende Macht des Faktischen und empirische Evidenz, die ihr, das Verschwinden der früheren Interessen und vorherigen Intentionen, wenn auch beileibe nicht zu erklären und coram populo zu begreifen, so jedenfalls doch zu akzeptieren und insgeheim zu verstehen, erlauben könnte.

Unter diesen Umständen hat die geschichtsphilosophische Reflexion gar keine andere Wahl, als sich zum Vertreter der dergestalt unmotiviert im Stich gelassenen Interessen und zum Sachwalter der solcherart grundlos verratenen Intentionen zu machen. Für das Verschwinden ihrer Interessen und den Verlust ihrer Intentionen ist die bürgerliche Gegenwart außerstande, einen zumindest empirisch guten Beweggrund und wenigstens de facto überzeugenden Bestimmungsgrund vorzuweisen. Eben deshalb aber ist auf Grund ihrer als innerer Antrieb eigenen Bestimmtheit die begleitende Reflexion gehalten, das verschwundene Interesse zu konservieren und die verlorene Intention zu perpetuieren. In der Tat aber ist, was auf diese Weise die geschichtsphilosophische Reflexion konserviert, das Interesse nicht als anfänglich anwesendes, sondern als schließlich verschwundenes, von der bürgerlichen Gegenwart im Stich gelassenes, aus ihrem Motivationszusammenhang getilgtes, ist, was in dieser Form die geschichtsphilosophische Reflexion perpetuiert, die Intention nicht als ursprünglich verfolgte, sondern als urplötzlich verlorene, von der bürgerlichen Gegenwart verratene, aus ihrem Bestimmungsfeld ausgeschiedene. Als im Kontext der Gegenwart nicht mehr präsente und von aller Empirie abstrahierte Konstitutiva verändern die beibehaltenen Interessen und festgehaltenen Intentionen ihre Couleur und Fasson gleichermaßen: Wie zur gegenstandslos schematischen Reflexionsbestimmung verblasst, zeigen sie sich zum zusammenhanglos esoterischen Erinnerungsmotiv entstellt. Das heißt, sie sind Leitmotiv und Bestimmungsgrund nurmehr und exklusiv dessen, was die geschichtsphilosophische Reflexion zu vermitteln und zu bestimmen dient: des reflektierten Inhalts als solchen, der Vergangenheit. So aber aller empirischen Gegenwärtigkeit und jeder präsentischen Wirksamkeit beraubt und zum isolierten Motiv oder ausschließlichen Grund des Reflexionsinhalts in abstracto, der Vergangenheit, deformiert und verflüchtigt, nehmen die von der geschichtsphilosophischen Reflexion konservierten und perpetuierten Interessen und Intentionen in der Tat mythologische Züge an. Von der bürgerlichen Gegenwart ebenso augenscheinlich gründlich eliminiert wie scheinbar grundlos aufgegeben und auf die ebenso grenzenlos extravagante wie definitiv reflexionsimmanente Rolle eines Leitmotivs und Bestimmungsgrunds partout nur der Vergangenheit reduziert, erhalten die konservierten Interessen und perpetuierten Intentionen jene als spezifisch romantische Topographie ausgewiesene außerweltliche Stellung oder überirdische Bedeutung, die, wie sie zum einen ihrem Verhältnis zur Vergangenheit die subversive Unbehaftbarkeit und fatale Exklusivität einer urtümlich hypothekarischen Beziehung oder sakrosankt unverbrüchlichen Obligation verleiht, so zum anderen ihnen selbst den Charakter einer im mythologischen Bruch mit dem historischen Kontinuum der Gegenwart sich realisierenden unüberbrückbaren Differenz oder unmittelbaren Jenseitigkeit nachweist. Im sei's als historische Utopie, sei's als mythologisches Alibi konzipierten Niemandsland ihrer von aller Gegenwart himmelweit entfernten und einzig und nur im Reflexions oder vielmehr Fluchtpunkt der Vergangenheit sich noch geltend machenden Präsenz gewinnen die von der geschichtsphilosophischen Reflexion konservierten Interessen und perpetuierten Intentionen jenen Anschein von gegengeschichtlich diskreter Totalität beziehungsweise unvermittelt mythologischer Substantialität, der sie in der Tat phänomenologisch jedenfalls in die Nähe eben des zuvor erörterten fundamental anderen Interesses und qualitativ differenten Subjekts rückt, mit dem es die heiligenkultliche Verehrung zu tun hat.

Und wie denn also die verschwundenen Interessen und verlorenen Intentionen der bürgerlichen Gegenwart durch diese ihre romantisch-reflexive Konservierung und Perpetuierung einen Anschein von ontologisch entscheidender Andersartigkeit und mythologisch grundlegender Differenz erlangen, so erhält nun auch die als durch sie esoterisch motiviert und hypothekarisch bestimmt vorgestellte Vergangenheit nolens volens ein entsprechend apartes Ansehen und eine vergleichbar besondere Bedeutung. Als je nach dem Gewichtsverhältnis zwischen mythologischem Wesen und historischer Erscheinung sei's in die ferne Zukunft verschlagenes, sei's in utopische Zeitlosigkeit entrücktes Darstellungsmedium jener von der romantischen Reflexion konservierten Interessen und perpetuierten Intentionen kann solche Vergangenheit gar nicht verfehlen, die an die hagiographische Tradition gemahnenden Züge eines in specie augenblickshaft epiphanischen, gegengeschichtlichen Ereignisses und in genere ewigkeitsträchtig legendarischen, heilsgeschichtlichen Geschehens anzunehmen. Wie sollte dann aber schließlich auch die solche Vergangenheit zu verkörpern und zu repräsentieren bestimmte historische Quelle umhin können, eine im Sinne affirmativer Symbolisierung reliquienhafte Figur zu machen? Als Verkörperung einer Vergangenheit, der die romantische geschichtsphilosophische Reflexion die Aufgabe zuweist, den ansonsten verschwundenen Interessen und im übrigen verlorenen Intentionen der bürgerlichen Gegenwart eine in ihrer Abgeschnittenheit utopisch-mythologisch zu nennende Zuflucht zu gewähren und zu einer in ihrer Abruptheit epiphanisch-hagiographisch anmutenden Erscheinung zu verhelfen, hat die historische Quelle gar keine andere Wahl, als eine der Zeitenfülle, die sie repräsentiert, und dem quasi heiligen Geist, für den sie einsteht, gemäße Gralsfunktion auszubilden und entsprechende fetischistische Reliquienbedeutung anzunehmen.

Indes haben diese der Vergangenheit angetragene, quasi heilsgeschichtliche Signifikanz und der historischen Quelle zugebilligte, gewissermaßen reliquienhafte Rolle nur so lange Bestand, wie die Interessen und Intentionen, denen die romantische Reflexion die Stange hält, tatsächlich in der Unmittelbarkeit und Unbestimmtheit eines dem historischen Kontinuum der Gegenwart kurzerhand entfallenen und aus allem präsenten Erfahrungszusammenhang spurlos verschwundenen, freischwebend differenten Subjekts sich zu behaupten vermögen. Das heißt, der von der romantischen Reflexion der Vergangenheit verliehene heilsgeschichtliche Status und der historischen Quelle zugestandene reliquienhafte Charakter bleiben nur eben so lange in Kraft, wie die in Gestalt eines industriellen Proletariats aktuelle Verkörperung und empirische Realisierung jener auf "weltbürgerliche Vereinigung" zielenden Interessen und Intentionen, die die romantische Reflexion konserviert und perpetuiert, noch aussteht beziehungsweise zu wünschen übrig lässt. In dem Maß, wie nun auch in Deutschland unter dem Druck der allgemeinen Entwicklung dieser Realisierungs und Objektivierungsprozess nachgeholt wird und, allen faulen Kompromissen zum Trotz, voranschreitet und wie also die von der bürgerlichen Gegenwart scheinbar unmotiviert im Stich gelassenen Interessen und vermeintlich grundlos verratenen Intentionen vielmehr in der Gestalt eines von der bürgerlichen Gegenwart zum Selbstverwertungsmittel umfunktionierten anderen empirischen Daseins und zum Ausbeutungsobjekt verdinglichten neuen historischen Subjekts erkennbar oder jedenfalls sichtbar werden, entgleitet der romantischen Reflexion ihr eigentümliches fundamentum in mente und entschwindet ihr also eben jener extravagante Reflexionsgrund, den die in der Konsequenz ihrer scheinbar unmotivierten Preisgabe vorzeitlich-mythologisch konservierten Interessen und im Resultat ihres vermeintlich grundlosen Verrats zeitlos-utopisch perpetuierten Intentionen der bürgerlichen Gegenwart bis dahin für sie darstellen. Und wie damit die romantische Reflexion selbst ihres wesentlichen Konstitutivs und entscheidenden Beweggrunds sich beraubt findet, so gehen nun natürlich auch die von der romantischen Reflexion inszenierte Vergangenheit und inthronisierte historische Quelle des in eben jenen mythologischen Interessen bestehenden tragenden Bestimmungsgrunds für ihren heiligenkultlich-reliquienhaften Charakter und des aus eben jenen utopischen Intentionen sich ergebenden treibenden Motivs für ihre epiphanisch-fetischistische Eigenart verlustig.

Zwar, ideologisch-praktisch bedeutet dies für die romantisch inszenierte Vergangenheit keineswegs schon das Ende ihrer Karriere. Ideologisch-praktisch geht ganz im Gegenteil die die romantische Vergangenheit ereilende Entmotivierung und Einbuße an theoretischer Substanz Hand in Hand mit einer ihr als Figur und Topos zuteil werdenden gezielten Aktualisierung und effektiven Funktionalisierung. Was dort die romantische Vergangenheit an historiologischer Haltbarkeit verliert, das gewinnt sie hier in der Form ideologischer Brauchbarkeit zurück. Als Darstellungsmittel für die verschwundenen Interessen und verlorenen Intentionen der bürgerlichen Gegenwart gerät sie offenbar in dem Maß außer Kurs, wie die letzteren den Schein esoterisch reflexiver Unmittelbarkeit und alibihafter mythologischer Diskretion ablegen und vielmehr als neue empirische Erscheinung, als objektiv anderes Subjekt zutage treten. Indem sie so aber ihrer historiologischen Substanz verlustig geht, empfiehlt sie sich nun stattdessen als ein Gegendarstellungsmittel in Ansehung eben des empirisch neuen Daseins und objektiv anderen Subjekts, das den Substanzverlust ihr beschert hat. Aus einem heiligen Abbild des von der bürgerlichen Gegenwart im Stich gelassenen Interesses an der "weltbürgerlichen Vereinigung" wird ein scheinheiliges Gegenbild zu der die bürgerliche Gegenwart konfrontierenden Verwirklichung, die jenes Vereinigungsinteresse in Gestalt eines internationalen Proletariats inzwischen gefunden hat. Aus einem mythologischen Prototyp dessen, was die bürgerliche Gegenwart ursprünglich intendiert hat, verwandelt sich die romantisch reflektierte Vergangenheit in ein ideologisches Gegenmodell zu dem, was aus jener Intention mittlerweile geworden ist. Je mehr das als "sozialistische Internationale" sich organisierende internationale Proletariat vom Charakter unmittelbarer Gesetztheit und kategorialer Verdinglichung sich politisch emanzipiert und die Physiognomie eines autonom anderen Daseins und alternativen historischen Subjekts ausbildet, umso bereitwilliger nehmen nicht mehr nur in Deutschland, sondern ebenso sehr auch in Westeuropa, die Geschichtsphilosophen der bürgerlichen Gegenwart Rekurs auf jene, der romantischen Reflexion als paradigmatische Heilsgeschichte entsprungene mythologische Vergangenheit, um sie dem neuen historischen Subjekt und revolutionären Präsens als dessen vexierbildlich besseres Selbst entgegenzuhalten.

Dabei besteht der vexierbildliche Vorzug jener mythologischen Vergangenheit in der ganz und gar abstrakten Negativität, mit der sie der bürgerlichen Gegenwart selbst und als solcher begegnet. Wo die in Gestalt eines revolutionären Präsens realisierte "weltbürgerliche Vereinigung" durch sozialistischen Internationalismus im Begriff steht, die bürgerliche Gegenwart mit gegenwartsimmanenter Konsequenz zu überwinden und aufzuheben, da maßen sich mit ihrer in Form einer mythologischen Vergangenheit imaginierten universellen Gemeinschaft aus heroischem Kosmopolitismus ein Carlyle oder Nietzsche an, die bürgerliche Gegenwart mit transzendenter Hochfahrenheit zu verwerfen und kurzerhand auszuschalten. Was, aus der Perspektive ihrer revolutionären Präsenz, die "sozialistische Internationale" als eine notwendige Voraussetzung und historische Grundlage begreift, die es im revolutionären Prozess umzugestalten und aus der es sich in bestimmter Negation herauszuarbeiten gilt, darin erkennen sub specie ihrer mythologischen Vergangenheit die bürgerlichen Geschichtsphilosophen einzig und nur den epochalen Irrtum und historischen Sumpf, mit dem es den kurzen Prozess seiner völligen Annullierung zu machen und über den es im fundamentalkritischen Gewaltstreich sich zu erheben gilt. Nicht allein, dass mit dieser abstrakten Verwerfung und pauschalen Negativität, die sie der bürgerlichen Gegenwart angedeihen lässt, jene mythologische Vergangenheit eben der bestimmten Negation und konkreten Aufhebung zuvorkommt, die das revolutionäre Präsens im Begriff steht, der bürgerlichen Gegenwart zuteil werden zu lassen mehr noch gelingt ihr auf diese Weise, das revolutionäre Präsens selbst, ihren in Sachen "weltbürgerliche Vereinigung" empirischen Konterpart um seinen im Verhältnis zur bürgerlichen Gegenwart bestehenden historischen Boden und spezifischen Zusammenhang zu bringen und also des im Prinzip gleichen Nichts zu überführen, in das hinein sie auch letztere eskamotiert. Unter der Camouflage seiner an der bürgerlichen Gegenwart überhaupt geübten Fundamentalkritik fungiert so der in Form einer mythologischen Vergangenheit vorgetragene ideologische Gegenentwurf zu dem in Gestalt eines revolutionären Präsens sich im Schoße der bürgerlichen Gegenwart entwickelnden neuen, "weltbürgerlichen" Projekt in der Tat als ein dies neue historische Subjekt sei's in Verwirrung zu stürzen bestimmtes Apotropäon, sei's in die Irre zu führen gedachtes Vexierbild.73

Was indes der bürgerlichen Geschichtsphilosophie in ideologisch-praktischer Hinsicht recht sein kann, das darf ihr in historiologisch-theoretischer Rücksicht deshalb noch lange nicht billig sein. Unter Erkenntnisrücksichten und im Gewahrsam nämlich der theoretisch ihr abgeforderten reflexiven Konsequenz bleibt vielmehr der historiographischen Reflexion der entwickelten bürgerlichen Gegenwart gar nichts anderes übrig, als jene romantisch mythologisierte Vergangenheit in die Revision ihres mittlerweile objektivierten Motivs und historisch konkretisierten Bestimmungsgrunds zu treiben. Statt, wie sie ideologischpraktisch tut, jene als Zufluchtsort früherer Interessen kurzschlüssig reflektierte und als Gedenkstätte vorheriger Intentionen freihändig inszenierte, romantische Vergangenheit im Sinne einer fundamentalkritischen Alternativversion zu eben der empirischen Gestalt und präsentischen Wirklichkeit, die jene Interessen und Intentionen inzwischen gewonnen haben, nutzen zu können, muss historiologisch-theoretisch die bürgerliche Geschichtsphilosophie diese den Interessen und Intentionen gewordene empirische Verkörperung und präsentische Realisierung nolens volens als verbindlich neues Realfundament ihrer Reflexionstätigkeit sich gefallen und mithin als Bestimmungskriterium und Vermittlungspunkt einer Neufassung auch und gerade jener romantisch inszenierten Vergangenheit sich bieten lassen. Wo ein Carlyle oder Nietzsche in ideologischer Zielstrebigkeit dem romantischen Konstruktivismus einer Repräsentation und Darstellung von praesenti casu verschwundenen Interessen und verlorenen Intentionen durch die Vergangenheit huldigen dürfen, da müssen aus epistemologischer Gewissenhaftigkeit ein Mommsen oder Ranke des historischen Realismus einer Vermittlung und Bestimmung der Vergangenheit durch die praesenti casu in Erscheinung getretenen veränderten Interessen und Wirklichkeit gewordenen neuen Intentionen sich befleißigen. Da indes diese veränderten Interessen und neuen Intentionen die eines in revolutionärer Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Gegenwart begriffenen, empirisch anderen Präsens und neuen historischen Subjekts sind, sieht sich die eben jener bürgerlichen Gegenwart zugehörige und verpflichtete historiographische Reflexion eines Mommsen oder Ranke zugleich genötigt, den ihr aufgegebenen historiologisch-theoretischen Realismus nicht etwa bloß mit Vorsicht zu genießen, sondern in der Tat bis zur Unkenntlichkeit einer auf Entrealisierung zielenden Verdinglichungsstrategie zu entstellen. Wie oben gezeigt, verwandelt die historiographische Reflexion der entwickelten bürgerlichen Gegenwart dadurch, dass sie am entscheidenden Punkt Epoché übt, den lebendigen Geist jener als historische Gegenmacht präsenten Wirklichkeit, die sie gegen alle historiographische Scheinproduktion der bürgerlichen Gegenwart als Vermittlungsmoment und Bestimmungsgrund einer wirklichen Geschichte zur Geltung zu bringen verspricht, in ein vergangenheitsimmanentes Gespenst, ins caput mortuum der historischen Wahrheit.

Was die geschichtsphilosophische Reflexion der entwickelten bürgerlichen Gegenwart ideologisch-praktisch dergestalt sich vom Leibe hält, dass sie ihm mit fundamentalkritisch offener Feindseligkeit ein zur apotropäischen Maske ausgehöhltes romantisches Vexierbild entgegenstellt, dessen entledigt sie sich historiologisch-theoretisch in der Weise, dass sie es mit als Epoché getarnter, bewusstloser Heimtücke seinem empirisch-präsentischen Wirkungszusammenhang entreißt und mit abstraktiver Apriorizität gleichermaßen in den Bann und mit der Blindheit eben der Vergangenheit schlägt, die es an sich konkret zu vermitteln und interpretativ zu bestimmen bestellt ist. Kraft dieses, theoretische Epoché statt praktischer Fundamentalkritik übenden Verfahrens etabliert sich die historiographische Reflexion der entwickelten bürgerlichen Gegenwart als professionelle Geschichtswissenschaft. Und kraft dieses, den Begriff historischer Wirklichkeit im Topos historischer Wahrheit eskamotierenden Verfahrens macht sie der vom Widerschein des historisch Möglichen hypothekarisch belasteten und durchwirkten romantischen Vergangenheit ein Ende und kreiert stattdessen eine vom Gespenst des historisch Wirklichen hypostatisch besessene und erfüllte szientifische Vergangenheit. An die Stelle der quasisakralen Vergangenheit der romantischen Reflexion, die sich als heilsgeschichtliche Epiphanie der hypothekarisch mythologisierten früheren Interessen beziehungsweise utopisierten ursprünglichen Intentionen der herrschenden bürgerlichen Gegenwart darbietet, tritt so die pseudooriginale Vergangenheit der professionellen Geschichtswissenschaft, die ein zum hypostatischen Anundfürsichsein genuiner Bestrebungen und ureigener Regungen abstrahiertes und schematisiertes historisches Surrogat für die Interessen und Intentionen eines als neues historisches Subjekt die Herrschaft der bürgerlichen Gegenwart bedrohenden "weltbürgerlich" revolutionären Präsens liefert.74

Fußnoten

... Vexierbild.73
Dazu vgl. den Aufsatz des Verfassers "Der revolutionäre Staat Das Paradox der bürgerlichen Gesellschaft", in: Notizbuch 4 (hrsg. v. Bindseil/ Enderwitz), Berlin 1981. In der Tat ist das in seinen charakteristischen Zügen dort näher herausgearbeitete Apotropäon und Vexierbild, das jener ideologische Gegenentwurf zum "weltbürgerlich" neuen historischen Subjekt kreiert, Gemeingut und Gemeinplatz schlechterdings aller, egal ob ideologisch-praktischen, ob szientifisch-theoretischen historiographischen Reflexion der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die im obigen Aufsatz genauer untersuchte Tendenz jenes ideologischen Gegenentwurfs, sich zur Figur eines dem "weltbürgerlich" neuen historischen Subjekt als sein verwandlungsmächtig eigenes corpus mysticum entgegengestellten und vielmehr aufgesetzten "faschistisch" totalen, heroischen Individuums zu verdichten, kann Droysen ebenso gut wie Carlyle oder Burckhardt ebenso gut wie Nietzsche bezeugen. Unbeschadet des hier und im Folgenden zwischen der ideologisch-praktischen Reflexion des Geschichtsphilosophen Nietzsche und der historiologisch-theoretischen Reflexion des Historiographen Burckhardt konstatierten wesentlichen Unterschieds eines Unterschieds, der in der Tat die spezifische Differenz zwischen Ideologie und Wissenschaft ist und der, wie einerseits die Stellung des historischen Subjekts (dessen abstraktive Verflüchtigung zur historischen Quelle oder aber substitutive Entstellung zum heroischen Individuum), so andererseits die Funktion eines dem historischen Subjekt gemäßen Vergangenheitstopos (dessen Etablierung als geschichtskundliche Wahrheit oder aber Investition als geschichtsmächtige Weltanschauung) betrifft –, nehmen auch die Vertreter der historischen Wissenschaft überall da, wo die Frage nach dem Träger der Geschichte, dem historischen Subjekt, als solche thematisch wird, umstandslos und im quasi bedingten Reflex Rekurs auf jenes vexierbildlich-apotropäische Ideologem vom heroischen Individuum. Wenn Burckhardt von "der Verdichtung des Weltgeschichtlichen, der Konzentration der Bewegungen in den großen Individuen" handelt, "in welchen das Bisherige und das Neue zusammen als ihren Urhebern oder ihrem Hauptausdruck momentan und persönlich werden" (a.a.O., S. 3), oder wenn Droysen in ähnlichem Sinne über "das Wesen der geschichtlichen Größe" (Historisch-kritische Ausgabe, a.a.O., S. 388ff) reflektiert, so dokumentieren beide, dass die zur historiologisch-theoretischen Vergangenheitsbewältigung vom Geschichtswissenschaftler eingesetzte Kategorie der historischen Quelle die Figur des heroischen Individuums, die im Interesse einer praktisch-ideologischen Requisition der Vergangenheit die bürgerliche Reflexion gegen die aktuellen Ansprüche der als neues historisches Subjekt sich gerierenden proletarischen Massen aufbietet, keineswegs ausschließt, sondern im Gegenteil je schon als notwendige Ergänzung impliziert. Eine eigentümliche Amalgamierung von praktisch-ideologischer und historiologisch-theoretischer Bestimmung im Sinne einer Reideologisierung der Quellenkategorie selbst findet sich bei Burckhardt, der zu Quellen par excellence, zu "tausendmal ausgebeuteten" "unerschöpflichen" "Originalquellen" diejenigen Quellen erklärt, "die von großen Männern herrühren" (a.a.O., S. 21).
... liefert.74
Dass es topologisch in der Tat die Stelle der romantischen Vergangenheitsfigur ist, an die die szientifische Vergangenheit tritt, dürfte ein Grund dafür sein, dass die professionelle Geschichtswissenschaft zuerst und vorzüglich in Deutschland sich ausbildet. Die romantische Reflexion des politisch-ökonomisch zurückgebliebenen Deutschland ist es, die jene mythologisch-utopische Vergangenheit kreiert, deren Ratio es ist, kompensatorischer Ausdruck im Stich gelassener bürgerlicher Interessen und kurzschlüssiger Reflex verratener bürgerlicher Intentionen zu sein. Und sie eben ist es auch, die, rein topologisch gesehen, damit bereits die Stelle markiert und ausarbeitet, die dann als Alibi für pro forma gewahrte nicht-bürgerliche Interessen und als Fluchtpunkt für pro materia preisgegebene revolutionäre Intentionen sich anbietet und genutzt werden kann.