Was ist Ideologie?1

Der klassischen Lukácsschen Definition des Begriffes zufolge ist Ideologie "notwendig falsches Bewusstsein". Falsches Bewusstsein, unmittelbar genommen, scheint jedes beim Subjekt erzeugte Bild von der Wirklichkeit, das durch subjektive Faktoren beeinflusst oder bestimmt und insofern kein einfaches Abbild der Wirklichkeit, keine adaequatio rei, nicht objektiv ist, das also, insofern Objektivität als Signum der Wahrheit gilt, die Wirklichkeit verfälscht, falsch ist.

Dabei handelt es sich bei den subjektiven Faktoren allerdings um keine bloß negativen Bestimmungen, keinen reinen Mangel, keine Defizienz der Sinneswahrnehmung oder der Urteilskraft; ginge es darum, wir brauchten die Falschheit des entstehenden Bildes nicht mit dem hochgestochenen Begriff Ideologie zu belegen, es genügte, von Versehen, Irrtum, Unverstand zu reden.

Die subjektiven Faktoren sind vielmehr positiver Art, sind zum Wahrnehmen und Erkennen hinzutretende Bestimmungen, sind im Subjekt wirksame Absichten oder Rücksichten. Das kann vielerlei sein: persönlicher Vorteil, dieses oder jenes Interesse, Vorurteile, religiöser Glaube, kulturelle Tradition, soziale Abhängigkeit, Klassenlage und so weiter. Aber worin auch immer die Absicht oder Rücksicht besteht, ideologiebildend wirkt sie nur, wenn sie zwar im Subjekt, aber nicht mit Wissen des Subjektes wirkt, wenn also das Subjekt sie nicht nach Gutdünken und mit Bewusstsein geltend macht und das Bild von der Wirklichkeit verfälschen lässt, sondern wenn sie sich quasi hinter dem Rücken des Subjekts zur Geltung bringt und sein Bild von der Wirklichkeit, ohne dass er weiß, wie ihm geschieht, beeinflusst. Andernfalls könnten wir ja erneut auf den Ideologiebegriff verzichten und getrost von Entstellung, Täuschung, Lüge sprechen.

Falsches Bewusstsein im Sinne einer durch nichtbewusste Interessen verfälschten Auffassung der Realität ist demnach Ideologie, allerdings nur – womit wir beim zweiten Moment der Lukácsschen Definition sind –, wenn die Verfälschung "notwendig" ist. Dieser notwendige, zwingende Charakter des Falschen könnte bereits in der Nichtbewusstheit des verfälschenden Interesses seinen hinlänglichen Grund zu haben scheinen, nach dem Motto: Wenn ich mir des Interesses nicht bewusst bin, das mein Bild von der Wirklichkeit verfälscht, bin ich ihm wehrlos ausgeliefert und geschieht die Verfälschung des Bewusstseins insofern zwangsläufig, notwendig. Allerdings bliebe eine solche Notwendigkeit doch zugleich zufällig, weil sie bloß erkenntnispraktisch begründet wäre; das Nichtbewusste könnte mir dank irgendeines Umstandes bewusst werden, und dann wäre es mit dieser Art von Notwendigkeit vorbei.

Heute ist die Tendenz groß, die Notwendigkeit des falschen Bewusstseins quasi quantitativ, durch Verweis auf den kollektiven Charakter der das Bewusstsein bestimmenden Interessen zu begründen. Nichts anderes meint die Rede von den "ideologischen Mächten", die das Zwingende gewisser als Ideologie erscheinender Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen, eben das Moment von Notwendigkeit an ihnen, darauf zurückführt, dass die Träger der das Bewusstsein verfälschenden Interessen nicht die Individuen, sondern Gruppen oder Klassen von Menschen, organisatorische Systeme, institutionelle oder kulturelle Zusammenhänge sind, die den einzelnen als Teil des Ganzen durch Kommunikation, Interaktion, Erziehung, Rituale indoktrinieren und konditionieren. Das Ideologie genannte falsche Bild von der Wirklichkeit wäre demnach das Ergebnis einer gesellschaftlichen Indoktrination im weitesten Sinne, seine Notwendigkeit wäre die relative Notwendigkeit, für die eine Kollektivpsychologie einsteht.

Ich halte es indes für heuristisch angebracht, den Lukácsschen Begriff so unbedingt aufzufassen, wie er dasteht, ihn also nicht gleich kollektiv-psychologisch zu relativieren, sondern ihn in seiner objektiv-logischen Bedeutung als uneingeschränkt gültig anzunehmen. Objektiv-logische Notwendigkeit im Unterschied zur bloß kollektiv-psychologischen ist, wie der Begriff schon sagt, eine Notwendigkeit, die aus der Sache selbst resultiert, die sich aus der inneren Logik des Objekts ergibt. In unserem Fall bedeutet das, dass die Falschheit des Bewusstseins, die Falschheit des im Bewusstsein entstehenden Bildes von der Wirklichkeit, der objektiven Logik des Abgebildeten entspringt, Produkt der Wirklichkeit selbst ist. In diesem streng genommenen Sinne der Lukácsschen Definition wäre also Ideologie notwendig falsches Bewusstsein deshalb, weil die subjektiven Interessen, die das Bild von der Wirklichkeit verfälschen, die Objektivität entstellen, durch die Wirklichkeit selbst zur Geltung gebracht, vom Objekt als solchem dem Bewusstsein untergejubelt werden. Das klingt paradox, ist aber genau das, was mit der marxistischen Ideologiedefinition gemeint ist.

Das können wir erkennen, wenn wir die abstrakte Interpretationsebene, auf der wir uns bislang mit der Definition beschäftigt haben, verlassen und die Definition in den historischen Kontext stellen, in dem und im Blick auf den Marx den Ideologiebegriff aufgreift. Dieser Kontext ist eine linksliberale Reflexionstradition, die von Anfang des 19. Jahrhunderts datiert, Leute wie die Saint-Simonisten, Comte und Feuerbach umfasst und einem antimetaphysischen Kult des sei's erkenntnistheoretisch als empirische Unmittelbarkeit, sei's lebenspraktisch als sinnliche Konkretheit vorgestellten fait positif oder tatsächlich Gegebenen huldigt. Dieser Tradition entstammt auch der Ideologiebegriff selbst. Geprägt wird er von einer Gruppe napoleonischer Wissenschaftler, die 1801 eine kurzlebige Gesellschaft gründen und sich als idéologues bezeichnen. Damit wollen sie sich natürlich nicht als Träger eines notwendig falschen Bewusstseins brandmarken. Sie wollen damit im Gegenteil geltend machen, dass sie über eine privilegierte Objektivitätserfahrung, einen durch Unmittelbarkeit, Unvoreingenommenheit, Sachhaltigkeit ausgezeichneten besonderen Zugang zur Realität verfügen. Unter dem Ideologiebegriff reklamieren sie mit anderen Worten genau das realitätsentsprechende Wissen, genau das objektive Bewusstsein, das ihnen wenig später Marx durch seine Definition von Ideologie kategorisch abspricht und für im Gegenteil notwendig realitätsentstellend, notwendig falsch erklärt. Wohlgemerkt, notwendig falsch; das heißt, wenn wir unseren obigen Überlegungen folgen: Das Bewusstsein der Ideologen, ihr Objektwissen, ist nicht falsch, weil es in die Realitätswahrnehmung realitätsfremde Interessen einschleust, die Objektivität durch subjektive Absichten entstellt, sondern weil die Realität so, wie sie sich vorstellt, Zeugnis solch realitätsfremder Interessen, die Objektivität so, wie sie sich darbietet, Ausdruck solch subjektiver Absichten ist.

So, wie sie sich vorstellt, ist die Realität unmittelbar Gegebenes, sinnenfällige Erscheinung. Auf dies unmittelbar Gegebene, den fait positif, berufen sich die Ideologen als auf die Realität sans phrase, auf diese sinnenfällige Erscheinung gründen sie ihr als Ideologie im positiven Sinne, als authentisches Erscheinungswissen, verstandenes Wissen von der Realität. Und genau dies Verhältnis denunziert nun Marx als Ideologie im pejorativen Sinne, weil der Gegenstand solchen Erscheinungswissens, der fait positif, trügerisch, das unmittelbar sich Gebende falsch, die sinnenfällige Erscheinung täuschender Schein sei.

Marx legt damit den Finger auf einen objektiven Widerspruch in unseren Gesellschaften, der, so virulent er bereits zu Marxens Zeiten war, sich doch aber heute noch ungleich entfalteter und in der Tat zum Strukturmerkmal von Erfahrung schlechthin totalisiert darbietet – den Widerspruch zwischen der systematisch-ideologischen Unvermitteltheit und der empirisch-praktischen Vermitteltheit aller Realität. Tatsache ist, dass in einem nie gekannten Ausmaß alle Dinge dieser Welt aktuell oder potentiell, der Sache oder der Form nach, durch menschliche Arbeit hervorgebracht, Resultat praktischer oder theoretischer menschlicher Vermittlungstätigkeit sind. Tatsache ist aber auch, dass in einem nie gekannten Ausmaß all diese produzierten Dinge mit dem Anschein einer von sämtlichen Produktionsbedingungen und Produktionsprozessen abgelösten unmittelbaren Gegebenheit und fixen Fertigkeit auftreten. Tatsache ist, dass die Welt in einem nie gekannten Ausmaß Warencharakter hat oder, wie Marx im ersten Satz des "Kapital" formuliert, dass "der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, als eine ungeheure Warensammlung (erscheint)". In der Tat zeichnet sich die Ware durch diese Gleichzeitigkeit von konkreter Geschaffenheit und abstrakter Gegebenheit aus und ist in dieser ihrer unaufgelösten Zwitterhaftigkeit allein schon wegen der Allgegenwart, die ihr mittlerweile eignet, paradigmatisch für die heutige Erfahrung von Realität überhaupt. Sie ist etwas von Menschenhand und Menschengeist Erzeugtes, dennoch tritt sie ihren Erzeugern als quasi Naturphänomen entgegen.

Die Sphäre, kraft deren die Ware diesen Charakter abstrakter Gegebenheit gewinnt, ist der Markt. Weil die Produzenten nicht aus eigenem Antrieb und zum eigenen Gebrauch, sondern auf Rechnung des Marktes produzieren, treten ihnen ihre Produkte, kaum dass sie sie geschaffen haben, als Gegebenheiten dieses objektiven Zusammenhanges entgegen. Ihre Hervorbringungen bleiben nicht ihr Produkt, sondern verwandeln sich im Augenblick ihres Hervorgebrachtseins in Setzungen des Marktes. Dabei bleibt den Produzenten gar nichts anderes übrig, als für den Markt zu produzieren. Allgemeine Bedingung der Kontrolle, die der Markt über die Produktion ausübt, und der bestimmenden Bedeutung, die er für die Arbeitsprodukte gewinnt, ist die Arbeitsteilung, die Tatsache, dass die Produzenten mit ihren Produkten gar nichts oder nur partiell etwas anfangen können. Besondere Ursache dieser Kontrolle und bestimmenden Bedeutung des Marktes ist der spezifisch kapitalistische Faktor, die Verfügung des Marktes über die Produktionsmittel.

Weil der Markt all die Subsistenzmittel hat, die sie brauchen, aber selbst nicht produzieren, und weil der Markt mehr noch im Besitz der Produktionsmittel ist, die sie brauchen, um überhaupt etwas produzieren zu können – aus diesem doppelten Grund müssen die Produzenten ihre Produkte dem Markt übereignen und zulassen, dass diese ihnen als Setzungen des Marktes, das heißt, in der abstrakten Unmittelbarkeit gegebener Waren, entgegentreten. Sie sind dazu gezwungen, aber das bedeutet nicht unbedingt, dass sie es wider Willen tun. Schließlich erhalten sie etwas für die Abtretung ihrer Produkte, bekommen dafür ein als Lohn deklariertes Entgelt, und das eröffnet ihnen als Kaufmittel den Zugang zu den auf dem Markt versammelten Subsistenzmitteln, die sie brauchen. Was die Produzenten dem Markt liefern und überlassen, ist ein bestimmtes Produktquantum, das ihren Anspruch begründet, ein entsprechendes Quantum Waren vom Markt zurückzuerhalten. Das Maß für dieses Quantum ist der Tauschwert, der unmittelbar in Produktform erscheinende, objektivierte Ausdruck der durchschnittlichen gesellschaftlichen Arbeitszeit, die vom Produzenten jeweils für die Produktion aufgewandt wurde. Was die Produzenten als Gegenleistung für das dem Markt gelieferte Wertquantum erhalten, ihr Lohn, ist das so genannte allgemeine Wertäquivalent, Geld, der allgemeine Warenrepräsentant, ein Passepartout für alle auf dem Markt in gebrauchsgegenständlicher Form vorhandenen Werte, eine Art Gutschein, mit dem sie auf dem Markt Waren einlösen können, die sie brauchen. Die Rationalität dieses Gutscheins besteht darin, dass er in einer arbeitsteiligen Gesellschaft schwierige oder unmögliche Ringtauschprozeduren erspart, weil er als allgemeines Wertäquivalent unmittelbaren Zugang zu allen Waren eröffnet.

Aber das Geld ist mehr als bloßer Gutschein, allgemeines Wertäquivalent. Es hat mindestens zwei weitere wesentliche Funktionen. Das eine ist seine wertkonstitutiv-synthetische Funktion. Das Geld dient dazu, die Ansprüche aller an der Wertbildung Beteiligten auch zur Geltung zu bringen, tautologisch ausgedrückt, alle Beteiligten zu Geld kommen zu lassen. In einer Gesellschaft, in der Produktion ein vielschichtiger, langwieriger Prozess ist und in der nicht nur Dinge produziert, sondern auch transportiert und zirkuliert werden müssen, in der also die primäre Produktionsarbeit mit allen möglichen sekundären Dienstleistungen einhergeht – in einer solchen Gesellschaft dient das Geld dazu, die Ansprüche der Beteiligten miteinander zu vergleichen und zu verknüpfen; es wird so zum Konstitutiv des Wertes, den die Ware auf dem Markt schließlich hat.

Das zweite ist die wertappropriativ-katalytische Funktion des Geldes. Indem die am Wertbildungsprozess Beteiligten für ihren Wertbeitrag zum Markt Wertäquivalent, Geld, erhalten, erhalten sie niemals das tatsächliche Äquivalent, sondern stets ein um einen bestimmten Anteil, den der Markt als sein Eigentum reklamiert, gekürztes Quantum. Der Markt behält beim Austausch von Wertäquivalent gegen Produkt einen Teil des im Produkt vergegenständlichten Wertes als seinen "Lohn", den von den Produzenten für den Markt geschaffenen Mehrwert, ein. Kein Markt und keine marktbestimmte Produktion ohne dieses Aneignungsprinzip! Darin bloß die subsistentielle Vergütung für die den Markt Betreibenden sehen zu wollen, greift zu kurz! Erstens ist der Marktanteil traditionell zu groß, um als bloß subsistentielle Vergütung gelten zu können. Und vor allem spricht zweitens die Verwendung dieses Marktanteils eine deutliche Sprache. Im Normalfall wird er ja von den Betreibern des Marktes nicht als Subsistenzmittel verzehrt oder konsumiert, sondern so rasch wie möglich durch Verkauf in seinem Wert realisiert, das heißt, in allgemeines Wertäquivalent, in klingende Münze, Geld, verwandelt, um zusammen mit dem Wertäquivalent, das als Lohn an die Produzenten ausgegeben wurde, und das diese zur Befriedigung ihrer subsistentiellen Bedürfnisse dem Markt zurückerstatten, in neue, nach Maßgabe des Zuwachses an Wertäquivalent erweiterte Produktionsprozesse gesteckt zu werden, die wiederum dem gleichen Zweck einer Aneignung von Wert durch den Markt dienen.

Vom Markt her gesehen dient also der ganze Vorgang der Übersetzung der Arbeitsprodukte in die abstrakte Unmittelbarkeit von Waren, in fix und fertige, marktgesetzte Gegenständlichkeit, dessen Angelpunkt und Schaltstelle die Dazwischenkunft des als Lohn firmierenden Geldes ist, der Aneignung von Mehrwert durch den Markt. Das als Lohn firmierende Geld erfüllt aus dieser Sicht von Anfang an die Rolle von Kapital im Allgemeinen, von Wert, der Wert schafft und akkumuliert. Die Produzenten arbeiten für Geld in dem zweideutigen Sinne, dass sie arbeiten, um Geld für Subsistenzmittel zu erwerben, und dabei aber das Geld sie arbeiten lässt, um Mehrwert zu bekommen.

Die Produzenten müssen sich aus den genannten Gründen der marktkonstitutiven Arbeitsteilung im Allgemeinen und ihrer kapitalkonstitutiven Trennung von den Produktionsmitteln im besonderen mit diesen expropriativen Konditionen ihres Tuns, die sich im Austausch Produkt gegen Lohn, Wertmasse in Warenform gegen Wertäquivalent in Geldform zur Geltung bringen, zufrieden geben. Sie müssen die Überführung ihrer Produkte in die Unmittelbarkeit, den fait positif, der marktgesetzten Warenwelt, in deren Gestalt sich die Mehrwertaneignung vollzieht, akzeptieren, um an das Geld zu kommen, das ihnen ihre Subsistenz verschafft. Ihr Akzeptieren fällt bereitwilliger oder widerstrebender aus – je nachdem, wie reichlich die Subsistenz bemessen ist, die ihnen ihr Lohn, das Geld, ermöglicht.

Aber da gibt es von Anfang an neben den Betreibern des Marktes und den Produzenten noch eine dritte Gruppe – diejenigen, an die die Betreiber des Marktes den durch den Austausch mit den Produzenten erworbenen Mehrwert in Warenform veräußern, um ihn als Mehrwert sans phrase, das heißt, als Mehrwert in Geldform, zu realisieren. Weil die Betreiber des Marktes den Wert ihrer Waren einschließlich Mehrwert nur brauchen, um neue Produktionsprozesse in Gang zu setzen und neue mehrwertige Waren produzieren zu lassen, können sie mit dem Mehrwert in der unmittelbaren, gebrauchsgegenständlichen Gestalt, die er als Ware hat, nichts anfangen und suchen jemanden, an den sie ihn verkaufen können. Aus der Gruppe der Produzenten können die Gesuchten nicht kommen – die haben ja nur den Produktwert eintauschen können, für den sie von den Betreibern des Marktes vorher das als Lohn für ihre Arbeit firmierende Wertäquivalent bekamen – den Produktwert also abzüglich des in Produktform verkörperten Mehrwerts, um dessentwillen die Betreiber des Marktes ihnen Wertäquivalent überlassen. Die Gesuchten kommen also von außerhalb des durch den Markt und die Produzenten gebildeten gesellschaftlichen Reproduktionssystems und sind dessen offenkundige Nutznießer. Das einzige, was sie brauchen, ist allgemeines Wertäquivalent, Geld, das sie nicht aus marktbezogenen Lohnverhältnissen, sondern aus anderen Zusammenhängen mitbringen und mit dem sie sich quasi in den Markt einkaufen. Ohne sie und ihr von außerhalb des Systems eingeschleustes Geld ist die über den Mehrwert verlaufende Akkumulationsstrategie der Betreiber des Marktes unmöglich, und insofern sind sie ein konstitutives Moment jedes auf der Aneignung und Akkumulation von Mehrwert basierenden Marktsystems.

Anders als für die Produzenten ist für diese Gruppe die Unmittelbarkeit der auf dem Markt erscheinenden Waren, die abstrakte Konkretheit, die Positivität der austauschvermittelten Wirklichkeit, keine bloß negative Bedingung, die sie um ihrer Subsistenz willen akzeptieren müssen, sondern im Gegenteil die positive Voraussetzung dafür, dass sie an den Segnungen des Marktes partizipieren kann. Als Konsequenz und Ausdruck der Aneignung von Mehrwert durch den Markt ist die Unmittelbarkeit der Waren dasjenige, was der Gruppe den Einstieg in den Markt und die Teilhabe an seinen Gütern ermöglicht und wird deshalb von der Gruppe nicht nur akzeptiert beziehungsweise toleriert, sondern affirmiert beziehungsweise als normative Wirklichkeit hochgehalten. So gewiss die Gruppe auf die Expropriationsstragegie des Marktes angewiesen ist, um an Lebensmittel und Konsumgüter zu kommen, so gewiss affirmiert sie den Mechanismus, durch den die Expropriation vor sich geht, einschließlich seines Kernstücks, der Überführung der Arbeitsprodukte in marktgesetzte Waren, und hält den resultierenden Anschein von Unmittelbarkeit, den eine durch das Phänomen Ware geprägte Wirklichkeit zur Schau stellt, für das Natürlichste beziehungsweise Gottgewollteste von der Welt. Die Mitglieder der Gruppe sind also im obigen Sinne Ideologen, Anhänger des fait positif, der Naturgegebenheit der Dinge.

Allerdings sind sie in den Anfängen des Marktsystems, etwa in der Antike oder im Spätmittelalter und in der Renaissance, Ideologen nur erst in einem sehr allgemeinen Sinn und ganz gewiss nicht in der spezifischen Bedeutung, die der Begriff bei Marx erhält. Das hat mehrere Gründe. Erstens ist diese Gruppe noch relativ klein, wie ja auch der Markt selbst noch nur erst einen Bruchteil der gesamten gesellschaftlichen Reproduktion erfasst. Zweitens ist sie nur erst partiell am Markt interessiert, das heißt, sie ist zwar zur Befriedigung bestimmter Konsumbedürfnisse auf den Markt und seinen Expropriationsmechanismus angewiesen, zieht aber den größeren Teil ihrer Subsistenz noch aus den traditionellen herrschaftlichen Zusammenhängen, in denen sie lebt, aus der Arbeit und den Abgaben ihrer Untertanen und Hintersassen. Drittens steht sie eben deshalb, weil sie in traditionellen Herrschaftsverhältnissen lebt, in gewisser Weise noch außerhalb des Marktsystems; das Wertäquivalent, durch das sie am Markt partizipiert, bringt sie aus ihren äußeren Zusammenhängen (aus Bergwerken, Kriegsbeute, Kolonien) mit; sie ist zwar am Markt interessiert, aber nicht in seinem Kontext engagiert.

Das alles drei aber ändert sich mit Beginn der Neuzeit. Grund dafür ist eine beispiellose Expansion des Marktes und seiner Transaktionen, die sich der Koinzidenz einer Reihe von Faktoren verdankt (technische Fortschritte in der Landwirtschaft und im Handwerk, Bevölkerungswachstum, Edelmetalle und Waren aus den Kolonien). Diese Expansion führt zu dem, was Marx als ursprüngliche Akkumulation bezeichnet, zu einer noch nie dagewesenen Massierung von Handelskapital, das, weil es nicht genug Produkte findet, in denen es sich warenförmig verkörpern kann, sich in zunehmendem Maße in Produktionsmitteln verkörpert, um Kontrolle über die Produktionsbedingungen zu erlangen und die Produktion auf das Bedürfnis des Marktes nach immer mehr Waren auszurichten und einzustellen. Die Konsequenz dieser Kapitalisierung der Produktionsmittel sind die für eine kapitalistische Ökonomie im engeren Sinne grundlegende Trennung der Produktionsmittel von den Produzenten und die völlig neuen Ausbeutungsmöglichkeiten, denen die letzteren sich durch diese Trennung unterworfen sehen.

Solange die Produzenten dem Markt noch in eigener Regie und mit eigenen Mitteln gefertigte Produkte liefern, bemisst sich (wenn auch mit vielen empirischen Einschränkungen) deren Wert und also ihr Lohn an der durchschnittlichen gesellschaftlichen Arbeitszeit, die sie dafür haben aufwenden müssen. Jetzt aber kauft der Markt nicht mehr die Produkte der Produzenten, sondern die Produzenten selbst, ihre Arbeitskraft. Ein Produkte schaffendes Produkt – das ist es, was der Markt mit den Produzenten bekommt. Woran bemisst sich nun aber der Wert dieses "Produkts"? Am Wert der für seine Herstellung beziehungsweise Wiederherstellung nötigen Produkte, sprich, am Wert der für die Reproduktion und Erhaltung seiner Arbeitskraft erforderlichen Subsistenzmittel. Was ein Produzent zum Leben und zur Reproduktion seiner Arbeitskraft braucht und was also sein Wert ist, ist an sich schon keine anthropologisch fixe Größe, sondern eine Sache gesellschaftlicher Konvention und außerordentlichen Schwankungen unterworfen. Hinzu kommt aber noch, dass wie alle Waren die Arbeitskraft jetzt nicht nur einen Wert hat, der sich an ihren Gestehungskosten bemisst, sondern auch einen Preis, über den Angebot und Nachfrage entscheiden. Und auf dem Markt für die Ware Arbeitskraft, auf dem Arbeitsmarkt, herrscht in den ersten Jahrhunderten der kapitalistischen Entwicklung ein Überangebot an dieser Ware, bedingt einerseits durch die übermächtige Konkurrenz der kapitalisierten Produktionsmittel, die die traditionelle Selbständigkeit der Produzenten zerstört und die letzteren "freisetzt", so dass sie für ihre Subsistenz auf Lohnarbeit angewiesen sind, und andererseits durch das starke Bevölkerungswachstum, für das neben den Fortschritten in Hygiene und Medizin vor allem auch die kapitalistische Entwurzelung und Deklassierung der Produzenten selbst schuld ist, auf die diese mit der Alterssicherungsstrategie des Kinderreichtums reagieren. Die Konsequenz dieses Überangebots an Arbeitskraft ist, dass die Lohnarbeit Suchenden um die Arbeitsplätze konkurrieren und so den Repräsentanten des Marktes ermöglichen, ihren Lohn immer weiter zu drücken und ihre Arbeitsbedingungen, sowohl was die Länge des Arbeitstages, als auch was die Intensität der Arbeitsleistung betrifft, immer weiter zu verschärfen. Und dies beides wiederum schlägt sich in einem unverhältnismäßig hohen Mehrwertanteil nieder, den die Marktrepräsentanten einheimsen. Je geringer der gezahlte Lohn und je größer die in Warenform produzierte Wertmenge, um so größer der Wertanteil, der nicht an die Produzenten geht, sondern in der Hand der Marktrepräsentanten bleibt und durch den Verkauf der Waren als Mehrwert realisiert werden kann.

Ökonomisch gesehen bedeutet dieser hohe Mehrwertanteil, dass der Markt expandieren und immer mehr Produktionskapazitäten unter seine Kontrolle bringen und nach Maßgabe seiner Interessen entfalten kann. Je mehr Wertmasse die Marktrepräsentanten zurückbehalten, um so mehr können sie in neue Produktionsprozesse stecken. So gesehen, ist die quantitative Ausbeutung der Lohnarbeitskraft, die Ausbeutung durch Lohndrückerei, verlängerte Arbeitszeit und Intensivierung der Arbeit, die entscheidende Bedingung für die Entfaltung des kapitalistischen Systems in seiner Frühzeit.

Aber die hohe Mehrwertproduktion hat auch eine soziale Seite, womit wir endlich wieder bei unseren Ideologen wären. Der produzierte Mehrwert hat ja unmittelbar die Form von Waren, und ehe er in neue Produktion investiert, als Kapital genutzt werden kann, muss er als solcher, das heißt in Geldform, realisiert, sprich, er muss verkauft werden. Wer soll die Waren kaufen, wenn nicht jene Gruppen, die über Geld aus anderen Quellen als den Lohnarbeitszusammenhängen des Marktes verfügen und die kraft dieses von außerhalb des Marktes stammenden Geldes die Hauptnutznießer der marktspezifischen Mehrwertproduktion sind? Wer sonst soll mit anderen Worten den geschaffen Mehrwert realisieren als die traditionellen Oberschichten mit ihrem aus landesherrlichen Bergwerken, aus den Kolonien, aus der Grundrente, aus fürstlichen Pfründen, aus staatlichen Steuern stammenden Geld? Sie sind die Hauptnutznießer der auf die ursprüngliche Akkumulation folgenden manufakturellen und dann industriellen Ausbeutung der Lohnarbeitskraft.

Wie sehr sie Nutznießer sind, davon zeugen die absolutistischen Höfe mit ihrer barocken Prachtentfaltung, zeugen die Adligen und Patrizier mit ihren Landsitzen und Stadthäusern und ihrer galanten Lebensart. Davon zeugt auch ein früher Politökonom wie Bernard Mandeville, der in seiner Bienenfabel den Luxuskonsum der Oberschicht des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts zur Bedingung des Reichtums der Gesellschaften und des Wohlstandes des kleinen Mannes erklärt, der behauptet, die Bedürfnisbefriedigung der oberen Etagen der Gesellschaft ließen in den unteren Etagen "den Schornstein rauchen". Damit nähern wir uns nun in der Tat der im Sinne der klassischen Lukácsschen Definition ideologischen Sichtweise, bei der nämlich die Warenproduktion für den Markt bereits als für alle gesellschaftlichen Schichten verbindliche Wirtschaftsform akzeptiert oder vielmehr gutgeheißen und bei der so selbstverständlich davon ausgegangen wird, dass die in Form dieser Warenproduktion praktizierte Mehrwertproduktion conditio sine qua non aller gesellschaftlichen Reproduktion ist, dass diejenigen, die den unmittelbar in Mehrproduktform erscheinenden Mehrwert zu realisieren helfen, indem sie das Mehrprodukt kaufen, als die eigentlichen Träger und Erhalter des Wirtschaftslebens erscheinen und dass in völliger Verkehrung der tatsächlichen Abhängigkeiten die über den Markt abgewickelte Subsistenz der Produzenten sich als bloße Folgeerscheinung, als Abfallprodukt des Konsums des Mehrprodukts durch die Nichtproduzenten präsentiert.

Aber mögen die Verzehrer des Mehrprodukts und Realisierer des im Mehrprodukt steckenden Mehrwerts, als die sich die traditionellen Oberschichten in der Frühzeit der bürgerlichen Entwicklung profilieren, noch so sehr an ideologischer Selbstüberschätzung leiden und ihre Rolle im Blick auf die Förderung und Erhaltung des Wohlstandes der Gesellschaften, des Commonwealth, für noch so zentral halten – lange sind sie der ihnen von der frühbürgerlich-absolutistischen Gesellschaft zugewiesenen Aufgabe nicht gewachsen. Was sie in Positur bringt, untergräbt schließlich auch wieder ihre Stellung: die unaufhaltsame Vergrößerung des durch Lohnarbeit erzeugten Mehrwerts, teils relativ durch die wachsende Ausbeutung der Arbeitskraft, teils absolut durch die akkumulationsbedingte Ausdehnung der Verfügung und Kontrolle des Marktes über die Arbeitsprozesse auf immer größere Teile der Arbeitssphäre. Das Mehrprodukt, in dem dieser wachsende Mehrwert sich darstellt, ist von den traditionellen, kleinen Oberschichten, mögen diese auch noch so sehr im Luxus schwelgen, bald schon nicht mehr zu bewältigen. Neue, bürgerliche Konsumentenschichten müssen her, um mit diesem Mehrprodukt fertig zu werden. Und diese müssen mit Geld ausgestattet werden, um ihre konsumtive Rolle erfüllen zu können. Denn im Unterschied zu den traditionellen Konsumenten bringen sie kein allgemeines Wertäquivalent von außerhalb des Marktes, von zu Hause, mit.

Hier ist ein wesentlicher Grund für die Entstehung des neuzeitlichen zentralen Staates mit den von ihm abhängigen, weil direkt oder indirekt von ihm alimentierten Institutionen, Apparaten und Gruppen zu sehen: Die Produktion von Mehrwert in Gestalt von Mehrprodukt hat einen solchen Umfang angenommen, dass die Realisierung dieses Mehrwerts nicht mehr naturwüchsigen gesellschaftlichen Gruppen und ihrer Konsumfähigkeit und Konsumbereitschaft überlassen bleiben kann, sondern dass von Staats wegen die nötigen Konsumentenschichten organisiert und mit Geld dotiert werden müssen. Eine wichtige Aufgabe des Staates ist es fortan, das allgemeine Wertäquivalent, das als Repräsentant des im Zuge der kapitalistischen Lohnarbeitsprozesse jeweils neugeschaffenen Mehrwerts in Warenform nötig ist, zu schöpfen beziehungsweise bereitzustellen und so unter die Leute zu bringen, dass sie per Konsum die Realisierung dieses Mehrwerts besorgen können. Unnötig zu sagen, dass hier zugleich der Ursprung der modernen staatlichen Geld- und Finanzpolitik liegt.

Der Staat gibt das Geld, das er in Umlauf setzt, um den in Warengestalt geschaffenen Mehrwert durch ein entsprechendes Quantum allgemeinen Wertäquivalents repräsentiert sein zu lassen, den neuen Konsumentenschichten nicht unentgeltlich, er verschenkt es nicht an sie. Er gibt es ihnen für Leistungen, die entweder auch vorher schon erbracht wurden, allerdings ehrenamtlich und auf lokaler Ebene, während sie jetzt in staatliche Regie übernommen und honoriert werden, oder die im Rahmen des zentralistischen Staates und seiner veränderten Bedürfnisse neu entstehen beziehungsweise neue Dringlichkeit und Umfänglichkeit gewinnen. Man denke an die Verwaltung, die Rechtspflege, das Militär, später auch die Bildung und den öffentlichen Dienst. Diese Leistungen zeichnen sich allesamt dadurch aus, dass sie mit der materiellen Reproduktion der Gesellschaft direkt nichts zu tun haben, nicht als aktive Beiträge in das System aus mehr und mehr lohnarbeitsbestimmter Produktion und mehr und mehr die Produktion organisierender und kontrollierender Zirkulation, kurz, in das System der marktbezogenen gesellschaftlichen Arbeit, eingebunden sind – selbst wenn sie indirekt und auf Umwegen zur Erhaltung des Marktsystems beitragen mögen, etwa durch die Wahrung eines für die Arbeit nötigen Mindestniveaus an Bildung oder Gesundheit.

Wenn ich sage, dass diese Leistungen kein Beitrag zur materiellen Reproduktion der Gesellschaft sind, dann will ich sie damit nicht etwa für allesamt gesellschaftlich unnütz erklären. Ihre gesellschaftliche Nützlichkeit steht hier überhaupt nicht zur Diskussion. Es geht mir darum, deutlich zu machen, dass unter dem Deckmantel eines kaschierenden Arbeitsleistungs- und Geldentlohnungsmechanismus zwei nach Interesse und Intention ganz verschiedene gesellschaftliche Verhältnisse miteinander verquickt und verschmolzen sind, ein ausbeuterisches Produktionsverhältnis und ein konsumtives Nutznießerverhältnis. Verquickt sind beide, denn einerseits ist zwar das Produktionsverhältnis offenbare Voraussetzung des Nutznießerverhältnisses, weil durch die Produktion überhaupt erst das Mehrprodukt geschaffen wird, das den Nutznießern die konsumtive Teilhabe am Markt ermöglicht, andererseits aber kann auch das Nutznießerverhältnis als Voraussetzung des Produktionsverhältnisses gelten, weil ja die Realisierung des in dem Mehrprodukt steckenden Mehrwerts, das heißt, die erfolgreiche Akkumulation von weiterem Geld in der Funktion potentiellen Kapitals die Bedingung dafür ist, dass Produktion überhaupt stattfindet und die daran geknüpfte, mehr oder minder karge Subsistenz der Produzenten, ihre per Arbeitslohn garantierte Beteiligung an der Nutznießung ihres eigenen Produkts gewährleistet bleibt, kurz, dass das ganze System der auf die Erzeugung von Mehrwert abgestellten, marktorientierten gesellschaftlichen Reproduktion funktioniert.

In der Tat ist mit diesen quasi staatlich angestellten Konsumentengruppen der Ideologenstatus im klassischen marxistischen Sinne überhaupt erst perfekt. Die Ideologen, jene, die von der gesetzten Unmittelbarkeit, der positiven Faktizität der Warenwelt im Besonderen und der durch die Warenwelt mehr und mehr geprägten Erscheinungswelt im Allgemeinen profitieren, die Nutznießer dieses Erscheinungsmodus sind, in dem sich die kapitale Produktion und Aneignung von Mehrwert vollzieht, sind nicht mehr in anderen ökonomischen Reproduktionssystemen verankerte und am Marktsystem peripher partizipierende marginale Gruppen, sondern sind eine ins Marktsystem vollständig integrierte und ganz und gar von ihm abhängige zentrale gesellschaftliche Schicht, der bürgerliche Mittelstand. Das Geld dieser bürgerlichen Konsumentenschicht stammt nicht mehr aus den anderen Wirtschaftszusammenhängen, in denen die früheren herrschaftlichen Konsumenten verankert sind, sondern wird nach Maßgabe der sächlichen Wertschöpfung durch die kapitalisierte Arbeit von Staats wegen systematisch ins System eingespeist und über die Honorierung von nicht oder nur auf Umwegen marktrelevanten Leistungen vornehmlich dieser bürgerlichen Konsumentenschicht zugewendet.

Weil sich die nichtmarktrelevanten Leistungen der bürgerlichen Konsumentenschicht durch die Geldform, in der sie entlohnt werden, in ununterscheidbarer Kontinuität mit den durch Arbeitslohn vergüteten marktrelevanten Leistungen der Produzentenschicht befinden, verleihen sie der bürgerlichen Konsumentenschicht das subjektive Bewusstsein eines begründeten Anrechts auf das gesellschaftliche Mehrprodukt, das sie als solches zu konsumieren und damit als Mehrwert zu realisieren dienen. Und dieses subjektive Bewusstsein des Anrechts wird nun eben deshalb, weil die Konsumentenschicht diese Aufgabe der Mehrwertrealisierung zu erfüllen dient, noch durch ein quasi objektives Legitimationsbewusstsein untermauert. Die bürgerliche Konsumentenschicht realisiert, dass ihr Nutznießertum, ihr materielles Profitieren vom Mehrwerterzeugungs- und –aneignunsmechanismus des Marktes, eine für die Aufrechterhaltung der durch diesen Mechanismus bestimmten gesellschaftlichen Reproduktion wesentliche Bedingung ist. Sie ist kein herrschaftlicher Schmarotzer, der sich das Mehrprodukt aneignet, weil er zufällig über Geld verfügt; sie ist eine integrale gesellschaftliche Gruppe, die planmäßig mit Geld ausgestattet wird, das ihr erlaubt, sich das Mehrprodukt anzueignen, weil sie nichtmarktspezifische, aber als gesellschaftlich wichtig anerkannte Leistungen erbringt und weil sie durch die Aneignung des Mehrprodukts wesentlich zum Bestand des Gemeinwesens und zu dessen Wohlstand, die Subsistenz der Produzentenschichten eingeschlossen, beiträgt. Sie spielt ihre Nutznießerrolle mit dem besten Gewissen der Welt und im Bewusstsein ihrer fraglosen Legitimation, vorausgesetzt nur, sie verhält sich ideologisch, das heißt, geht von der marktgesetzten Unmittelbarkeit und Positivität der Wirklichkeit als von einer unhinterfragbaren Gegebenheit aus und akzeptiert damit auch den hinter der Maske dieser Positivität sich vollziehenden Prozess einer Schöpfung und Aneignung von Mehrwert zu dem einzigen Zweck einer Schöpfung und Aneignung immer neuen Mehrwerts als den stillschweigenden Modus vivendi aller Gesellschaft, als ebenso unverbrüchlichen wie unausgesprochenen gesellschaftlichen Naturzustand.

Aber auch mit der Ausdehnung des Ideologenstatus auf den bürgerlichen Mittelstand und der klassischen Ausprägung, die der Status dadurch erhält, hat es noch nicht sein Bewenden. Das kapitalistische Wertschöpfungsunternehmen auf der Basis von Lohnarbeit, bei dem der bürgerliche Mittelstand als Wertrealisierer konsumkräftig mithilft, geht ja dank des jeweils neugeschaffenen und in neue Produktionsprozesse investierten Mehrwerts unaufhaltsam weiter und sorgt durch die Erweiterung der bereits kapitalisierten Produktion und durch die Ausdehnung auf neue, noch nicht kapitalisierte Produktionsbereiche dafür, dass die Mehrwertmasse beziehungsweise die Masse des Mehrprodukts, als die erstere sich unmittelbar darstellt, immer gigantischer wird. Entsprechend gigantischer und zunehmend unbewältigbarer wird auch die Aufgabe des Konsums dieses Mehrprodukts. Jedenfalls unbewältigbar für den bisherigen Hauptkonsumenten, den bürgerlichen Mittelstand. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, im so genannten Fin de siècle, tritt eine ähnliche Situation ein wie zu Anfang des 18. Jahrhunderts die von Mandeville bezeugte. Die bisherigen Nutznießerschichten sind dem Mehrprodukt und der Aufgabe seiner Realisierung als Mehrwert nicht mehr gewachsen; es müssen neue Gruppen her.

Diese neuen Gruppen rekrutieren sich nun in zunehmendem Maße und in wachsendem Umfang aus der Produzentenklasse selbst. Dass sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die direkte Ausbeutung der Produzenten durch Lohndrückerei und Arbeitszeitverlängerung abschwächt und eine rückläufige Bewegung zu beschreiben beginnt und dass durch Arbeitskampf und gewerkschaftliche beziehungsweise politische Organisation eine Besserung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse der arbeitenden Klasse durchgesetzt wird, hat auch und wesentlich etwas mit der Absatzkrise zu tun, in die das kapitalistische System sich durch das Zugleich von ausbeutungsbedingt geringer Konsumkraft der Produzenten und expansionsbedingt wachsendem Mehrprodukt bringt. Um der Wertrealisierungsprobleme Herr zu werden, schlagen die kapitalistischen Gesellschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwei Wege ein: den Weg einer imperialistischen Expansion zwecks Eroberung neuer Absatzmärkte und den Weg einer Dotierung der arbeitenden Klasse mit einem größeren Anteil der von ihnen produzierten Wertmasse. In beiden Fällen leistet der Staat entscheidende Hilfestellung, im einen Fall durch die militärische und politische Absicherung der Eroberungen, im anderen Fall durch sozial- und finanzpolitische Maßnahmen.

Dass die Produzenten durch Erhöhung ihrer Löhne und durch staatliche Umverteilungen und Unterstützungen einen größeren Teil des von ihnen produzierten Wertes erhalten und damit denn auch über einen größeren Teil des Produkts verfügen können, in dem dieser Wert sich unmittelbar darstellt, macht aus ihnen noch keine Ideologen. Wenn Ideologen diejenigen sind, die von einem gesellschaftlichen Reproduktionssystem profitieren, an dem sie nicht direkt beteiligt sind, dessen Expropriationsmechanismen und expropriative Erscheinungsformen sie aber als naturgegeben affirmieren, eben weil sie darin die Basis ihrer Subsistenz finden, dann sind die Produzenten, die ja an dem Reproduktionssystem nicht nur beteiligt, sondern mehr noch diejenigen sind, zu deren Lasten es funktioniert, nicht bloß deshalb schon Ideologen, weil die Last, die sie tragen müssen, etwas geringer wird. Die Besserstellung der Produzenten im Blick auf den Mehrwert, den sie schaffen, bedeutet nur eine Veränderung der Ausbeutungsproportion, kein neues Nutznießungsverhältnis.

In Richtung auf eine Art Nutznießungsverhältnis und insofern auch eine Art Ideologenstatus werden die Produzenten indes aufgrund einer anderen, mit ihrer Besserstellung Hand in Hand gehenden ökonomischen Entwicklung gedrängt. Ich meine die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die kapitalistische Entwicklung maßgebende Erhöhung der Produktivkraft durch Technisierung der Produktionsprozesse. Damit reagiert nämlich das Kapital auf die allmähliche Besserstellung der Produzenten, die Erhöhung ihres Wertanteils an dem von ihnen geschaffenen Produkt. Die Technisierungstendenz ist in der Trennung der Produzenten von ihren Produktionsmitteln und der Kapitalisierung der letzteren wesentlich und von Anfang angelegt. Aber solange noch die direkte Ausbeutung der Arbeitskraft ungehindert möglich bleibt und das Kapital noch hauptsächlich mit der Eroberung und Umkrempelung der Produktionssphäre und ihrer verschiedenen Bereiche befasst ist, bleibt die Steigerung der Produktivkraft durch Mechanisierung und Automatisierung, die sich als indirekte Form der Ausbeutung darstellt, noch eher ein zwar der Tendenz nach notwendiger, aber dem Verlauf nach zufälliger und unsystematischer Vorgang. Jetzt aber, da das Elend der Produzenten und die Masse an produziertem Mehrprodukt dazu nötigen, die Produzenten stärker am Konsum zu beteiligen und ihnen also durch bessere Löhne und staatliche Zuwendungen mehr von dem Wert, den sie produzieren, zu überlassen, wird für den Markt die Technisierung zu einem systematisch eingesetzten Mittel, eine Verringerung des vom Markt appropriierten Mehrwerts zu verhindern. Dadurch, dass sie mit technischen Mitteln die Produktivität der Arbeitskraft erhöhen, suchen sie die Einbuße an Mehrwert, die die Besserstellung der Produzenten für sie bedeutet, zu kompensieren. Der Produzent bekommt einen höheren Lohn, mehr Wert, als vorher, aber dank der Technisierung erzeugt er nun auch ein größeres Mehrprodukt als vorher und insofern scheint der Mehrwertverlust wettgemacht.

Der Schein allerdings, als sei das vergrößerte Mehrprodukt automatisch gleichbedeutend mit erhöhtem Mehrwert, trügt. Der Wert ist, wie wir seit Marx wissen, Ausdruck und objektivierte Funktion durchschnittlicher Arbeitszeit, und wenn dank erhöhter Produktivkraft die für ein Produkt aufgewendete Arbeitszeit sich verringert, dann verringert sich entsprechend auch der Wert des Produkts. Anders gesagt, wenn die gleiche Arbeitszeit eine größere Produktmenge zeitigt, entfällt ein geringerer Teil des gleichbleibenden Werts auf das einzelne Produkt, und insofern bleibt alles beim Alten. Zwar vorübergehend, wenn die durchschnittliche gesellschaftliche Arbeitszeit für das Produkt noch die alte ist und sich noch nicht am neuen Produktivitätsstand orientiert, kann von dem Kapitalisten, der diesen Produktivitätsstand erreicht hat, das Mehrprodukt auch als Mehrwert realisiert werden und dem Betreffenden einen Akkumulationsvorteil verschaffen. Aber um nicht ins Hintertreffen zu geraten, müssen eben deshalb die anderen Kapitalisten nachziehen und den neuen Produktivitätsstand übernehmen, und indem sie das tun, wird die diesem neuen Stand entsprechende Arbeitszeit zur neuen durchschnittlichen gesellschaftlichen Arbeitszeit, und das Mehrprodukt hört auf, Mehrwert zu bedeuten.

Diese Methode, den größeren Wertanteil, den die Produzenten dank Arbeitskampf und staatlicher Intervention erhalten, durch Erhöhung der Produktivkraft zu kompensieren, taugt mithin zu nichts anderem als zur Entfachung eines Konkurrenzkampfes, dessen einziger Effekt eben die fortwährende Erhöhung der Produktivkraft ist. Und mit dieser fortlaufenden Erhöhung der Produktivkraft sind nun aber zwei gravierende und krisenträchtige Konsequenzen verknüpft, eine ökonomisch-systematische und eine sozial-pragmatische. Die systematische betrifft die so genannte Veränderung in der organischen Zusammensetzung des Kapitals. Die produktivitätssteigernde Technisierung der Produktionsprozesse bedeutet, dass relativ immer mehr Kapital in die Produktionsmittel und die Rohstoffe und immer weniger in die menschliche Arbeitskraft investiert wird, dass mit anderen Worten die Proportion zwischen konstantem und variablem Kapital, zwischen Arbeitsmittel und Arbeitslohn sich immer mehr zugunsten des ersteren verschiebt. Das hat zur Folge, dass zwar der produzierte Mehrwert, das, was nach Abzug der Arbeitslöhne dem Kapitalisten an Produktwert verbleibt, immer größer wird, dass gleichzeitig aber der Profit, das, was nach Abzug aller Produktionskosten, der Löhne und der Aufwendungen für die Arbeitsmittel, dem Kapitalisten von diesem Produktwert als sein Gewinn verbleibt, immer mehr sinkt. Unter dem Motto vom tendenziellen Fall der Profitrate wurde daraus verschiedentlich auf eine der Kapitalentwicklung inhärente Selbstlähmungs- und Selbstvereitelungstendenz geschlossen, eine quasi automatische Tendenz des Kapitals, sich ihres Motivs, des Profits, zunehmend zu berauben und in eine wegen der ständig größeren Diskrepanz zwischen Investitionsaufwand und Ertrag bis zur Versteinerung wachsende Trägheit und Unbeweglichkeit zu verfallen. Zu dieser These von einer der Kapitalentwicklung immanenten Selbstzerstörungstendenz will ich hier nichts weiter sagen. Ich will nur anmerken, dass ich daran nicht glaube, weil ich von der Wirksamkeit rein struktureller, quasilogischer Widersprüche nichts halte. Solange ein Widerspruch bloß strukturell, nur logisch ist, auf das betreffende System selbst, sein inneres Gefüge, beschränkt bleibt, lässt er sich funktionell, empirisch verkraften. Brisant wird ein Widerspruch erst dann, wenn er zu Funktionsstörungen führt, die Wirkungen des betreffenden Systems auf die Außenwelt, auf sein empirisches Milieu betrifft.

Interessanter und einschlägiger für das Problem, mit dem wir ja eigentlich befasst sind, das Problem der Ideologie, des Unmittelbarkeitskultes, scheint mir die zweite Konsequenz aus der Produktivkraftentwicklung durch Technisierung, die ich als sozial-pragmatische Konsequenz bezeichnet habe. Sie ergibt sich daraus, dass die Spirale der Produktivitätsentwicklung zwar letztlich den Wert des Produkts nicht vermehrt, sehr wohl aber die Produktmenge selbst. Je produktivkräftiger die Produktionsprozesse ablaufen, um so mehr Gebrauchsgegenständlichkeit schaffen sie, auf die sich der gleichbleibende produzierte Wert verteilt. Das aber bedeutet, dass auch die Produzenten von dieser produktivitätsbedingten Vermehrung des materiellen Reichtums profitieren, weil sie sich für ihren als Arbeitslohn firmierenden Wertanteil nun mehr Produkt kaufen können als vorher. Durch eine ökonomische Entwicklung, deren Träger sie zwar formell nach wie vor sind, die aber gleichzeitig über ihre Köpfe hinweg verläuft und sie sozusagen nichts angeht, weil das reale Subjekt dieser Entwicklung die ihrer Verfügung entzogenen Produktionsmittel, die als fixes Kapital firmierenden Produktionsapparaturen sind, werden sie, ohne dass sich der Sache nach an ihrem Ausbeutungsverhältnis systematisch etwas änderte, gleichzeitig zu Nutznießern dieser ihrer eigenen Ausbeutung. So werden sie zu Ideologen zweiter Ordnung, zu unwillkürlichen Begünstigten der an sich auf ihre Kosten in kapitalistischer Form organisierten gesellschaftlichen Reproduktion. Zum ersten Mal in der Geschichte ist die Positivität und Unmittelbarkeit, in der die marktgesetzte Realität ihnen entgegentritt, auch für sie nicht bloß negative Bedingung, damit sie an Geld und durch das Geld an Subsistenzmittel herankommen, sondern positiver Mechanismus einer quasi aus dem Nichts der kapitalistischen Produktion hervorgehenden immer umfänglicheren Versorgung mit Konsumgütern. Obwohl sie nach wie vor nicht am Mehrwert partizipieren, entsteht dank der ständig wachsenden Gütermenge, in der sich der produzierte Wert darstellt, auch bei ihnen jener Füllhorneindruck, den vorher höchstens die Nutznießer des produzierten Mehrwerts, die Ideologen im traditionellen Sinne, mit der marktzentrierten, akkumulationsorientierten Wirtschaftsform, die in ihrer modernen Gestalt der Kapitalismus ist, verbanden.

Hinzu kommt, dass die Mehrwertproduktion ja weitergeht, wenn auch nicht in dem durch die Produktivitätsentwicklung suggerierten Tempo, und dass dieser Mehrwert, weil er sich ja ebenfalls in einer produktivitätsbedingt immer größeren Gütermenge darstellt (nicht zuletzt deshalb, weil er mangels anderer Expansionsmöglichkeiten vorzugsweise in die Technisierung und damit in die weitere Erhöhung der Produktivkraft fließt), für seine Realisierung immer mehr Konsumenten braucht. Das hat eine Erweiterung der bereits vorhandenen staatlich dotierten Ideologenschichten um immer neue Gruppen im Bereich der Verwaltung, des Öffentlichen Dienstes, der Medizin, des Sozialwesens und so weiter zur Folge, die dank der gesellschaftlichen Produktivkraft mit ähnlich geringen Wertanteilen, wie die Arbeiter sie bekommen, ein ähnlich auskömmliches Leben führen können. Und so entsteht der Eindruck jener Kontinuität von – egal, ob privatwirtschaftlich oder staatlich – abhängigen Beschäftigungsverhältnissen, von Arbeitnehmerschaft als gesellschaftlicher Grundbefindlichkeit, der seinen Niederschlag in der Rede von der Angestelltengesellschaft gefunden hat.

Das Füllhorn, als das sich die kapitalistische Wirtschaft für breite Schichten erweist, hat allerdings einen großen Haken. Es beinhaltet nicht nur die Möglichkeit des Konsums, sondern auch die Verpflichtung dazu. Soll der produzierte Wert, der sich in der rasch wachsenden Gütermenge versteckt, als solcher realisiert werden und damit denn auch jener Teil des Wertes seine Einlösung finden, der als Mehrwert das für das Kapital maßgebende Motiv der ganzen gesellschaftlichen Reproduktion ist, so muss die Gesamtheit der Gütermenge an den Mann und die Frau gebracht, zwecks Konsum verkauft werden. Gelingt diese Realisierung und Einlösung nicht, verliert das Kapital sein Motiv, und die gesellschaftliche Reproduktion gerät ins Stocken beziehungsweise droht, stillzustehen. Wegen des produktivitätsbedingt raschen Wachstums der Gütermenge erweist sich die konsumtive Einlösung des Wertes der Waren aber als immer schwieriger. Anders gesagt, das System beweist eine zunehmende Tendenz zur Überproduktion und zu daraus resultierenden Absatzproblemen, die als Ursache der heutigen chronischen Wirtschaftskrise manifest sind und die vielleicht schon früher im Jahrhundert voll manifest geworden wären, hätten nicht die beiden Weltkriege für Aufschub gesorgt.

Mit Bemühungen, der Absatzprobleme Herr zu werden, ist das Kapital jedenfalls schon das ganze Jahrhundert hindurch zugange. Im Wesentlichen stehen ihm dazu drei Wege offen. Erstens kann es versuchen, den imperialistischen Weg weiterzugehen und seine Absatzmärkte in die Dritte Welt hinein auszudehnen. Dieser Strategie sind aber durch die wie immer unvollkommenen politischen Autonomisierungstendenzen der Dritten Welt und vor allem dadurch Grenzen gesetzt, dass die Ausplünderung der Dritten Welt durch die kapitalistischen Länder im Rahmen des Austauschverhältnisses zwischen Rohstoffen und Industriegütern der ersteren gar nicht genug Kaufkraft lässt, um ihr eine ernsthafte Entlastungsfunktion im Blick auf die Überproduktion der kapitalistischen Länder zu erlauben. Zweitens kann das Kapital jenen Weg beschreiten, den Begriffe wie "Innovation" und Bedarfsschöpfung" bezeichnen. Das heißt, es kann durch die Schaffung immer neuer Bedürfnisse und die Produktion immer neuer Befriedigungsmittel versuchen, neue Absatzmöglichkeiten zu schaffen. Aber zum einen geht das wiederum zu Lasten bereits vorhandener Formen und Mittel der Bedürfnisbefriedigung und bedeutet also auch immer ökonomische Verluste, und zum anderen stellt sich dank des hohen Produktivitätsniveaus, auf dem diese neuen Sparten jeweils anfangen, das Überproduktionsphänomen rasch und in ständig erweiterter Form wieder ein.

Während diese beiden Wege zur Bewältigung der Absatzprobleme noch eher aggressiv orientiert, auf eine Erweiterung des Marktes gerichtet sind, ist der dritte Weg, der Weg der Rationalisierung, schon rein defensiv, auf einen marktinternen Positionskampf und Verdrängungswettbewerb abgestellt. Auf diesem dritten Weg geht es um eine Senkung der Produktionskosten entweder durch eine Erhöhung der Produktivität der Arbeit bei gleichbleibender Lohnsumme oder aber durch eine Einsparung von Lohnkosten bei gleichbleibender Produktivität der Arbeit. Ziel ist dabei indes nicht mehr die Erhöhung des Mehrwerts, sondern die Senkung der Preise und damit die Verbesserung der Absatzchancen für das eigene Produkt im Verhältnis zu den Produkten der Konkurrenten. Das heißt, der Kapitalist begnügt sich im Zweifelsfall mit der alten Gewinnspanne und gibt den relativen Mehrwert, den er durch Rationalisierung erzielt, daran, um die Ware absatzfähiger zu machen.

Wie das 19. Jahrhundert das Zeitalter einer Erhöhung der Produktivität durch Technisierung ist, so ist das 20. Jahrhundert das Zeitalter einer Erhöhung der Produktivität durch Rationalisierung. Der Übergang von der Technisierung zur Rationalisierung bedeutet dabei nicht etwa einen Wechsel in den Mitteln und in der Methode der kapitalistischen Akkumulation, sondern bloß eine Veränderung ihrer Frontstellung und Stoßrichtung. Die fortschreitende Technisierung und Automatisierung bleibt ein zentraler Aspekt auch der Rationalisierung. Aber während sie vorher noch in der Hauptsache der Erhöhung des Mehrwerts diente und also ein Mittel im Kampf mit den lohnabhängigen Produzenten um den jeweiligen Anteil am produzierten Wert war, dient sie im Rahmen der Rationalisierung nurmehr der Realisierung des Mehrwerts und ist insofern bloß noch ein Mittel im Kampf mit den kapitalistischen Konkurrenten um die Erhaltung der unter Überproduktionsbedingungen gefährdeten eigenen Marktposition. Die Erhöhung des Mehrwerts durch produktivitätssteigernde Technisierung erwies sich als Illusion; das einzige, was sich vermehrte, war letztlich die den Wert verkörpernde Produktmenge, und das ermöglichte einerseits eine Hebung des Konsumniveaus auf breiter Front und schuf andererseits aber auch bald schon die als Absatzprobleme erscheinenden Probleme bei der Realisierung des in den Produkten verkörperten Werts. Der Lösung dieses Wertrealisierungsproblems dient die Rationalisierung; aber auch diese Lösungsstrategie erweist sich als illusionär. Zwar dem einzelnen Kapitalisten mag es gelingen, kurzfristig oder auch auf längere Zeit den Kopf aus der Schlinge seiner Absatzprobleme zu ziehen, wenn er dank Rationalisierung seine Produkte verbilligen und konkurrenzfähiger machen kann. Aufs Ganze gesehen indes verschärft die Rationalisierung die Absatzprobleme nur immer weiter. Entweder nämlich die Rationalisierung vergrößert bei gleichbleibenden Lohnkosten die Produktivität, um das vermehrte Produkt billiger verkaufen zu können: dann sorgt sie für eine Vermehrung der Gesamtwarenmenge auf dem Markt und vergrößert entsprechend die Absatzprobleme. Oder aber sie vermindert bei gleichbleibender Produktivität die Lohnkosten; dann ist das gleichbedeutend mit Entlassungen (Freisetzung von Arbeitskräften, sagt man heute) und das heißt, mit einer Verkleinerung beziehungsweise ökonomischen Schwächung des Kreises derer, die durch ihren Konsum für die Wertrealisierung sorgen sollen. So oder so wirtschaftet sich das kapitalistische System dank seines Zwanges, die ganze gesellschaftliche Reproduktion an die Schaffung von Mehrwert zu knüpfen, immer tiefer in die Sackgasse hinein.

Wie tief sie bereits darinsteckt, zeigt die gegenwärtige Dauerkrise. Einerseits schwatzt die sieche, an ihrer Überfülle kränkelnde Wirtschaft zwar nach wie vor von Innovation und Expansion des Exports, und greift nach wie vor unverdrossen auf das Instrument der Rationalisierung zurück, andererseits aber bläst sie – und das ist eine entschieden neue Qualität in der Entwicklung – immer unverhohlener zum Sturm auf die politischen Rahmenbedingungen des wirtschaftlichen Geschehens – und tut das mit Unterstützung nicht zuletzt der Politik selbst. Unter Berufung auf die Notwendigkeit, den "Wirtschaftsstandort Deutschland zu erhalten" und "die Arbeitsplätze zu sichern" plädiert sie für eine direkte Verbilligung der Arbeit durch Lohnsenkungen und durch die Befreiung des Arbeitsmarktes von gesetzlichen Restriktionen sowie für eine indirekte Verbilligung der Produktion durch den Abbau staatlicher Belastungen der Wirtschaft. Kurz, sie tritt für einen politischen Abbau sozialstaatlicher Strukturen ein.

Was erhofft sie sich davon? So, wie die Dinge liegen, das gleiche wie von ihren innerökonomischen Rationalisierungsmaßnahmen: die Möglichkeit, ihre Produkte billiger auf den Markt zu bringen und damit in einer Situation des Überangebots von Produkten ihre Konkurrenzfähigkeit zu stärken. Aber was hilft ihr das, wenn sie gleichzeitig durch diese politisch durchgesetzte Senkung der Lohnkosten, das heißt, Senkung des der Arbeit zufallenden Wertanteils, die Kaufkraft im Lande schwächt und die Produzenten in ihrer Funktion als Konsumenten angreift? Einen Sinn gewinnt diese Strategie nur, wenn man die Sache im internationalen Maßstab betrachtet und erkennt, dass die Situation bereits so verfahren ist, dass die Kapitalisten anfangen, das per Rationalisierung praktizierte "Rette sich wer kann" eines Konkurrenzkampfes zwischen einzelnen durch die Bildung von gewohnheitsmäßig an nationalen Grenzen orientierten volkswirtschaftlichen Solidargemeinschaften zu ergänzen beziehungsweise zu ersetzen. Die Rede von der zu teuren Arbeit und die Forderung nach einer Verbesserung des Wirtschaftsstandorts durch Verbilligung der Arbeitskraft hat einen Sinn nur als Ausdruck des Versuchs, das Überangebot im eigenen Lande ohne Schmälerung oder gar Verlust des Mehrwerts, der in ihm steckt, so zu verbilligen, dass es bei den ausländischen Handelspartnern absetzbar und damit in seinem Wert auf Kosten der ausländischen Konkurrenz realisierbar wird. Dass man damit den Konsumentenkreis im eigenen Land verkleinert oder schwächt, erscheint angesichts der Größe der ausländischen Märkte, auf denen man auf diese Weise reüssiert, als das eindeutig kleinere Übel.

Hinzu kommt, dass die billige Arbeit im eigenen Land ausländisches Kapital anzieht und dazu ermuntert, Produktionskapazitäten ins Land zu verlagern, so dass also auch mit der Aussicht auf neue Arbeitsplätze gewunken werden kann. Was das deutsche Kapital schon längst tut, nämlich Produktion in andere Länder mit niedrigem Lohnniveau und geringer Sozialstaatlichkeit zu verlagern, das macht natürlich auch das ausländische Kapital mit Deutschland, wenn letzteres bereit ist, sich auf politischem Wege in ein Billiglohnland zu verwandeln.

Aber wohlgemerkt, der einzige Sinn dieser Senkung der Löhne und Zurücknahme sozialer Leistungen besteht im Kampf der einzelnen industriegesellschaftlichen Volkswirtschaften um Anteile an einem übersättigten Weltmarkt. Und weil dieser Kampf wesentlich in der Weise geführt wird, dass man in der Hoffnung auf die Mobilisierung von Konsumkraft in anderen Ländern die Konsumkraft im eigenen Land schwächt, kann er, selbst wenn er kurzfristig für die eine oder andere Volkswirtschaft Entlastung bringt, langfristig auch nur dazu führen, dass, aufs Gesamtsystem der konkurrierenden Volkswirtschaften gesehen, die Absatzprobleme zunehmen. Wo die kapitalakkumulative Mehrwertproduktion conditio sine qua non jeder gesellschaftlichen Reproduktion ist und wo der produzierte Wert sich aus den genannten Gründen in einer relativ immer größeren Produktmenge darstellt, muss sich der Konsum zwangsläufig als die Achillesferse des Systems herausstellen und muss es zwangsläufig zu irrenlogischen Konsequenzen wie der geschilderten kommen, dass die einzelnen Volkswirtschaften zur Sicherung ihres Wohlstandes oder vielmehr zur Sicherung des kapitalen Akkumulationsprozesses, an dem ihr Wohlstand hängt, eben diesen Wohlstand Schritt für Schritt demontieren müssen.

Wie reagieren die primären und sekundären Nutznießer dieser an sich selbst erstickenden Mehrwertproduktion, wie reagieren wir, die Ideologen, auf diese verfahrene Situation. Da gibt es eine rechtsorientierte und eine linksorientierte Reaktion. Die rechtsorientierte läuft auf eine Unterstützung der Politik eines Sozialabbaus zwecks Verbesserung des "Wirtschaftsstandorts" hinaus. Sie findet sich bei denen, die vom Abbau nicht betroffen sind und die vom internationalen Konkurrenzkampf mit seinem ständigen Unterbieten der Preisniveaus für ihren Lebensstandard höchstens profitieren. Diese Reaktion ist logisch. Unlogischer und interessanter ist die linksorientierte Reaktion. Sie gründet in der vornehmlich für die sekundären Ideologen charakteristischen Sicht vom kapitalistischen System als einem quasi aus eigener, produktivitätsgesättigter Kraft Wohlstand schaffenden Produktionsautomaten und in der fest verwurzelten Überzeugung, dass der einzige Weg zur Teilhabe an diesem Wohlstand in gesellschaftlich nützlicher Arbeit und der für diese Leistungen zum Wohle der Gesellschaft gewährten monetären Entlohnung besteht. Durchaus im Einklang mit der Tatsache, dass die an der Produktion mitwirkenden und die vom Mehrprodukt zehrenden "Werktätigen" praktisch ununterscheidbar geworden und in einem übergreifenden Angestellten- oder "Arbeitnehmer"-Status zusammengeschlossen sind, erscheinen im öffentlichen Bewusstsein Arbeit und Wertproduktion voneinander abgekoppelt. Die Warenproduktion stellt sich als ein vom Kapital, von der "Wirtschaft", ebenso automatisch wie höchstpersönlich exekutierter Prozess dar, während die gesellschaftliche Arbeit nurmehr als der gesellschaftlich sanktionierte Weg gilt, sich einen in allgemeinem Äquivalent, in Geld, bestehenden Anspruch auf die produzierten Waren zu sichern.

Dieses Bewusstsein von der Arbeit als einer nicht zwar mehr für die Produktion grundlegenden, wohl aber für den Konsum des Produzierten maßgebenden Voraussetzung findet seinen Niederschlag in der Rede vom "Arbeitsplätze schaffen" und vollends in der griffigen Formulierung des Oberdemagogen von der SPD, wenn er vorschlägt "statt der Arbeitslosigkeit Arbeitsplätze zu finanzieren". Hier ist die Arbeit zynisch als die Belastung ausgesprochen, zu der sie für das kapitalistische System mittlerweile geworden ist. Es werden nämlich keine "Arbeitsplätze" gebraucht, sie sind überflüssig. Arbeitsplätze in der Produktion werden nicht gebraucht, da ja die Absatzprobleme ohnehin schon groß genug sind. Arbeitsplätze in den Bereichen nichtproduktiver, "sozialer" Leistungen würden zwar gebraucht, würden aber durch ihre Finanzierung direkt oder indirekt die Produktionskosten erhöhen und verbieten sich deshalb in einer Situation des internationalen Konkurrenzkampfes, bei dem es allein darum geht, wer am preisgünstigsten produziert und deshalb sein Produkt auf Kosten der anderen absetzen kann.

Am realistischsten sind die linken Ideologen vielleicht noch da, wo sie eine Umverteilung der Vermögen beziehungsweise der Arbeit fordern. Durch eine Umverteilung von Vermögen auf die vom System benachteiligten oder halbwegs ausgeschlossenen Gruppen ließe sich in der Tat der Konsum ankurbeln und dadurch die Absatzkrise mildern. Und durch eine Aufteilung von Arbeit ohne Erhöhung der Lohnkosten ließe sich in der Tat die Arbeitslosigkeit verringern und damit dann wiederum durch Ankurbelung des Konsums die Absatzkrise mildern. Aber abgesehen von der Frage der Realisierungschancen, die solche Eingriffe hätten, würden sie nicht das mindeste an dem entscheidenden Übel ändern – dem Übel nämlich, dass im kapitalistischen System die gesellschaftliche Reproduktion nur statthat, wenn sie der Produktion von Mehrwert zwecks Produktion von weiterem Mehrwert dient, und dass also die Versorgung der Menschen mit Bedürfnisbefriedigungsmitteln eine abhängige Funktion und ein bloßes Vehikel der Versorgung des Kapitals mit Kapital ist, anders gesagt, der Versorgung des Kapitals mit dem, was es braucht, um die Versorgung der Menschen mit Bedürfnisbefriedigungsmitteln in immer quantitativ umfassenderer und qualitativ vielfältigerer Form in den Dienst seiner eigenen, stets erweiterten Reproduktion zu stellen. In der krisenhaften Entwicklung, die das heraufbeschwört, indem es die am Versorgungssystem Beteiligten zwingt, sich immer umfassender versorgen zu lassen oder andernfalls gar nicht versorgt zu werden, und schließlich in dem Maß, wie sie dessen, womit sie im Übermaß versorgt werden, nicht mehr Herr werden, einer Reduktion ihrer Versorgung zuzustimmen, damit die Versorgungsgüter anderen zu Dumpingpreisen angedreht werden können und die Beteiligten selbst wenigstens ihr erniedrigtes Versorgungsniveau halten können – in einer solchen krisenhaften Entwicklung hätten jene Umverteilungen höchstens aufschiebende Wirkung.

Nimmt man diese Reaktionen speziell der linken Ideologen, so kann man mit Fug und Recht sagen, dass Ideologie in unserer Gesellschaft zu einem allgemeinen Bewusstseinsschicksal geworden ist. Wegen des beispiellosen Konsumtionsniveaus, das das als Mehrwertproduktion organisierte gesellschaftliche Reproduktionssystem aufgrund der dabei entfesselten ungeheuren Produktivität ermöglicht, ist dieses System offenbar nicht mehr in seiner Grundstruktur in Frage zu stellen, selbst dort nicht, wo es Miene macht, sich durch seinen eigenen Erfolg ad absurdum zu führen und nämlich die Realisierung des Mehrwerts durch die Steigerung des Mehrprodukts zu vereiteln: Das einzige, was wir, die Ideologen, die aufs Erscheinungswissen vereidigten Beteiligten, noch können, ist, das in seinen Selbstwiderspruch verstrickte, desorientierte kapitalistische System, den großen ebenso steuerlosen wie verselbständigten Bedürfnisbefriedigungsapparat, als ein seiner selbst mächtiges Subjekt hochzuhalten und zur Erfüllung der von ihm mit Rücksicht auf uns übernommenen Versorgungspflichten zu mahnen. Indem wir das System unserer Arbeits- und Leistungsbereitschaft versichern, meinen wir, ihm die Erfüllung seines Versorgungsversprechens abverlangen zu können. Nur übersehen wir dabei, dass es ein und dieselbe, als Naturbedingung gesellschaftlicher Reproduktion akzeptierte Mechanik, die Mehrwertproduktion, ist, die bis dahin für die immer bessere Versorgung Sorge trug und die jetzt in der Konsequenz ihres eigenen Wirkens umgekehrt zum entscheidenden Hindernis solcher Versorgung zu werden droht.

Fußnoten

... Ideologie? 1
Dieser Vortrag wurde 1997 im Rahmen der Rote-Ruhr-Uni in Bochum gehalten und 1998 im Heft 25 der Bahamas abgedruckt.
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