Zur Denkfigur der Natur und Über die Natur der Denkfiguren6

Folgt man der Einladung zu dieser Festschrift, so erwarten ihre Initiatoren Beiträge, die sich "an einer der zentralen Denkfiguren Klaus Heinrichs orientieren". Tut mir leid, meine Herren, aber Denkfiguren habe ich bei meinem Lehrer in Dahlem keine gelernt; wenn ich etwas bei ihm gelernt habe, dann ihre Demontage. "Danke, meine Herren", möchte ich, einen anderen meiner Lehrer paraphrasierend, sagen, "in Figuren denke ich nicht; sie könnten am Ende nur Zirkel sein." Wenn ich denn Kapriolen schlagen soll, so nach dem – einem dritten meiner Lehrer gedankten – Motto "Hier ist die Rose, hier tanze" und nicht nach der vom Akademismus höchstpersönlich geprägten Devise "Hier sind Figuren, hier denke". Oh, ihr Strukturalisten im Paul-Tillich-Vlies!

Wie gesagt, nicht Figuren zu denken, sondern sie kaputtzudenken, glaube ich, vor Ort in Dahlem gelernt zu haben. Machen wir die Probe aufs Exempel des Gelernten. Und machen wir sie gleich an den von den Initiatoren als Titel ins Zentrum gerückten Lukrezischen foedera naturai, einer in Dahlem beliebten Denkfigur, mit dem eingebauten Summton des archaisierenden Genitivs, um diskret darauf hinzuweisen, dass der große humanistische Faible für die philosophische Weisheit der Alten erst durch die kleine idiosynkratische Schwäche für das philologische Alter der Weisheit so richtig schön wird und Stil beweist. Foedera naturae – Naturverträge, Bündnisse mit der Natur – was für eine schöne Figur! Um nach dem sarkastischen Kierkegaard auch den sokratischen Heinrich zu paraphrasieren: "Natur ist schön, Vertrag ist schön, wie schön muss erst Natur mit Vertrag sein?" Mag sein; aber wer oder was ist eigentlich diese "Natur", qui est cette dame? Und warum braucht's Verträge in ihr, Bündnisse mit ihr, wozu der Aufwand? Oder polemischer gefragt, um aller immanentinterpretativen oder phänomenologischen Aufklärung vorzubeugen: Was bedeutet die Lukrezische Natur gesellschaftlich, und welchen Sinn haben Verträge mit ihr?

Natur im Lukrezischen Verstand ist ein Geschenk der fortuna, ihr Besitz und Genuss ein Privileg der vom Glück Begünstigten. Natur um sich herum sieht, wer die Subsistenzarbeit nicht selber tut, sondern von Sklaven verrichten lässt; Natur sagt, wem die Güter dieser Welt ein selbstverständlich Gegebenes und quasi spontan sich Gebendes sind. Natur, kurz, ist Inbegriff der kontemplativ-hedonistischen Anschauung und rezeptiv-epikuräischen Aneignung, die der patrizische Besitzbürger praktiziert. Dass der Besitzbürger diese aus Kontemplation und Appropriation, Betrachtung und Genuss gemischte Haltung einnehmen, Natur als ein Gegebenes vorfinden, als ein sich Gebendes aufnehmen kann, schreibt der Epikur-Schüler Lukrez in einer denkwürdigen naturgeschichtlichen Uminterpretation sozialgeschichtlicher Vorgänge dem Phänomen der declinatio, einer zufälligen Abweichung der Atome von dem ihnen eingeschriebenen fatum des freien Falls zu. Indem die fatal unendliche, parallele Sturzbahn der Atome von ungefähr eine Deklination erfährt, kreuzen sich die Teilchen, stoßen aufeinander, kommen in Berührung, vereinigen sich, verdichten sich, verfestigen sich zu materialen Gebilden, festen Konstellationen, ruhenden Zuständen. Diese dem Lauf des atomaren Schicksals zeitweilig entronnenen ruhenden Zustände, stehenden Bilder sind die Natur, die der Besitzbürger sein eigen nennt und als Objekt gleichermaßen seiner Betrachtung und seiner Begierde mit Beschlag belegt. Was Lukrez im Naturbegriff festhält und feiert, ist die Stillstellung der sozialgeschichtlichen Entwicklung im spätantiken bürgerlichen Eigentumsverhältnis. Natur ist die den zivilen Grundeigentümern Roms als Genussmaterie zur Verfügung gestellte Konkursmasse "deklinierter", in ihrem Fortgang unterbrochener Sozialgeschichte. Eine Konkursmasse, die bei aller Zufälligkeit ihres Zustandekommens, bei aller Unberechenbarkeit ihres Bestehens offenbar genug Haltbarkeit beweist und genug Dauerhaftigkeit verspricht, um Geschichte, die Wiederaufnahme des in genrebildlicher Unmittelbarkeit erstarrten historischen Prozesses, das Wiederflüssigwerden der eigentümlich verfestigten Konstellationen, zu einem ebenso marginalen wie entfremdeten Faktor und ebenso unwahrscheinlichen wie unabweislichen Ereignis, kurz, zum unbestimmt-heteronomen Fatum Lukrezischer Lesart werden zu lassen. Geschichte gilt dieser Lesart als die in ihrer absoluten Äußerlichkeit ohnmächtige Schicksalsmacht, der die gesellschaftlichen Naturverhältnisse ebenso materialiter entronnen scheinen, wie sie ihr formaliter unterworfen bleiben.

Natur also ist Inbegriff der zum materialen Eigentum geronnenen sozialen Stellung ziviler Grundbesitzer, denen der historische Prozess, für dessen Stillstand sie einstehen, höchstens noch als ebenso äußerliche wie ferne Schicksalsmacht vor Augen tritt, als Fatum, vor dem sie, die von der Fortuna Begünstigten, sich zwar in genere hüten, nicht aber in specie fürchten müssen. Warum aber, wenn sie sich ihrer Sache, ihres Eigentums, ihrer Natur derart sicher sein können, braucht es dann eigentlich noch Bundesschlüsse, Verträge? Gegen welche Gefahr müssen die hedonistischen Naturbeschauer und –genießer ihren Besitzstand noch eigens vertraglich absichern? Das, wogegen die foedera naturae aufgeboten werden, ist die Bedrohung, die immer mit der Stillstellung des Sozialprozesses verknüpft, stets der Preis ausgeschlossener Geschichte ist. Das, was die foedera naturae zu bannen gedacht sind, ist ein Schrecken, der nicht der Natur von außen droht, sondern der in ihr selbst lauert, ist Grauen, das nicht ein äußerer Untergang, sondern das innere Vergehen, nicht ein heteronomes Fatum, sondern der autogene Tod erregt. Vom historischen Prozess als unbestimmt fernem Fatum dispensiert, nimmt der Naturbesitzer das ihm Gegebene und sich Gebende mit der ganzen Empfänglichkeit ungeteilter Zuwendung auf, mit der ganzen Intensität libidinöser Zuneigung wahr. Weil er nichts als die zum festen Besitz deklinierte Natur mehr vor sich hat, keine historische Aussicht ihn von der Betrachtung der letzteren mehr ablenkt, keine soziale Rücksicht ihn von ihrem Genuss mehr trennt, richtet er seine ganze Intentionalität mit zur Fixierung geratender Hingabe auf sie, wendet er mit fetischistischer Rückhaltlosigkeit sein ganzes Interesse ihr zu. Er besetzt Natur, überdeterminiert sie, lässt sie zum Fluchtpunkt seiner verlorenen historischen Perspektive werden, zum Medium seines in die Form des Privatisierens zurückgenommenen sozialen Lebens. Als Zielpunkt einer auf den Fleck gebannten Bewegung, Sollen einer ums Haben zentrierten Motion, ist Natur materia, Mutterstoff, Stoff, aus dem die Regressionsfiguren par excellence, die Mütter, gemacht sind: Figuren eines historische Entwicklung ausschließenden Strebens nach Verwirklichung, eines empirische Veränderung tabuierenden Wunschs nach Erfüllung. Wie die Erotisierung aller Beziehungen, die Überfrachtung aller Verhältnisse mit entmischt seelischer Energie das Kennzeichen dieses Materialismus ist, so ist seine Schutzheilige und Patronin die Venus – jene Naturgöttin, die den seiner intentionalen Bestimmung beraubten, entmischten Affekt als libidinöse Besetzung neu zu mischen lehrt, die das von allen gesellschaftlichen Projekten entbundene, leerlaufende Privatinteresse an Sinnesobjekte neu zu binden, zu fixieren erlaubt. Inbegriff seiner eigenen erotisierten Bindung an und Einlassung in die Natur, ist dem Lukrezischen Materialisten seine Göttin, die Venus, zugleich die verkörperte Bindekraft in der Natur selbst, der zur Allerhalterin personifizierte Naturzusammenhang als solcher.

Keine noch so große Bindekraft der Natur aber feit gegen natürliche Auflösung, keine noch so venerische Snythesis schützt vor Zerstörung, bewahrt vor Verfall, sichert gegen Vergänglichkeit. Und eben diese Vergänglichkeit, diese natürliche Auflösung gerät nun aber dem libidinös an Natur gebundenen, naturkultlich fixierten, lukrezischen Hedonisten, dem Materialisten mit Besitztitel, zum Skandal aller Skandale, zum Schrecken schlechthin. Was einem mit historischen Absichten Befassten, in gesellschaftlichen Projekten Engagierten einzig und allein anspornendes, weil seiner Tätigkeit äußere Schranken setzendes carpe diem sein könnte, das wird dem an Natur als fetischistisches Ersatzobjekt Gefesselten, an Natur als alibihaftes Erotikum Fixierten zum durch und durch lähmenden, weil seine Existenz mit innerer Entwirklichung bedrohenden memento mori. Dieser naturalen Selbstwiderlegung eben des Naturalismus, der ihm Bestand verleiht, dieser materialen Selbstentwertung eben des Materialismus, der ihm Genuss garantiert, gelten die geheimsten Ängste des hedonistischen Naturalisten, die schreckensvollsten Todesphantasien des Materialisten mit Besitztitel. Er, der sich mit der überdeterminierten Emphase seiner fehlenden historischen Orientierung und gesellschaftlichen Intention in die Natur libidinös hineingemischt, im Mutterstoff venerisch eingenistet hat, erfährt jeden unvermeidlich natürlichen Verfall als unerträglich persönlichen Verlust, jedes der vorfindlichen Objektivität widerfahrende Unheil als sein eigenes Wohlbefinden bedrohende Unbill. Das heißt, es wollen dem regressiv an Natur Fixierten, dem fetischistisch an Objekte Gefesselten natürlicher Verfall und objektives Unglück als speziell gegen ihn sich richtende willkürliche Zerstörung und partout gegen ihn inszenierte aggressive Straftat erscheinen. So wahr der geschichtslose Eigentümer und asoziale Liebhaber der Natur deren Auflösung als gezielten Angriff und persönliche Kränkung empfindet, so wahr erfährt er sie als Ausdruck der Willkür personaler Naturmächte, Beweis für das aggressive Wirken neidischer Götter. Mit dieser Vorstellung eines von fremder Hand willkürlich-aggressiven Eingriffs in den Naturzusammenhang, einer durch dämonische Mächte heteronom-destruktiven Störung des Naturverlaufs findet sich der lukrezische Hedonist ironischerweise als das Opfer eben der Zufallskategorie wieder, als deren Nutznießer er zuvor sich doch weiß und die ihm als gegen das Fatum zitierte Fortuna zu seinem Gut und Eigentum, der Natur, überhaupt erst verhilft. Wie der Zufall es ist, der in der Form unwillkürlich erscheinender Abweichungen der Atome von ihrer schicksalhaft vorgezeichneten Bahn Natur konfiguriert und dem lukrezischen Materialisten als seine venerische Anschauungs- und Genussmaterie, seinen regressiv überdeterminierten Mutterstoff zur Verfügung stellt, so ist es nun aber auch der Zufall, der in Gestalt willkürlich anmutender innerer Eingriffe in die natürlichen Konfigurationen das sinnreich stehende Bild zu destruieren droht und mit allem Anschein persönlicher Feindseligkeit dem lukrezischen Materialisten seine geliebte Anschauung stört und seinen gewohnten Genuss verdirbt. Und wie also der Materialist mit Besitztitel den Zufall einerseits als Natur konstituierende günstige Göttin Fortuna und vom Fatum entbindende declinatio kennen und schätzen lernt, so lernt er ihn nun aber auch andererseits als Natur destruierende, verhängnisvoll göttliche Missgunst und mit dem Tode bedrohende disruptio sehen und fürchten.

Was bleibt dem lukrezischen Hedonisten in dieser Lage zu tun? Wie kann er die Krise, in die ihn die Situation stürzt, bewältigen, wie mit der Angst, die sie ihm macht, fertig werden? Was ihm bleibt und was er denn auch unternimmt, ist eine Kombination aus Selbstaufklärung und Selbstdisziplinierung, ist der Versuch, gegen die eigene entmischte Triebangst und fetischistische Panik die Erkenntnis der keineswegs persönlichen Natur des ihm begegnenden Naturverfalls zur Geltung zu bringen, die Einsicht in die alles andere als subjektive Motivation des ihn betreffenden Objektverlusts durchzusetzen. Indem er die Vorstellung von einer Intervention ominös fremder Mächte für Blendwerk, den Glauben an ein Einwirken numinös neidischer Götter für Aberglauben erklärt, sucht er das, was ihm als ein das Ganze in Frage stellendes Debakel, eine jede Kontinuität sprengende Kalamität erscheinen möchte, eben dem Ganzen als einen durchaus in seinem Rahmen sich haltenden bloßen Aspekt zu revindizieren, eben der Kontinuität als ein mit ihr ganz und gar kompatibles bloßes Moment zu redintegrieren. Gegen die eigene paranoische Verzweiflung und abergläubische Panik, die ihm den Verfall in der Natur, die Vergänglichkeit der Dinge, als das Werk einer das Naturganze untergrabenden quasi-moralisch bösartigen Rachsucht und den Zusammenhang der Dinge zerreißenden pseudo-juridisch willkürlichen Verfolgungswut vorstellen möchte, beschwört der lukrezische Hedonist eben dies Naturganze als Kosmos, der den Verfall als wesentlich natürlichen Aspekt ebenso funktionell überwindet wie strukturell einschließt, setzt er eben diesen Zusammenhang der Dinge als Organismus, der die Vergänglichkeit ebenso existential beglaubigt wie prozessual bewältigt. Gegen den Schein der vielen intervenierenden Mächte beruft er sich auf die Seinsmacht der einen perennierenden Venus, gegen die Einbildung einer den Naturzusammenhang durchgeisternden, unberechenbar subjektiven Negativität besteht er auf der Objektivität und Haltbarkeit des Naturzusammenhangs selbst, der, was er im einzelnen preisgibt und in specie negiert, doch aber im ganzen bewahrt und in genere reaffirmiert. Foedera naturae heißt die aufklärerische Devise, unter der der lukrezische Materialist, sich gegen den eigenen panischen Gespensterglauben und abergläubischen Kleinmut verwahrend, die Beständigkeit und relative Berechenbarkeit des Naturprozesses, die Zuverlässigkeit und objektive Verbindlichkeit des Naturzusammenhangs beschwört.

Mehr allerdings als die Bindekraft der Materie beschwören und gegen die eigene Geisterseherei sich verwahren kann er nicht. In der Tat hat mit Aufklärung überhaupt die Lukrezische Belehrung und Selbstbelehrung diese konstitutionelle Schwäche gemein, dass sie intellektuelle Einsicht gegen reale Blindheit ausspielen, interessierte Erkenntnis gegen ein erkenntnisunfähiges Interesse geltend machen muss. Schließlich ist der Aberglaube, gegen den Lukrez zu Felde zieht, notwendiger Ausdruck seiner überdeterminierten Fixierung an Natur als eigentümlichen Geschichtsersatz, ist die Panik, die er bekämpft, zwangsläufige Konsequenz seiner fetischistischen Bindung an Natur als privatives Vergesellschaftungsmedium. Weil er die fehlende historische Perspektive und das mangelnde soziale Engagement durch ein libidinös aufgeladenes Verhältnis zur Natur, eine erotisierte Bindung an den Mutterstoff kompensiert, lässt ihn jede Erfahrung natürlicher Vergängnis und stofflicher Zerstörung zwangsläufig immer neu dem Aberglauben und der Gespensterfurcht einer auf ihn persönlich gemünzten göttlichen Rachsucht und ihn als Subjekt betreffenden dämonischen Verschwörung verfallen. Er kämpft begriffstheoretisch mit Gespenstern, die er durch seine Lebenspraxis selber fortlaufend provoziert, rennt gegen ein falsches Bewusstsein an, hinter dem er zugleich mit seiner ganzen Existenz steht. Wie sollte da seiner Selbstaufklärung ein mehr als zeitweiliger Erfolg beschieden sein, seine Selbstdisziplinierung ihm mehr als vorübergehende Beruhigung verschaffen können?

Soviel zu dem, was foedera naturae und Lukrezische Aufklärung uns im Besonderen lehren können! Hat die Geschichte aber auch noch ein allgemeines "Lehrgut", eine Moral? Sie hat deren gleich zwei. Sie lehrt uns erstens, dass Verträge, Bündnisse, allemal im Verdacht stehen, gegen die Geschichte und auf Kosten der Gesellschaft geschlossene Stillhalteabkommen derer zu sein, die vom Status quo profitieren, mithin Beschwörungen eines Friedens zu sein, der wert ist, gebrochen zu werden, Verlässlichkeitsbeteuerungen, die dazu da sind, von der Geschichte widerlegt und von der Gesellschaft ad absurdum geführt zu werden. Und sie gibt uns zweitens die heuristische Vermutung ein, dass Denkfiguren per definitionem Kapriolen sind, die jemand schlägt, der auf den Fleck gebannt ist, Kreise sind, die ein Denken zieht, das in den Brunnen des Seins gefallen ist. Das mag als Ergebnis nicht allzu viel scheinen; aber in unseren zwischen Hedonismus und Panik hin und her gerissenen, zwischen krudem Materialismus und krasser Geisterseherei haltlos changierenden Zeiten ist es auch nicht nichts. Bei Lukrez und allen Dahlemer Philosophen.

Fußnoten

... Denkfiguren 6
Beitrag zu einer Festschrift für den Berliner Philosophen Klaus Heinrich, die 1989 unter dem Titel Foedera Naturai bei Königshausen & Neumann, Würzburg, erschien.
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