Der Ideologiekritiker Adorno und seine Grenzen7
Adorno steht in einer Reflexionstradition, die die politisch-ökonomische Karriere des Bürgertums seit Beginn des 17. Jahrhunderts begleitet und kommentiert und deren ebenso zentrale wie kontinuierliche Frage die nach den Bedingungen der Möglichkeit (später den Gründen für die Unmöglichkeit) von Erfahrung ist. Ausgelöst und in Gang gehalten wird diese Gretchenfrage neuzeitlich-bürgerlicher Philosophie von dem für die Karriere der bürgerlichen Klasse maßgebenden neuen ökonomischen Prinzip einer durch warenförmige Wertbildung und marktmäßige Wertrealisierung systematisch vermittelten gesellschaftlichen Reproduktion und durch die fundamentale Umwertung beziehungsweise Neuorientierung, der dieses Prinzip den traditionellen Lebens- und Erfahrungszusammenhang der europäischen Gesellschaften unterwirft. Mit ihrer Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung thematisiert jene Tradition bürgerlicher Selbstreflexion das historische Problem der Vereinbarkeit beziehungsweise Vermittelbarkeit des neuen Wertbildungs- und Wertakkumulationsprinzips mit der gewohnten Erfahrungswelt und ihren Bestimmungen und Intentionen. Die anthropologisch verallgemeinerte Form, in der die erfahrungstheoretische Fragestellung sich präsentiert, ist dabei direkter Ausdruck der systematischen, ihre eigenen historischen Entstehungsbedingungen in sich aufhebenden Totalität, zu der das neue Prinzip sich entfaltet – einer Totalität, die in dem Maß geschichtsnegierende Züge annimmt, wie sie nicht bloß die Bedingungen ihres historischen Entstehens, sondern auch und mehr noch die Momente ihres historischen Fortschreitens in sich zurückzunehmen und in Faktoren ihres eigenen Bestehens umzufunktionieren tendiert.Die Ausbildung und Entwicklung dieser erfahrungstheoretischen Fragestellung, die auf den gesellschaftlichen Wahrnehmungszusammenhang unter Bedingungen der Wertbildung reflektiert, korrespondiert unschwer erkennbar der Entfaltung und Durchsetzung des Wertprinzips selbst. Sie führt von der Erkenntnistheorie des 17. und 18. Jahrhunderts über die allen Wertbezug der Erfahrung ignorierenden beziehungsweise dementierenden Ideologiebildungen des 19. Jahrhunderts bis hin zu den für das 20. Jahrhundert charakteristischen subjektphilosophischen Versuchen, der nach Maßgabe ihrer Ideologisierung "wertlos" gewordenen Erfahrung durch ihre ontologisch-phänomenologische Existentialisierung zu einem neuen Wert sui generis zu verhelfen. In rührender, weil noch gar nicht auf der Höhe der Wertabstraktion sich bewegender Weise sucht bereits Bacon den einheitlichen Gesichtspunkt und den durchgängigen Anspruch des Wertbildungs- und Wertakkumulationsinteresses des aufkommenden Bürgertums dadurch in der Erfahrung zur Geltung zu bringen, dass er diese dem neuen Identitätskriterium gesellschaftlicher Nützlichkeit unterwirft und mit der nicht minder neuen Forderung nach systematischem Zusammenhang konfrontiert. Was bei Bacon noch in der missverständlichen Äußerlichkeit einer auf Opera abgestellten neuen inventorischen Fruchtbarkeit und einer zum Organon ausgeführten neuen klassifikatorischen Verbindlichkeit der Erfahrung erscheint, ist bei Kant zur inneren Formbestimmung und zum epistemologischen Transzendental von Erfahrung geworden. Transzendentale Einheit und systematische Bestimmtheit, Objektivität und Kategorialität sind die beiden Grunderfordernisse, denen jedwede Erfahrung, die diesen Namen verdient, genügen muss. Als apperzeptionelle Einheit stiftender und kategoriale Bestimmtheit gewährleistender Reflexionspunkt erscheint bei Kant das Wertprinzip als ein Konstitutiv, ohne das objektive und verbindliche Erfahrung gar nicht mehr denkbar beziehungsweise dazu verurteilt ist, zu einem Sammelsurium ebenso privativer wie dissoziierter Erscheinungen zu verkommen.
Bringt der Kantische Objektivitätsbegriff zum Ausdruck, wie sehr Ende des 18. Jahrhunderts die Erfahrung der natürlichen und gesellschaftlichen Erscheinungen vom Wertprinzip durchdrungen und wie weit also der Triumph der Waren- oder Wertform als verbindlicher Erscheinungsform schon gediehen ist, so muss der kurz darauf, nämlich gleich eingangs des 19. Jahrhunderts, einsetzende Erscheinungspositivismus oder Kult der unmittelbaren Erfahrung auf den ersten Blick überraschen. So, als hätte es Kant und seinen die Wertform als allgemeingültiges Konstitutiv aller Erfahrung realisierenden Transzendentalismus nie gegeben, propagieren die frühen Ideologen des 19. Jahrhunderts, deren Programm ein Comte systematisch entfaltet und ein Feuerbach journalistisch propagiert, den fait positif, die voraussetzungslose, gegebene Sinneserscheinung und die in dieser Sinneserscheinung gründende, unmittelbar induktive, unmetaphysisch empiristische Erfahrung.
Der Grund für diesen Sinneswandel der Erfahrungstheoretiker, für diese ihre Abkehr vom Wertprinzip als konstitutiver oder vielmehr produktiver Bedingung aller Erfahrung ist die politisch-ökonomische, in einer Umwälzung der ganzen Gesellschaft resultierende Karriere, die das Wertprinzip mittlerweile gemacht hat. Diese Karriere des Wertprinzips verdankt sich im wesentlichen einer Übertragung der den gesellschaftlichen Reichtum bestimmenden Wertform auf die diesen Reichtum produzierende gesellschaftliche Arbeit selbst, genauer gesagt, der Ausdehnung des Geltungsbereichs der Wertform von den als Warensammlung sich darstellenden Produkten menschlicher Arbeit auf die dadurch selber zur Ware werdende menschliche Arbeitskraft. Durch diese Expansion der Wertform, die sich (zumindest in den westeuropäischen Ländern) im 18. Jahrhundert vollzieht und die in eben dem Maß, wie sie die Arbeit auf industrielle Lohnarbeit, auf ein Moment der sich reproduzierenden Wertform reduziert, die Wertform selbst als Kapital, als sich verwertenden Wert, realisiert, wird manifest und direkt greifbar, was vorher nur erst latent und indirekt spürbar war: dass nämlich der ökonomische Wertbildungs- und Wertakkumulationsprozess in Wahrheit ein soziales Expropriations- und Ausbeutungsverfahren ist. Das heißt, es wird manifest, dass die gesellschaftsweite Etablierung und Durchsetzung des Wertprinzips gleichbedeutend ist mit der Deklassierung und Pauperisierung breiter Bevölkerungsschichten und mit der galoppierenden Verwandlung des Gemeinwesens in eine "divided nation" (Ripalda), eine Zweiklassengesellschaft.
Unter dem Eindruck dieser gravierenden sozialen Folgen der Karriere des Wertprinzips, deren politische Implikationen und historische Sprengkraft erstmals in der Französischen Revolution erkennbar werden, wechselt die bürgerliche Erfahrungstheorie quasi über Nacht die Couleur, tritt von ihrem Amt als Propagator der Wertform in der Rolle einer verbindlichen Erfahrungsnorm zurück und kreiert den Kult der durch keinen Transzendentalismus präjudizierten, unmittelbaren Empirie. Sie wird, mit anderen Worten, zur Ideologie, zu jenem "Erscheinungswissen", das mit der ganzen Emphase einer antimetaphysischen Säuberungs- und Befreiungsaktion eine Gruppe von napoleonischen Wissenschaftlern, die sich selber als idéologues bezeichnen, haargenau zu Anfang des 19. Jahrhunderts verpflichtend für alles folgende bürgerliche Denken zum Programm erheben und das als erster Marx in seinem wesentlich pejorativen Charakter, seinem Verstand als Scheinwissen, aufdeckt. Scheinwissen ist, wie Marx erkennt, das Erscheinungswissen der Ideologen nicht einfach nur deshalb, weil es sich in einem dezidierten Ab- und Wegsehen von eben der Wertform verdankt, die die Erfahrungstheorie vorher selber als transzendentalen Bezugspunkt aller Erscheinungen propagiert und die sich mittlerweile als deren realer Bestimmungsgrund durchgesetzt hat. Scheinwissen ist das Erscheinungswissen mehr und schlimmer noch deshalb, weil dieses sein Absehen von der Wertform in Wahrheit nichts als die blanke Imitation des abstraktiven Vollzugsmodus ist, den in ihrer neuen, entwickelt kapitalistischen Gestalt eines Bestimmungsgrunds der Erscheinungen die Wertform selber praktiziert. So sehr nämlich die Wertform in der Tat von einem bloß transzendental verfügten Bezugspunkt der Erscheinungen zu deren vielmehr real verfügendem Bestimmungsgrund avanciert ist, so wenig macht sie doch aber Miene, sich als dieser Bestimmungsgrund der Erscheinungen auch hervorzutun. Weit entfernt davon, sich in den durch sie gesetzten Erscheinungen als der Bestimmungsgrund festzuhalten, bringt die als Arbeitslohn, als variables Kapital, fungierende Wertform sich in den letzteren, kaum dass sie sie gesetzt hat, unvermittelt wieder zum Verschwinden und überlässt sie der als Wertfindung scheinbar unveränderten, in Wahrheit aber nunmehr zur Zwangsläufigkeit einer Wertrealisierung erhobenen Prozedur des Marktmechanismus. Indem die durch die Lohnarbeit erzeugten Erscheinungen auf den Markt treten, haben sie jede Relation zu der als ihr Grund firmierenden "produktiven" Wertform, dem Arbeitslohn, abgelegt und behaupten sich in der undurchdringlich fetischistischen Sinnenfälligkeit voraussetzungsloser Gegebenheiten, fix und fertiger Waren.
Politisch-ökonomischer Zweck der die moderne Welt der Erscheinungen, die Warenwelt, auszeichnenden abstraktiven Unmittelbarkeit ist die Camouflage der Ausbeutung, die mittels dieser "produktiven" Wertform, die den Grund der Erscheinungen bildet, vor sich geht. Unmittelbar ist diese "produktive" Wertform ja als die Äquivalentform der Ware Arbeitskraft bestimmt; sie jetzt als den Grund der durch die Arbeitskraft erzeugten "ungeheuren Warensammlung", der Welt der modernen Erscheinungen, zu realisieren und festzuhalten, hieße, jener mysteriösen mehrwertträchtigen Metamorphose inne zu werden, die aus dem Wert der die Erscheinungen setzenden Arbeitskraft plötzlich den Wert der in den Erscheinungen gesetzten Arbeit werden lässt und die in der Tat der Springpunkt aller Expropriation und Ausbeutung ist. Dies zu verschleiern, dass in der kapitalistischen Moderne alle Erscheinungen nur Erscheinungen einer mittels Lohnarbeit durchgesetzten Expropriation gesellschaftlicher Arbeit im Interesse der Kapitalakkumulation oder Selbstverwertung des Werts ist – das genau bezweckt die falsche Unmittelbarkeit oder abstrakte Konkretheit, in der die realiter als ein bloßes Durchgangsmoment fest in den kapitalen Selbstverwertungsprozess eingebundenen Erscheinungen phänomenaliter sich vielmehr präsentieren.
Die dem Anschein nach durch epochal-theoretische Abstraktion von der Wertform gewonnene falsche Unmittelbarkeit, in der die Ideologie der Ideologen die Erscheinungen wahrnimmt, ist also in Wahrheit Ausdruck der real-praktischen Abstraktheit, in der der industriekapitalistisch avancierte Wertbildungsprozess die Erscheinungen setzt, um ihren ökonomischen Bestimmungsgrund, die in der Wertform als Arbeitslohn kodifizierte Anhäufung von Kapital durch Ausbeutung von Arbeit, in und hinter ihnen zum Verschwinden zu bringen. So wahr sich die Ideologie aber darauf beschränkt, die durch den kapitalen Ausbeutungsmechanismus abstraktiv erzeugte Scheinkonkretheit oder falsche Unmittelbarkeit der Erscheinungen bloß theoretisch zu affirmieren, so wahr erweist sie ihre Komplizenschaft mit der kapitalen Ausbeutungspraxis selbst. Ihre Propagatoren geben sich als Vertreter einer Schicht zu erkennen, die selber von der Ausbeutungspraxis nicht betroffen, an ihren Früchten hingegen durch direkte oder indirekte Zuwendungen von Wertäquivalent, Geld, und durch die Wertrealisierungsfunktion auf dem Markt, die ihnen damit zufällt, beteiligt sind. Als primäre Nutznießer oder Konsumenten der Gebrauchsgegenständlichkeit jener warenförmigen Erscheinungen, die der kapitale Verwertungsprozess objektiv zu einem bloßen Durchgangsmoment seiner selbst degradiert, sind die Ideologen auch und vor allem bereit, die Verschleierungsfunktion zu akzeptieren, die kraft falscher Unmittelbarkeit jene Erscheinungen mit Rücksicht auf den Ausbeutungscharakter des kapitalen Verwertungsprozesses erfüllen. Politisch entspricht dieser ideologischen Bereitschaft der Intellektuellen des 19. Jahrhunderts, die Erscheinungen als positiv falsche Unmittelbarkeit gelten zu lassen, ihnen nicht erfahrungstheoretisch auf den gesellschaftlichen Grund zu gehen, der Rückzug aus den öffentlichen Geschäften und deren Überweisung an einen wieder erstarkten, nicht in bürgerlicher Repräsentanz aufgehenden und in direkter Korrespondenz mit dem Kapital operierenden Staat; kulturell findet sie ihren Ausdruck in der Beschränkung auf Ästhetik, Psychologie, Lebensreform und so weiter.
Wie verbindlich für die aufs "Erscheinungswissen" reduzierte Erfahrungstheorie des 19. Jahrhunderts diese ideologische Beschränkung auf eine Welt grundlos positiver Erscheinungen ist, macht nicht zuletzt der scheinprogressive Nachdruck deutlich, mit der sie jeder Form von traditioneller Metaphysik oder religiöser Spekulation eine Absage erteilt. Weil jede erscheinungstranszendent metaphysische Wesenslehre oder theologische Frage nach letzten Dingen, mag sie auch noch so sehr von der Tradition diktiert sein, unter den gegebenen politisch-ökonomischen Umständen dazu verurteilt ist, zum – mit Marx zu reden, "Reflex und Echo" der einen, hinter allen Erscheinungen verborgenen kapitalen Grundbestimmung zu geraten, unterwirft die Ideologie sie derselben Tabuisierung wie die Wahrnehmung der letzteren selbst. Soweit Metaphysik unter dem Druck dieses antimetaphysischen Affekts der Ideologie nicht zur symptomatischen Spinnerei à la Schreber verkommt, verwandelt sie sich, wie an Schopenhauer und Nietzsche deutlich wird, in eine beredte Fehlanzeige ihrer selbst, in eine Theorie der Wesen- und Grundlosigkeit aller Erscheinungen; wobei der einzige Unterschied zwischen Schopenhauer und Nietzsche darin besteht, dass der erstere aus jener Fehlanzeige eine ebenso individualistisch wie moralistisch weltverneinende Konsequenz zieht, während der letztere aus der erkenntnistheoretischen Not eine klassenkämpferische Tugend macht und die wesenlosen Erscheinungen zum Markenzeichen einer neuen, zwischen Hedonismus und Heroismus, egoistischer Maßlosigkeit und artistischer Bodenlosigkeit changierenden Konsumaristokratie erklärt.
Es ist das auszeichnende Charakteristikum des in der Tradition der Marxschen Ideologiekritik stehenden Theodor Adorno, dass er diese von den bürgerlichen Ideologen aller Schattierungen getragene Übereinkunft, den Erscheinungen um keinen Preis auf ihren politisch-ökonomischen Grund zu gehen, nicht akzeptiert, dass er diese bürgerliche Strategie eines sogar um den Preis, die Erscheinungen für wesenlos erklären zu müssen, im Namen phänomenaler Positivität und Unmittelbarkeit aufrechterhaltenen Tabus durchbricht. Unermüdlich widmet er sich der Aufgabe, die Unmittelbarkeit, die die Ideologen für ein unhinterfragbar Gegebenes erklären, als falsch zu entlarven und nämlich als gesetzt und bestimmt durch jene den Erscheinungen vielmehr zugrunde liegende "produktive" Wertform Kapital, die, weil sie die Erscheinungen zum Spring- und Umschlagspunkt ihrer den Produzenten der Erscheinungen, die gesellschaftliche Arbeit, betreffenden Expropriationsstrategie zweckentfremdet, allen Grund hat, sich hinter dem Erscheinungscharakter der Erscheinungen zu verbergen. Unbeirrt bemüht sich Adorno, gegen den Schein fetischistischer Positivität, dem die bürgerlichen Theoretiker des "Erscheinungswissens" eilfertig aufsitzen, jene dynamisch-negative Grundverfasstheit der Erscheinungswelt herauszuarbeiten, die aus ihr ein symptomatisches Gebilde macht, einen Zusammenhang, der Zwecken dient, die er uno actu dieser seiner Dienstbarkeit ebenso wohl zu verschleiern bestimmt ist. Rückt dieses Bemühen, die phänomenale Unmittelbarkeit der Moderne als im Sinne einer dynamischen Grundverschleierungsbeziehung symptomatologisch falsch zu erweisen, die Adornosche Ideologiekritik in die Nähe des psychoanalytischen Unternehmens Freuds, so wahrt Adorno doch aber der Psychoanalyse gegenüber lebenslang Distanz, weil er sie zu Recht im Verdacht hat, bei aller Einsicht in die formalen Funktionen jener Grundverschleierungsbeziehung einen wesentlich historisch-gesellschaftlichen Prozess in der ebenso entschärften wie entstellten Form eines kulturanthropologisch-psychologischen Mechanismus zu realisieren.
Die primäre Aufgabe seiner ideologiekritischen Aufklärungsarbeit sieht demnach Adorno darin, die Erscheinungen der Moderne mit ihrer negativen Grundverfasstheit zu konfrontieren, um so die Unmittelbarkeit, in der sie erscheinen, als objektiv falsch, als Schein, zu entlarven. Was diese Aufklärungsabsicht indes zunehmend in Schwierigkeiten bringt, ist die Tatsache, dass im Zuge des 20. Jahrhunderts die Erscheinungen selbst und von sich aus dazu tendieren, die Maske jener als falsch zu entlarvenden Unmittelbarkeit überhaupt abzulegen, jenen Scheincharakter, den es als solchen aufzudecken gälte, kurzerhand fallenzulassen. So gewiss nämlich zwar die moderne Welt der Erscheinungen der systematisch ausgemachten Absicht entspringt, ihre als kapitale Wertform perennierende Grundbestimmung hinter ihrer phänomenalen Fassade zu verleugnen und zum Verschwinden zu bringen, so gewiss unterliegt sie zugleich aber auch der historisch fortschreitenden Tendenz, die verleugnete Grundbestimmung an der phänomenalen Fassade nachträglich doch wieder sich manifestieren und reale Geltung gewinnen zu lassen – eine Tendenz, die ich an anderer Stelle8 versucht habe, dadurch zu charakterisieren, dass ich von einer "sekundären Durchdringung der Erscheinungen mit der Wertform" gesprochen habe. Im Zuge dieser Durchdringungstendenz, deren Haupttriebfedern Rationalisierung und Reklame, die systematische Überführung von qualitativen Nutzungsfunktionen in quantitative Verwertungsfaktoren und die Einbeziehung der Gebrauchswertrücksicht ins Kalkül der Wertrealisierungsabsicht, sind, hören die Erscheinungen auf, sich in der alten, alle Wertform strikt ausschließenden Unmittelbarkeit zu behaupten und kehren stattdessen eine mit Kapitalgesichtspunkten durchaus vereinbare Physiognomie hervor, präsentieren sich im Amphibolismus einer aus gebrauchsgegenständlichen Erscheinungsmomenten und wertfaktorellen Wesenszügen durchgängig vermittelten Existenz. In einer Art schleichender Revision des Erscheinungscharakters der Erscheinungen verschränkt sich ihre gebrauchsgegenständliche Unmittelbarkeit mit wertförmiger Bedeutung, so dass sie in phänomenaler Unauflöslichkeit beides sind: Endstation für das Sinneswesen Mensch und Durchgangsmoment für die Selbstverwertung des Werts, Gebrauchsding und Kapitalsymbol. An die Stelle des "Ganzen des Scheins", das laut Hegel die Erscheinung ist, tritt jene Totalität der Verblendung, die nach Adorno Ausdruck der nachträglichen, zynisch affirmativen Vermittlung des Scheins mit eben dem ist, was ihn zum Schein macht.
Basis für die Durchsetzung dieser reklameförmig falschen Vermitteltheit der Erscheinungen ist die ungeheure Arbeitsproduktivität, die die zur Grundbestimmung, zum (variablen) Kapital, gewordene Wertform entfaltet und die ihr erlaubt, alle oder jedenfalls die meisten an ihrer Selbstverwertung Beteiligten, die Ausgebeuteten ebenso wie die Nutznießer, im Normalfall mit einem Überfluss an gebrauchsgegenständlichen Erscheinungen, relativem Wohlstand, zu dotieren. Unter dem Eindruck dieses durchschlagend ökonomischen Erfolgs der kapitalen Verwertung, dieser mehr oder minder alle einbegreifenden konsumgesellschaftlichen Situation und Perspektive, ist die Gesellschaft als ganze bereit, die in der Wertform als Grund der Erscheinungen, in der kapitalen Verwertung, beschlossene Ausbeutungs- und Expropriationspraxis als in der Erscheinungswelt reklameförmig offen zur Schau sich tragende Grundbedingung aller gesellschaftlichen Reproduktion gelten zu lassen. Sie ist, mit anderen Worten, bereit, jenem in den falsch vermittelten Erscheinungen offenbaren Zynismus zu huldigen, der sich gefallen lässt, dass die Versorgung des Sinneswesens Mensch mit Lebensgütern zur abhängigen Funktion und in der Tat zum Abfallprodukt einer kraft Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft ins schlecht Unendliche fortschreitenden Versorgung des Kapitals mit Mehrwert wird – ein Zynismus, den Adorno zum konsumgesellschaftlich allgemeinen Schicksal geworden sieht und den er zum Verblendungszusammenhang erklärt.
Dass diese reklametechnisch sich durchsetzende falsche Vermitteltheit des falsch Unmittelbaren, diese Aufhebung des Scheins der Erscheinungen zum affirmativen Vorweis und positiven Manifest ihres negativen Grunds den Ideologiekritiker Adorno herausfordern muss, liegt auf der Hand. Tatsächlich tut sie aber mehr als das: Sie verändert sein Verhältnis zur falschen Unmittelbarkeit selbst, zum Schein der Erscheinungen als solchem. Angesichts der sich als allgemeines Bewusstseinsschicksal entwickelnden zynischen Rationalität einer Haltung, die die Erscheinungen in die Länge und Breite ihres gebrauchsgegenständlichen Scheins offen als Mittel zum reklamierten Zweck der Kapitalakkumulation weiß und goutiert, fasst Adorno eben jenen unmittelbaren Erscheinungscharakter der Erscheinungen, ihren gebrauchsgegenständlichen Schein, als ein erhaltenswertes, vor seiner Aufhebung zum Kapitalsymbol bewahrenswertes Phänomen ins Auge. Eben derselbe Schein, der, bezogen auf den dahinter sich verbergenden kapitalen Grund, zur ideologiekritischen Entlarvungsarbeit nötigt, motiviert sub specie seiner sekundären Durchdringung und Inanspruchnahme durch jenen kapitalen Grund zur phänomenologischen Rettungsaktion. Eben der Schein, der mit Rücksicht auf die kapitale Rationalität, die ihn als solchen setzt und sich hinter ihm verbirgt, als ideologisch, unwahr, erscheint und der Kritik verfällt, gewinnt unter dem Eindruck seiner sekundären Identifizierung und Vereinnahmung durch jene kapitale Rationalität plötzlich die Bedeutung des vom Verschwinden bedrohten Sperrigen, Differenten, Nicht-Identischen und dringt auf Erhaltung.
Auf den ersten Blick könnte dieses auf die Erscheinungen gerichtete Zugleich von Aufklärungsabsicht und Rettungsbemühung ein durch Ambivalenz verschuldeter Bruch mit der ursprünglich eindeutigen und ausschließlichen Aufklärungsabsicht Adornos scheinen. Tatsächlich aber ist das phänomenologische Rettungsmotiv in der phänomenalen Aufklärungsarbeit Adornos von Anfang an vorhanden. Wenn Adorno die Erscheinungen durch Aufdeckung ihrer negativen Grundverfasstheit derart unnachsichtig als Schein entlarvt, mit ihrer falschen Unmittelbarkeit derart entschieden ins Gericht geht, dann nicht aus einer Position intellektueller Gleichgültigkeit heraus, sondern im Gegenteil, weil er an der Unmittelbarkeit nur allzu sehr hängt, für die Schönheiten des Scheins nur allzu empfänglich ist und deshalb das Unauthentische der Unmittelbarkeit als existentielle Kränkung, die Heteronomie, die den schönen Schein zum bloßen Schein werden lässt, als persönliche Herausforderung erfährt. Adorno ist ganz und gar ein Kind des 19. Jahrhunderts und seines emphatisch positiven Erscheinungsbegriffs, und was ihn von seinesgleichen, den bürgerlichen Ideologen, unterscheidet, ist nur dies, dass bei ihm intellektuelle Ehrlichkeit der Neigung zum ästhetischen Positivismus Paroli bietet und sich mit letzterer zur selbstverleugnenden Tugend einer idiosynkratischen Wahrheitsliebe verbindet. Wie sehr aber emotionale Basis dieser idiosynkratischen Wahrheitsliebe die Lust an der kritisierten unmittelbaren Erscheinung ist und bleibt, wird eben dort deutlich, wo die Unmittelbarkeit der kraft Rationalisierung und Reklame durchgesetzten falschen Kapitalvermitteltheit weicht und wo Adorno, statt dies als die hegelische Figur einer bloßen Konsequenz aus der prinzipiellen Falschheit der Unmittelbarkeit, eines einfachen Zugrundegehens des Scheins in sich selbst, zu akzeptieren, sich vielmehr als der Denker der Differenz, des Nicht-Identischen, zum Sachwalter des Zugrundegehenden macht.
Diese geheime Lust am Erscheinungskult des 19. Jahrhunderts ist es schließlich auch, die Adornos erstaunlich nachsichtiges, um nicht zu sagen anteilnehmendes Verhältnis zur Phänomenologie eines Husserl und Heidegger bestimmt. Weil er die von der Phänomenologie bekundete Sorge um die Erscheinung teilt, gesteht er dem phänomenologischen Bemühen um eine ontologische Neubestimmung der Erscheinungen, ihren antipsychologisch-neumetaphysischen Versuchen, den Erscheinungen auf den ihnen eigenen, sie als solche tragenden Grund zu kommen, die Qualität eines philosophisch ernstzunehmenden, der akademischen Auseinandersetzung würdigen Rettungsversuchs zu. Zwar, dass es die positive Grundlegung, die von der Phänomenologie angestrebt wird, nicht geben könne, daran lässt der Ideologiekritiker mit seinem Bewusstsein von der fundamental negativen Verfasstheit der Erscheinungen, ihrer Verfallenheit an die Wertform als Grundbestimmung, keinen Zweifel. Insofern bleibt er auch unerschütterlicher Kritiker eines Husserl oder Heidegger. Aber weil er selber von der Frage einer möglichen Rettung der Erscheinungen präokkupiert ist, thematisiert er das Tun der Phänomenologie nur im Blick auf sein lächerliches Scheitern und nicht unter dem Gesichtspunkt seines fürchterlichen Gelingens. Das heißt, er übersieht oder unterschätzt, wie sehr die Phänomenologie mit ihrem Grundlegungsunternehmen in Wahrheit darauf aus ist, einen aktiven, theoretisch-ideologischen Beitrag zur Rettung der Grundbestimmung Wertform zu leisten, wie sehr sie (in ihrer Heideggerschen Form, die die Husserlsche epochale Intention allererst auf ihren Begriff bringt beziehungsweise in die richtige Bahn lenkt) ein der politisch-ökonomischen Krise jener Grundbestimmung entsprungenes Vorhaben ist, die bedrohte Herrschaft der letztern durch Rekurs auf einen tieferen, mächtigeren, seinshaltigeren Grund der Erscheinungen, einen Grund, der jene Grundbestimmung, um die es geht, unter dem Deckmantel ihrer Ersetzung zu umschließen und zu bergen vermag, zu konsolidieren. Dass diese theoretisch-ideologische Bemühung der Phänomenologie ihr genaues praktisch-politisches Gegenstück im Faschismus mit seiner "Neubegründung" der kapitalen Wertproduktion durch Rekurs auf eine nationale Seinsmacht und völkische Schicksalsgemeinschaft hat, erübrigt sich fast anzumerken. Wenn Adorno über diese "positive" ideologische Bedeutung der Phänomenologie hinwegsieht, so, wie gesagt, deshalb, weil er selber mit dem phänomenalen Schein präokkupiert ist, den als den in negativer Verfasstheit grundlos schönen Schein des 19. Jahrhunderts er in dem Maß retten möchte, wie dieser dem in positiver Gesetztheit haltlos funktionalen Glamour der Reklame weicht.
Fußnoten
- ... Grenzen 7
- Beitrag zu einer Adorno-Tagung, die 1989 in Berlin stattfand. Abgedruckt in Das unerhört Moderne, hrsg. von F. Hager und H. Pfütze, zu Klampen Verlag, Lüneburg 1990.
- ... Stelle 8
- Siehe in diesem Band den Aufsatz über Falsches Bewusstsein und Verdinglichung, S. 45