Verlogene Wahrheit und fanatische Nüchternheit Oder Der geisteswissenschaftliche Komplex des 19. Jahrhunderts und seine Revision durch Max Weber alias Martin Heidegger4

Was macht Weber zu solch einem, mit dem Sockel, auf dem er hockt, förmlich verwachsenen Säulenheiligen für die Sozialwissenschaften des 20. Jahrhunderts? Was lässt eine akademische Generation nach der anderen mit sei's linksliberal kritischer Bewunderung, sei's rechtsliberal rückhaltloser Verehrung auf ihn als auf den Gralshüter oder Siegelbewahrer der qua Logik der Sozialwissenschaften innersten Geheimnisse der Disziplin rekurrieren? Die Antwort darauf scheint nicht schwer zu geben: Max Weber hat seinen Nachfahren im Geiste wissenschaftlicher Modernität gezeigt und zeigt ihnen immer aufs neue, wie sich gesellschaftliche Erkenntnis aus einer Kritik der politischen Ökonomie, einer Erforschung der für die Entstehung gesellschaftlicher Verhältnisse grundlegenden ökonomischen Kräfte und politischen Konflikte, zu einer Reflexion über soziale Institutionen, einer Analyse der für den Bestand gesellschaftlicher Verhältnisse maßgebenden psychologischen Motive und soziologischen Charaktere, kurzschließen lässt, wie sich also ökonomische Ätiologie oder Entstehungsgeschichte in soziologische Charakterologie oder Konstitutionslehre transformieren, die historisch-genetische Frage nach den materialen Ursachen für die Herstellung gesellschaftlicher Verhältnisse in das typologisch-systematische Interesse an den formalen Bedingungen für die Aufrechterhaltung dieser gesellschaftlichen Verhältnisse umzentrieren lässt. Er zeigt ihnen, mit anderen Worten, wie man angesichts einer widersprüchlich verfassten und konflikthaft bestimmten Gesellschaft den Blick von den realen Gründen und objektiven Mechanismen, die schuld sind an solcher Widersprüchlichkeit und Konflikthaftigkeit, abwendet, um das Augenmerk stattdessen auf die sozialen Institutionen und subjektiven Dispositionen zu richten, die verantwortlich dafür sind, dass sub specie solcher Widersprüchlichkeit und sub conditione solcher Konflikthaftigkeit Gesellschaft dennoch möglich ist. An dieser, aller Soziologie zugrunde liegenden, rosstäuscherhaften Umzentrierung des Erkenntnisinteresses besteht unter bürgerlichen Intellektuellen, die sich durch ihre theoretische Tätigkeit nicht in ein Verhältnis irreparabler Entfremdung vom eigenen klassenmäßigen Standpunkt und irreversibler Entzweiung mit der eigenen sozialen Funktion hineintreiben lassen wollen, ein unerschöpflicher Bedarf, und insofern ist es nur zu verständlich, dass ein Max Weber Dauerkonjunktur hat. Indes teilt Max Weber dieses bleibende epistemologische Verdienst, das er sich um die Erhaltung der Sichselbstgleichheit bürgerlicher Intellektualität erwirbt, mit anderen Zunftgenossen seiner Zeit, und für eine Erklärung der Sonderstellung, die er unter den diversen Simmels, Durkheims und Mannheims einnimmt, reicht dieses Verdienst deshalb nicht aus. Was ihn unter all jenen weisen Lehrern der Bourgeoisie zum Säulenheiligen, unter all jenen guten Geistern des bürgerlichen Verstands zum spiritus rector macht, ist nicht die epistemologische Umzentrierungsarbeit, die er neben anderen vollbringt, sondern die historiologische Neuorientierungsparole, die er stellvertretend für die anderen an einem entscheidenden Krisenpunkt der Entwicklung der Humanwissenschaft ausgibt – eine Parole, die ihre deutlichste und paradigmatischste Formulierung in seinem im Winter 1918/19, am Ende des Ersten Weltkrieges also, gehaltenen programmatischen Vortrag mit dem Titel "Wissenschaft als Beruf" gefunden hat.

Was ist das für eine Krise, in der und angesichts derer Max Weber zur Neuorientierung aufruft? Die Humanwissenschaften, so wie der neuere Universitätsbetrieb sie unter dem traditionellen Titel der Geisteswissenschaften zusammenfasst und vielmehr allererst entfaltet, sind im wesentlichen eine Errungenschaft des 19. Jahrhunderts und beanspruchen in ihrer grosso modo die zweite Hälfte eben jenes Jahrhunderts umfassenden Blütezeit tatsächlich so etwas wie eine an die frühere ideologische Vorrangstellung der Theologie gemahnende Rolle im Wissenschaftsbereich. Angesichts des Umstands, dass die der politischen Machtergreifung des Bürgertums in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts parallele Entstehung des modernen, bürgerlichen Wissenschaftsbetriebs wesentlich einem Wechsel des motivationalen Interesses von der Regierung der Gesellschaft zur Beherrschung der Natur und einer dementsprechenden Verlagerung des intentionalen Schwergewichts von den Moral- zu den Naturwissenschaften entspringt, könnte diese Karriere der Geisteswissenschaften, dieses ihr Avancement zum spiritus rector der Universität als ganzer und akademischen Gralshüter auf den ersten Blick paradox erscheinen. Die Paradoxie indes löst sich, wenn man die ebenso ersatzhistorische wie quasipolitische Funktion in Betracht zieht, die die Geisteswissenschaften just zu jenem Zeitpunkt übernehmen und deren Ausübung sie überhaupt nur ihre phänomenale Karriere verdanken. Wie an anderer Stelle5gezeigt, ist der das 19. Jahrhundert hindurch unaufhaltsame Aufstieg der Humanwissenschaften im wesentlichen das Resultat eines Bruchs der mittlerweile zu historischer Geltung und politischer Macht gelangten bürgerlichen Klasse mit der bis dahin von ihr behaupteten weltbürgerlichen Perspektive einer freien Organisation der menschlichen Gesellschaft und der bis dahin von ihr verfolgten emanzipatorischen Absicht einer freien Entfaltung der menschlichen Kräfte. Diesen Bruch vollzieht die bürgerliche Klasse unter dem Eindruck der Entstehung eines von ihr ökonomisch ausgebeuteten Proletariats, das sich anschickt, jene weltbürgerliche Perspektive dem Bürgertum selber entgegenzustellen und jene emanzipatorische Absicht gegen das Bürgertum selbst durchzusetzen. Schlicht und einfach auf jene Perspektive verzichten und jene Absicht fallen lassen aber kann die bürgerliche Klasse nicht, will sie nicht einen manifesten Verlust ihrer Identität in Kauf nehmen und ihrem historisch-politischen Gegner, dem Proletariat, als dem erklärten Erben der Sichselbstgleichheit, die sie preisgibt, das Feld überlassen. Sie muss deshalb die Perspektive, mit der sie bricht, ebenso wohl in veränderter Form fortzusetzen trachten, muss den Anspruch, den sie preisgibt, ebenso wohl in entstellter Gestalt aufrechtzuerhalten bemüht sein.

Genau diese Aufgabe erfüllt der zielstrebig von ihr ausgebildete geisteswissenschaftliche Komplex, der die weltbürgerliche Perspektive auf eine durch die Kategorie der Quelle vermittelte Suche nach wissenschaftlicher Wahrheit reduziert, die emanzipatorische Absicht zu einem durch den Kult des schöpferischen Werks bestimmten Streben nach geistiger Idealität verflüchtigt. Eine in die Sackgasse der Quellenempirie getriebene Suche nach wissenschaftlicher Wahrheit und ein an den Fetisch des Kunstwerks fixiertes Streben nach formaler Idealität ist es, was die bürgerliche Geisteswissenschaft dem entgegensetzt, wozu sich die weltbürgerliche Perspektive und die emanzipatorische Absicht unter den Händen des neuen historischen Subjekts Proletariat zu entwickeln droht: dem durch sozialistisch-solidarisches Handeln vermittelten Anspruch auf wirkliche Humanität und der durch werktätig-gesellschaftliche Arbeit bestimmten Forderung nach materialer Freiheit. Mit ihrem Begriff von Freiheit und ihrer Vorstellung vom Ideal behauptet die Geisteswissenschaft für die bürgerliche Klasse ein Erkenntniskriterium und intentionales Verhältnis, dessen Verlust und Aufgabe an den Klassengegner andernfalls unvermeidlich scheint.

Aber was sie so als Kriterium und Verhältnis behauptet, verrät sich in seiner empirischen Gestalt, seiner erscheinenden Gegenwart zugleich als bloßes Substitut, reines Alibi. Als Funktion nicht einer sozialistischen Fortschrittserfahrung, sondern einer fetischistischen Quellenempirie, als Resultat nicht einer emanzipatorischen Werktätigkeit, sondern einer geniekultlichen Schöpfungsästhetik ist Wahrheit die perspektivlos erstarrte Reminiszenz der als solche vom Bürgertum verratenen solidarischen Zukunftsorientierung, ist Idealität der intentionslos leer laufende Reflex der als solche vom Bürgertum verkauften emanzipatorischen Kraftentfaltung. In dem um alles historische Subjekt und empirische Fundament gebrachten und stattdessen ins Bockshorn der Quellenempirie gejagten Begriff wissenschaftlicher Wahrheit verschreibt sich die Geisteswissenschaft einem blendenden Nachbild dessen, was sie im Präsens seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit partout nicht anerkennen will. In der um alle soziale Bestimmung und politische Intention gekürzten und auf den Hund der ästhetischen Schöpfung gekommenen leeren Form geistiger Idealität huldigt sie einem täuschenden Vexierbild dessen, was sie in actu seiner materialen Entfaltung um keinen Preis akzeptieren kann.

Und diese Wahrheit, die nichts zum Ausdruck bringt als die im Quasi-Präsens der Quelle zum leeren Gestus erstarrte einstmalige Perspektive, dieses Ideal, das nichts zum Vorschein bringt als die in der Ersatzempirie des Kunstwerks zur hohlen Larve verflüchtigte frühere Absicht, werden nun also von der Geisteswissenschaft hochgehalten, werden von ihr in den Rang eines absoluten Kriteriums und schlechthinnigen Werts erhoben, aufs Podest eines Inbegriffs aller eigentlichen Wissenschaft und Kronzeugen aller echten Erfahrung gestellt. Sie werden hochgehalten, bis gegen Ende des Jahrhunderts nicht zwar der Arm der Geisteswissenschaft erlahmt, wohl aber die der Wahrheit eigene Aura sich plötzlich aufzulösen, der dem Ideal eigene Glanz plötzlich zu verblassen beginnt. Und zwar löst sich die Aura der Wahrheit auf und verblasst der Glanz des Ideals in dem Maß, wie das, worin die Wahrheit ihr empirisches Fundament findet, die Quelle, und das, worin das Ideal seine erscheinende Präsenz behauptet, das Kunstwerk, ihre haltgebende Evidenz und maßgebende Bedeutung einbüßen. Ihre haltgebende Evidenz aber büßt die Quellenempirie ein und seine maßgebende Bedeutung legt das Kunstwerk ab, weil zu eben dieser Zeit dasjenige seine Kraft und seine Bedeutung zu verlieren beginnt, wogegen Quelle und Kunstwerk als eine Art von bürgerlicher Ersatzempirie und eine Form von bürgerlicher Quasi-Schöpfung ja überhaupt nur aufgeboten wurde: die sozialistische Fortschrittserfahrung der solidarischen Massen und die emanzipatorische Werktätigkeit der gesellschaftlichen Arbeit. Jene verliert ihre Kraft im Zusammenhang mit der Integration der Partei in die Prozedur des bürgerlichen Parlamentarismus. Diese verliert ihre Bedeutung mit der Einbindung der gewerkschaftlichen Organisationen in den ökonomischen Prozess der großen Industrie. Indem die proletarischen Massen den Charakter einer durch ihre sozialistische Perspektive für die bürgerliche Herrschaft gefährlichen Empirie ablegen und die gesellschaftliche Arbeit die Konnotation eines durch seine emanzipatorische Eigenschaft für die bürgerliche Ordnung bedrohlichen Präsens preisgibt, gehen nolens volens auch Quelle und Kunstwerk ihrer ersatzbildnerisch gegen diese sozialistische Empirie aufgebotenen Evidenz, ihrer apotropäisch gegen dies werktätige Präsens geltend gemachten Relevanz verlustig und verkommen sei's zum kraftlos bloßen Belegmaterial, sei's zum substanzlos bloßen ästhetischen Schein. Verliert aber die Quelle ihre haltgebend empirische Evidenz, das Kunstwerk seine maßgebend epiphanische Relevanz, so verlieren zwangsläufig auch die an diese evidente Empirie sich haltende Wahrheit und das an dieser relevanten Epiphanie sich messende Ideal ihre Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft. Einem aller originalen Intention unverdächtigen Belegmaterial überlassen, verfällt die wissenschaftliche Wahrheit dem Konkurs historisch-relativistischer Beliebigkeit. Einem aller objektiven Bedeutung baren schönen Schein ausgeliefert, erliegt das geistige Ideal der Korruption impressionistisch-expressionistischer Unerheblichkeit.

Womit wir bei der oben genannten Krise der Humanwissenschaften zu Beginn unseres Jahrhunderts wären und dem in "Wissenschaft als Beruf" dokumentierten Max Weberschen Versuch, dieser Krise Herr zu werden. Konfrontiert mit einem durch die Entwertung der einschlägigen Quellenempirie bedingten Konkurs wissenschaftlicher Wahrheit und einem durch die Entweihung der Kunstepiphanie verschuldeten Verfall geistiger Idealität, fragt Max Weber nach einer Möglichkeit, der Humanwissenschaft jene Wahrheit und die darin implizierte kriterielle Perspektive, ihr jenes Ideal und die darin sich behauptende existentielle Intention dennoch zu erhalten. Er findet diese Möglichkeit in einer Ersetzung der entwerteten Quellenempirie durch die zum bleibenden Wert erklärte Empirie des professoralen Quellenforschers selbst, in einer Vertauschung der entweihten Kunstepiphanie mit der heiliggesprochenen Erscheinung des akademischen Sachverständigen als solchen. Nicht mehr die Quelle mit ihrem Authentizitätsversprechen, sondern der Wissenschaftler selbst mit seinem Objektivitätsanspruch verbürgt die Wahrheit; nicht mehr das Kunstwerk mit seinem Originalitätspathos, sondern der kritische Experte als solcher mit seinem Sobrietätsethos steht ein für das Ideal. In scheinbarer Wiederaufnahme jener ursprünglichen Situation, da das Bürgertum selber als Träger der noch nicht zum Wahrheitstopos verkümmerten weltbürgerlichen Perspektive firmierte, selber den Repräsentanten der noch nicht zum Anspruch auf Idealität verflüchtigten emanzipatorischen Absicht spielte, ehe es seine Position an das sozialistische Proletariat und die Klasse der Werktätigen verlor und gegen die gefährliche Empirie dieses Proletariats, gegen die bedrohliche Präsenz dieses neuen historischen Subjekts, den Abwehrzauber der authentischen Quelle und den Beschwörungskult des genialen Kunstwerks ein- und aufzuführen begann – in scheinbarer Wiederaufnahme jener anfänglichen Situation ist es nun also der Wissenschaftler in Person, der akademische Experte als solcher, der das Panier der Wahrheit aufpflanzen und dem Ideal die Stange halten soll. Der Schein einer Wiederaufnahme trügt indes! Anders als das gesellschaftliche Bauen auf die weltbürgerliche Perspektive und reale Eintreten für die emanzipatorische Absicht hat dieses personale Einstehen für die wissenschaftliche Wahrheit und existentiale Insistieren auf geistiger Idealität keine positive, sondern ausschließlich negative Bedeutung, keine historisch-politische Bestimmung, sondern ausschließlich stoisch-moralische Qualität. Wie Max Weber wünschenswert deutlich macht, zielt es nicht etwa auf ein dem Empirischwerden in der Quelle vergleichbares affirmatives Dasein der Wahrheit in persona des Humanwissenschaftlers, auf eine dem Erscheinen in der Kunst analoge aktive Präsenz des Ideals in der Gestalt des Akademikers, sondern richtet sich vielmehr gegen die im Geisteswissenschaftler als empirischer Person personifizierte Gefahr, gegen die im Akademiker als existierendem Subjekt gestaltgewordene Drohung einer definitiven Preisgabe der ihrer Empirie in der Quelle beraubten Wahrheit, eines vollständigen Verschwindens des um sein Erscheinen im Kunstwerk gebrachten Ideals. Das heißt, jenes Festhalten an der Person des Wissenschaftlers als Wahrheitsträgers, jenes Insistieren auf dem akademischen Subjekt als Repräsentanten des Ideals, ist nach Max Webers erklärtem Willen Abwehr einer personalen Disposition und Subjektivität, die im genauen Gegenteil den Konkurs der Quellenempirie und den Zusammenbruch der Kunstepiphanie dazu nutzt, die Suche nach wissenschaftlicher Wahrheit und das Streben nach geistiger Idealität überhaupt abzudanken und durch die Propagation weltanschaulicher Werte der eigenen Empirie, durch das Geltendmachen ideologischer Bestimmungen der persönlichen Existenz zu ersetzen. Gegen diese, von ihm als Katheder-Prophetismus gebrandmarkte Ersetzung des Suchens nach wissenschaftlicher Wahrheit durch die Sucht nach weltanschaulichen Werten und Vertauschung des Strebens nach geistiger Idealität mit der Orientierung an ideologischen Bestimmungen will Max Weber die Humanwissenschaften durch das dem Wissenschaftler persönlich aufgegebene Festhalten an der alten Wahrheit, durch das ihm als akademischem Subjekt zur Pflicht gemachte Einstehen für das gewohnte Ideal in eins immun und mobil machen.

In der Tat aber ist, woran der Wissenschaftler solcherart festhalten, wofür das akademische Subjekt solchermaßen einstehen soll, gar nicht mehr die alte Wahrheit, das gewohnte Ideal. Als nicht mehr durch die Anwesenheit quellenempirischer Urteile positiv bezeugte, sondern nurmehr in der Abwesenheit weltanschaulicher Vorurteile negativ beschworene nähert sich diese Wahrheit der durch sie zu bewahrheitenden Sache in der Bedeutung einer jeglichen Sollens baren tautologischen Seinsbestimmung bis zum Verwechseln an. Und als nicht mehr durch den Rekurs auf ästhetische Erscheinungen objektiv gegebenes, sondern nurmehr im Widerstand gegen ideologischen Schein reflexiv gesetztes wird dieses Ideal dem durch es zu legitimierenden Gegenstand im Sinne einer jeder Wesenhaftigkeit entkleideten analytischen Funktionsbeschreibung bis zur Ununterscheidbarkeit gleich. Nicht länger durch die Authentizität einer eigenen Empirie verbürgt beziehungsweise durch die Originalität einer besonderen Epiphanie unter Beweis gestellt, verlieren Wahrheit und Ideal im Blick auf die zu erkennenden Sachen, die zu beurteilenden Gegenstände jegliche normativ-kritische Bedeutung und jeden essentiell-maßgebenden Sinn und reduzieren sich auf formelle Verdoppelungen der Sachen selbst, auf ideelle Abbildungen der Gegenstände als solcher. Sie werden zu begriffstautologischen Darstellungen von Sachen, zu funktionsanalytischen Reproduktionen von Gegenständen, an denen das Moment der Wahrheit in nichts als im Verzicht des erkennenden Wissenschaftlers auf alle kraft eigener Empirie an die Sache herangetragene weltanschauliche Wertungen, das Moment von Idealität in nichts als im Absehen des urteilenden Akademikers von allen aus der persönlichen Existenz in die Objektivität hineingetragenen ideologischen Bestimmungen bestehen soll. Verzicht auf eigene Wertungen und Absehen von persönlichen Bestimmungen aber bedeutet, wie sich in jedem ideologiekritischen ABC-Buch nachlesen lässt und wie auch Max Weber sehr wohl selber weiß, die zu erkennenden Sachen in eben der weltanschaulichen Bewertung hinzunehmen, in der sie als solche erscheinen, die zu beurteilenden Gegenstände in eben der ideologischen Bestimmtheit gelten zu lassen, in der sie sich objektiv darbieten. Suche nach der Wahrheit in dem so genommenen revidierten Sinn und Streben nach Idealität in der so verstandenen novellierten Bedeutung heißt demnach Partei zu ergreifen für das Bestehende und seinen Wert gegen alle Versuche seiner Neubewertung und Veränderung, heißt sich stark zu machen für das Bewährte und seine Bestimmtheit gegen jede Bestrebung seiner Neubestimmung und Verbesserung. In Furcht und Schrecken versetzt durch ein Pandämonium aus weltanschaulich-sektiererischer Veränderungssucht und ideologisch-reformerischer Verbesserungsmanie, das er dem Zusammenbruch des für Begriff und Anschauung des Bürgertums bis dahin verbindlichen Kriteriums wissenschaftlicher Wahrheit und verpflichtenden Maßstabs geistiger Idealität entsteigen sieht, weist Max Weber der krisengeschüttelten Humanwissenschaft die neue Aufgabe zu, unter Verzicht auf alles ursprünglich mit der Wahrheitsform verknüpfte formelle Realisierungsethos auf Wahrheit als auf den Inbegriff einer tautologischen Reaffirmation von nichts als dem unverändert Bestehenden sich zu verlegen und unter Preisgabe jedes an sich mit der Idealitätsvorstellung assoziierten essentiellen Legitimierungspathos aufs Ideal als auf die Generalklausel einer funktionellen Reproduktion von nichts als dem als der Stand der Dinge Gegebenen sich zu versteifen. Nur diese Verwandlung der Wissenschaft aus einem Medium der vorgeblichen Realisierung dessen, was von intentionalem Bestand ist, ins Mittel der tatsächlichen Konservierung dessen, was das real Bestehende ist, nur diese ihre Transformation aus einem esoterischen Ort der kriteriellen Wahrnehmung des als Sollen Gegebenen in ein exoterisches Instrument der funktionellen Sanktionierung des gegebenen Seins ist Sinn und Inhalt jener von Max Weber initiierten grundlegenden Revision, die an die Stelle der traditionellen Wahrheitskategorie das moderne Verifikationsprinzip, an die Stelle des formellen Ideals alter Provenienz den funktionellen Idealtypus neuer Prägung treten lässt und die, kurz, den geisteswissenschaftlichen Komplex des neunzehnten in die sozialwissenschaftliche Formation des zwanzigsten Jahrhunderts überführt.

Eine per Verifikationsprinzip tautologische Reaffirmation des Bestehenden in seinem unangefochteen Wert und eine per Idealtypus funktionelle Reproduktion des Gegebenen in seiner gelten gelassenen Bestimmtheit – das ist das Programm, das Max Weber der ihrer kriteriellen Quellenerfahrung und ihrer originalen Kunstanschauung beraubten Humanwissenschaft zur Auflage macht und durch das er sie in ein Schirm- und Bollwerk gegen das als Katheder-Prophetismus drohende Pandämonium einer in Ermangelung jener Quellenempirie und in Abwesenheit jener Kunstepiphanie grassierenden weltanschaulichen Neubewertungssucht und ideologischen Verbesserungsmanie zu verwandeln strebt. Ein Programm, das mit seinem hinter dem Appell an Nüchternheit und politische Neutralität, hinter dem Anspruch auf epoché und Besonnenheit des öffentlichen Urteils versteckten Konservativismus und Statusquodenken dem traditionellen bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb so sehr auf den Leib geschneidert, so ganz aus der Seele gesprochen scheint, dass es bis heute den Beifall der Weberschen Zunftgenossen aus praktisch allen im akademischen Bereich vertretenen Lagern findet und bis heute die Magna Charta des als sozialwissenschaftliche Formation reinkarnierten geisteswissenschaftlichen Komplexes geblieben ist. Ein Programm, das nur diesen kleinen Schönheitsfehler aufweist, dass es fünfzehn Jahre nach seiner Verkündigung durch Max Weber nun selber mit eben der erneuerungssüchtigen Verve und verbesserungswütigen Emphase, kurz, mit eben der kathederprophetischen Überschwänglichkeit vorgetragen wird, vor der es doch nach Max Webers Willen die Wissenschaft gerade schützen und von der es sie doch gerade abhalten sollte. Eben die wertfrei affirmative Nüchternheit des Erkennens und bestimmungslos konservative epoché des Urteilens, durch die Max Weber in seiner denkwürdige Rede nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches die bürgerliche Wissenschaft sanieren und vor dem Verfall an ein Panoptikum weltanschaulicher Werte, dem Untergang in einem Pandämonium ideologischer Bestimmungen bewahren möchte, erklärt fünfzehn Jahre später in einer nicht minder denkwürdigen Rede beim Aufbruch ins Führerreich Martin Heidegger für selber einen weltanschaulichen Wert par excellence, ein Nonplusultra an ideologischer Bestimmung. Jenes hinter tautologischer Sachlichkeit verschanzte reaffirmative Einstehen fürs Bestehende und seinen Wert, jenes hinter funktionsanalytischer Objektivität kaschierte konservative Eintreten fürs Gegebene und seine Bestimmtheit, das Weber noch nur erst negativ als schlichten Verzicht auf die wertende Einstellung, als bescheidene Enthaltung vom bestimmenden Urteil verstanden wissen will, findet sich in Heideggers Rektoratsrede aus dem Jahr 1933 über "Die Selbstbehauptung der deutschen Universität" in ganz und gar positiver Wendung zur weltanschaulichen Großtat einer als "Standhalten im Ungedeckten" figurierenden Stellungnahme von an sich selber unbedingtem Wert verklärt, zum ideologischen Staatsakt einer als "Ausharren in der äußersten Gefahr" firmierenden Entscheidung von an sich selber absoluter Bestimmungskraft stilisiert. Ohne dass sich inhaltlich etwas an ihr geändert hätte, ohne dass sie ihren borniert analytischen Funktionalismus im mindesten aufgegeben hätte, erscheint die Webersche Nüchternheit des Wissenschaftlers, die Webersche epoché des Akademikers, plötzlich bei Heidegger zum epochalen Heilsfaktor einer den Kräften des Verfalls und der Zerstörung Einhalt zu gebieten geeigneten, weltanschaulich grundlegenden Wertsetzung, zur revolutionären Rettungstat einer das allgegenwärtige Nichts aus dem Feld zu schlagen fähigen, ideologisch entscheidenden Daseinsbestimmung geworden.

Ihren Grund hat diese existentialistische Neubewertung und substantialistische Umbestimmung des von Weber propagierten nüchternen Verismus und idealtypischen Funktionalismus natürlich in der Bewegung des Faschismus und in dem Umstand, dass dieser seinen um die Figur des Führers zentrierten politischen Auftrag in formell ähnlicher Weise definiert wie Weber die Aufgabe des Wissenschaftlers. Wie die akademische Führungskraft Webers ist auch die neue faschistische Führerfigur wesentlich durch ihre Frontstellung gegen jede Form von neuen weltanschaulichen Werten oder alternativen ideologischen Bestimmungen ausgezeichnet und nämlich dadurch charakterisiert, dass sie gegen die in diesen neuen Werten gewahrten Zersetzungstendenzen beziehungsweise hinter diesen alternativen Bestimmungen gewitterten Verschwörungsabsichten als der Erhalter des Bestehenden und seines Werts sich geriert, als der Erretter des Gegebenen und seiner Bestimmtheit sich aufführt. Höchstpersönlich über den im Streit der Wertordnungen befangenen Parteien stehend und das leibhaftige Allgemeine gegen die Privatisierung durch partikulare Ideologien verkörpernd, ist der faschistischen Führer wie der Webersche Wissenschaftler der zwischen selbstherrlich theokratischer Sendung und selbstvergessen technokratischem Amt changierende Vertreter der Tautologie des Status quo, Sachwalter einer auf ihre Funktionslogik reduzierten Objektivität. Anders allerdings als der Webersche Wissenschaftler hat es der faschistische Führer nicht bloß mit den fixen Ideen und Spleens von professoralen Zunftgenossen zu tun, die sich im Grunde nur zu gern zur Ernüchterung des ihrem ökonomischen Interesse gemäßen Konservativismus bringen und zur Ordnung des ihrer sozialen Klasse entsprechenden Statusquodenkens rufen lassen, sondern mit den Perspektiven und Absichten von erklärten Gegnern der bürgerlichen Klasse, von revolutionären Kräften, die bereits gebannt und unter Kontrolle schienen, die aber in der Konsequenz des Ersten Weltkriegs und der folgenden Wirtschaftskrise erneut zu erstarken und der bürgerlichen Ordnung gefährlich zu werden drohen. Um dieser mit anderen gesellschaftlichen Perspektiven und neuen historischen Absichten drohenden Kräfte Herr zu werden, braucht es mehr als den im Namen alter Wahrheiten und Ideale vorgetragenen Appell an wertfrei asketische Nüchternheit und bestimmungslos zynische epoché. Zumindest braucht es dazu einen Appell, der solch wertfrei asketischer Nüchternheit einen dem alternativen Geist jener Kräfte kongenialen leidenschaftlich verpflichtenden Wert beizulegen versteht, der solch bestimmungslos zynischer epoché eine dem revolutionären Anspruch jener Kräfte nachempfundene fanatische Bestimmtheit zu verleihen vermag. Eben diese Haltung einer pseudoalternativen Leidenschaftlichkeit des Verzichts auf andere Werte und eines quasirevolutionären Fanatismus im Abstandnehmen von neuen Bestimmungen verkörpert der Faschismus. Und in eben dieser Haltung fasziniert er den Philosophen Heidegger, der mit ihm das wissenschaftliche Sanierungsprogramm in den Rang eines gesellschaftlichen Salvierungsprojekts erhoben, die theoretisch verhaltene Abwehrgeste zu einer praktisch mitreißenden Aufbruchsbewegung entfaltet und, kurz, den akademischen Professor zum politischen Führer avanciert findet.

Für kurze Zeit, jene kurze Zeit, in der er das braune Hemd anzieht und sich an die Spitze einer als Sturmabteilung begriffenen Universität stellt, kann Heidegger wähnen, nichts als das Webersche wissenschaftliche Programm eines als ontologisch reine Wahrheitsliebe sich gerierenden tautologischen Bestehens auf dem Bestehenden und eines als existentialistisch schierer Idealismus sich aufführenden funktionalistischen Festhaltens am Status quo in allgemeingesellschaftliche Praxis umgesetzt und zum höchsten politischen Wert erklärt zu sehen, und kann er im perfekten Quidproquo von Hochschule und Gesellschaft den faschistischen Führer als Repräsentanten des akademischen Wesens erkennen, an dem die Welt genesen, und den akademischen Wahrheitssucher als die Ratio der völkischen Emotion, an der der proletarische Impetus zerbrechen soll. Allerdings hält die Illusion dieses Quidoproquo nicht lange an. Um gesellschaftlich wirksam und politisch erfolgreich zu sein, kann der Faschismus sich tatsächlich nicht darauf beschränken, den alternativen Geist und revolutionären Anspruch jener proletarischen Kräfte, die er ins Bockshorn seiner Ab- und Auffangbewegung jagen will, bloß quantitativ oder in abstracto der emotionalen Stärke zu imitieren. Will er das Proletariat den alternativen Perspektiven und revolutionären Absichten, die es erneut ins Auge fasst, effektiv entreißen und in die Werteordnung bürgerlicher Interessenwahrung einspannen beziehungsweise in den Bestimmungsrahmen bürgerlichen Statusquodenkens integrieren, so muss der Faschismus in jener verführerischen Maske und irreführenden Fasson einer pseudosozialistischen Volksbewegung auftreten, in der er eine zur Geringschätzung eskalierende ostentative Indifferenz gegenüber bürgerlicher Kultur und Gesittung an den Tag legt, eine in Feindseligkeit umschlagende rigorose Distanz zu den traditionellen Repräsentanten der bürgerlichen Klasse beweist. Damit aber verschreckt und ernüchtert er nun den Geistesrevolutionär und Katheder-Propheten Weberscher Provenienz Heidegger, der, ohne zu wissen, wie ihm geschieht, den Aufbruch völkisch wesenhafter Genossen in einen Aufruhr massenhaft böser Buben sich verkehren und den Führer eines zum historischen Staatsakt antretenden Volks von Akademikern in den Anführer einer zum hysterischen Machtspiel ausschweifenden Bande von Proleten sich verwandeln sieht. Halb gekränkt, halb eingeschüchtert durch diese rätselhafte Metamorphose zieht er sich daraufhin in den Schmollwinkel zurück, aus dem er erst nach dem Zusammenbruch des Führerreichs wieder auftaucht, um mit der Unbelehrbarkeit eines alten Esels und der Diktion eines gestandenen Bürohengsts seinen besseren, wesentlichen Faschismus gegen den falschen pervertierten der Nationalsozialisten hoch- und all denen vorzuhalten, die, statt an der Verwirklichung des wahren Faschismus mitzuwirken und im "Ungedeckten" nationalsozialistischer Hochschulpolitik "standzuhalten", sich in die Emigration oder gar ins Konzentrationslager geflüchtet haben.

Mit seiner Rektoratsrede bewiesen hat Heidegger aber immerhin, dass die Humanwissenschaft Weberschen Zuschnitts, wenn schon nicht ihren Chiliasmus, so jedenfalls doch ihren Faschismus haben könne. Bewiesen hat er, dass die als Wahrheitssuche sich gerierende Nüchternheit des tautologischen Bestehens auf dem Bestehenden erforderlichenfalls durchaus die Züge missionarischen Eiferertums annehmen, dass die als Idealitätsstreben sich kaschierende epoché des funktionalistischen Innehaltens im Status quo gegebenenfalls durchaus den Durchsetzungswillen einer fanatischen Selbstbehauptung hervorkehren kann. Rückblickend lässt sich dann auch erkennen, welch deutliche Hinweise auf diesen bei Heidegger manifesten Sachverhalt die Webersche Programmrede selbst bereits enthält. Nicht nur erscheint die von Weber skizzierte Physiognomie des resignierten, anspruchslosen, selbstverleugnenden, staubtrockenen, kleinste akademische Brötchen backenden und eben deshalb im Weberschen Sinne perfekten Wissenschaftlers in Richtung auf eine unvermittelt pathologische Emphase und eine unmotiviert existentialistische Dringlichkeit seltsam überdeterminiert, Weber selbst stellt schließlich auch klar, dass sein ganzer dämonologisch gefasster Kampf gegen den Katheder-Prophetismus im verstohlenen Blick auf einen Prophetismus geführt wird, der als wirklicher und wahrer sich in dem Maß erwiese, wie er keiner mehr bloß des Katheders und der professoralen Gespenster wäre. Dass als der lebendige Gott, nach dem er somit schielt, am Ende dann sein zu führerkultlicher Selbstbehauptung überschnappender eigener Nachfahre Heidegger sich aufführen würde, konnte Weber wohl nicht ahnen, wenngleich er es, wäre der gute Wille dazu vorhanden gewesen, aus den Prämissen seines eigenen Denkens hätte erschließen können.

Fußnoten

... Heidegger 4
Erschienen in SOG, Heft 3/4, hrsg. von I. Bindseil und U. Enderwitz, R. Matzker Verlag, Berlin 1987.
... Stelle 5
Kritik der Geschichtswissenschaft, Medusa Verlag, Berlin/Wien 1983.
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