4. Das platonisch gewendete Wesen und die Gnosis
Die an der Welt verzweifelnden und in abgründiger
Depression versinkenden Untertanen des agonalen Römischen
Reichs rekurrieren aufs Wesen. Das aber stellt sich dank der
philosophisch-politischen Arbeit der Vorsokratiker und des
Platonismus nicht mehr als pauschales Verdikt über die
Erscheinungswelt, sondern als bestimmte Negation, als durch das,
was sie kritisiert, informierte und okkupierte Urteilsinstanz,
kurz, nicht als reines Nichts, sondern als lautere Idee
dar.
So abgründig die Verzweiflung der Untertanen, so umfassend ihre Depression aber auch sein mag – das Ende der Geschichte ist sie nicht, ihr unverhofft Gutes hat schließlich auch sie. Genau besehen nämlich ist dies Nichts, das da ist, nicht einfach nichts, sondern seinerseits und von sich aus Etwas, beim Wort ihrer Absolutheit genommen stellt sich diese Negation allen Seins und Werdens als eine qua unendliches Urteil ausgesprochene neue, eigene Position heraus. Tatsächlich ist ja jene von Verzweiflung diktierte Abwendung der Untertanen vom diesseitigen Dasein, ihre in Depression versinkende Absage an die irdische Welt nicht gleichbedeutend mit dem Ende ihres Lebens, der Auslöschung ihrer Existenz; so gewiss vielmehr die Untertanen handelnde Subjekte ihres Tuns oder, besser gesagt, Lassens bleiben, so gewiss sie ihre existenzielle Entscheidung selber treffen, sich mit ihrem Leben in eigener Person auseinanderleben, so gewiss ist die Abwendung vom Dasein unmittelbar Hinwendung zu etwas anderem, Umorientierung, ist die Absage an die Welt automatisch Anspruch auf eine neue Aussicht, Perspektivenwechsel: kurz, sie ist der tradierte Weg zum Wesen, die bewährte Methode, vom Sein, das sich als Schein herausstellt, aufs Sein, das allem Schein zeitlos zuvor ist, zu kommen, womöglich gar vom einen zum anderen zu gelangen.
Indem die Untertanen ihre herrschaftlich verfasste Welt, an deren agonaler Struktur verzweifelnd, für nichts, was sie noch anginge, erkennen, indem sie ihr eigenes Dasein, weil es den Keim des mit aller gesellschaftlichen Reichtumsbildung, sprich, mit allem menschlichen Wirken verknüpften Verderbens in sich trägt, in der pauschalen Form einer resignativen Distanzierung von ihm negieren, rechnen sie nolens volens mit jener transzendenten Welt, jener alternativen und vielmehr wahren Wirklichkeit, die der ursprünglich gegen die bäuerlich-dionysischen Fruchtbarkeitskulte und ihre radikale Sozialkritik gerichtete aristokratisch-asketische Wesenskult ins Spiel bringt und die kraft ihrer apriorischen, hinter allen Weltlauf uneinholbar zurückspringenden Ursprünglichkeit, kraft ihrer zeitlos vergangenen, alle Gegenwart als Resultat eines imperfekten Vergehens, einer unabschließbaren Verirrung bloßstellenden Seinshaftigkeit die irdische Welt in toto, das heißt inklusive der von jenen Fruchtbarkeitskulten als Heilsmittel hochgehaltenen Naturmacht, irrealisiert und zum Schein erklärt, das diesseitige Dasein überhaupt und also auch das von jenen sozialkritischen Bewegungen als Antidot gegen das Gift herrschaftlicher Reichtumsschöpfung propagierte einfache Leben, disqualifiziert und als Halluzination entlarvt. Indem sie sich unstillbar verzweifelt von allem Irdischen abkehren, unheilbar resigniert dem Diesseits den Laufpass geben, steht die Tradition des als Sein im apriorischen Voraus allen Scheins, als Wirklichkeit im zeitlos vergangenen Anfang aller Illusion firmierenden Wesens bereit, ihrer pauschalen Negation des Irdischen die mittlerweile ebenso absehbare wie von Haus aus unverhoffte Wendung einer in Wahrheit, der Wahrheit des den Schein zerstreuenden Wesens, haltgebenden Position zu verleihen beziehungsweise dem Nichts an Dasein, dem sie sich zuwenden, die nachgerade ebenso routinierte wie eigentlich paradoxe Bedeutung einer in Wirklichkeit, der Wirklichkeit des die Illusion verfliegen lassenden reinen Seins, ewige Einkehr gewährenden Etwas zu vindizieren.
Tatsächlich könnten sich die Untertanen ohne diese von der wesenskultlichen Tradition bereit gestellte situative Interpretations- oder vielmehr objektive Orientierungshilfe, ohne diese spekulative Figur, sich per unendlicher Negation des Falschen auf eine Position zu beziehen, die uno actu ihrer Einführung das Falsche als Sinnentrug, als substanzlosen Schemen entlarvt und sich selbst als das rettende Gute, als das bewahrende Wahre behauptet – ohne dieses wesenskultliche Hilfs- oder vielmehr Heilsmittel könnten sich die Untertanen ihre alles verwerfende Verzweiflung und alles für nichts ansehende Depression tatsächlich wohl gar nicht leisten, weil die Verzweiflung ihnen sonst gar keinen anderen rationalen Ausweg ließe, als sich als Teil des in toto verworfenen Daseins zu eliminieren, die Depression ihnen gar keine andere logische Konsequenz mehr gestattete, als sich aus der für ganz und gar nichts erklärten Welt zu verabschieden, und weil aber, wenn schon nicht als partikulare oder individuelle Option, so jedenfalls doch als generelle oder kollektive Lösung solch rationaler Ausweg im Widerstreit läge mit dem auch in der tiefsten Verzweiflung sich noch bekundenden irrationalen Überlebenswillen derer, die der Verzweiflung frönen, solch logische Konsequenz in Konflikt geriete mit der selbst in der vollständigsten Depression noch zum Zuge kommenden biologischen Durchhaltestrategie derer, die sich in Depression üben.
Von jener wesenskultlichen Tradition her gesehen, die im Nichts des chronisch vergänglichen Daseins das Etwas einer zeitlos vergangenen Ewigkeit Ereignis werden, die in der Negation der Erscheinungswelt die Position eines scheinlosen Seins aufscheinen sieht – von jener Tradition her, für die sich die an der Welt verzweifelnden, im Dasein resignierenden Untertanen ja schließlich auch entscheiden, stellt sich ihre Verzweiflung und Depression bei aller Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit, die sie angesichts der agonalen Verfassung und fatalen Umnachtung der kollabierenden Antike beanspruchen können, doch aber ebenso wohl als eine rhetorische Figur dar, die sie in ihrem die Option fürs Wesen implizierenden Votum gegen die Welt zu bestärken dient, als ein moralischer Schachzug, der sie in ihrer als Konversion zum jenseitigen Sein wohlverstandenen Desertion vom diesseitigen Dasein zu motivieren hilft.
Dabei ist diese durch die wesenskultliche Tradition vorgegebene weltflüchtige Motion und Entscheidung fürs Wesen dank der vergleichsweisen Konkretion, in der sich das letztere mittlerweile präsentiert, ein Vorhaben, das solch rhetorischen Aufwands und moralischen Ansporns gar nicht mehr unbedingt bedarf. Anders nämlich als in ihren asketisch-nihilistischen Anfängen stellt die Entscheidung fürs Wesen keinen schieren Salto mortale mehr dar, der sich in der Preisgabe allen festen Halts, im Fahrenlassen jeglichen Dings, das ist oder vielmehr vorgibt zu sein, kurz, im schieren Abheben, in der unendlichen Abstraktion erschöpft und das von nichts als der spekulativen Hoffnung oder absurden Zuversicht getragen wird, dass sich in actu des entschiedenen Nichts das wahre Sein auftut oder dass sich, weniger mystisch gesprochen und die Sache metaphorisch konkretisiert, die pauschale Negation der Welt, das gewählte Nichts an Dasein als eine der Welt abweisend zugewandte, verspiegelte Außenseite, eine vom Dasein vakuös abgelöste, blinde Oberfläche herausstellt, deren monadisch selbstbezügliche Kehrseite, deren an und für sich offenbarer Inhalt eben das Wesen ist. Weit entfernt davon, dass das Wesen nur erst in der Ungestalt und Ungreifbarkeit einer gegenüber der Welt geltend gemachten unendlichen Negativität, eines in allem, was ist oder vielmehr zu sein vorgibt, pauschal gewahrten Nichts präsent oder vorstellbar wäre, hat es sich mittlerweile als eine durch die irdische Welt, die es negiert, unwillkürlich vermittelte Position, quasi eine bestimmte Negation, als ein durch das diesseitige Dasein, für dessen Nichts es sich erklärt, hinterrücks informiertes Etwas, eine Art alternatives Programm, herausgestellt.
Verantwortlich für diese Überführung des wahren Seins in eine als bestimmte Negation des Scheins, den es an sich nur pauschal verwirft, seinerseits erscheinende Position, diese Transformation des Wesens in ein als alternatives Programm zu der nichtigen Illusion, der es sich eigentlich nur als toto coelo anderes entgegensetzt, seinerseits realisiertes Etwas ist die von Anfang an vorhandene Tendenz der Wesenshüter oder Verkünder des wahren Seins, ihr die ganze Welt als Nichts verwerfendes und das Dasein in toto als Schein entlarvendes Kultobjekt, eben das Wesen, zu nutzen, um sich in der durch es verworfenen Welt neu zu orientieren und Geltung zu verschaffen beziehungsweise um dem durch es bloßgestellten Dasein ein neues Ansehen und Gepräge zu geben. Schließlich erweist sich gleich eingangs seiner Entdeckung und Propagation durch eine von der Welt abgestoßene, vom Dasein enttäuschte Aristokratie das als das Nichts der Welt gewahrte, als die Negation des Daseins seiende Wesen als ein ebenso probates wie radikales Mittel, der in Gestalt der dionysischen Heilsreligionen vorgetragenen sozialkritischen Motion oder innerweltlichen Emanzipation in die Parade zu fahren, sie als untauglichen Befreiungsversuch, als in der Welt des Scheins befangen bleibende vergebliche Liebesmüh zu diskreditieren und damit die tradierte Herrschaftsordnung gegen alle naturkultlich-auferstehungsreligiöse Herausforderung in Schutz zu nehmen beziehungsweise die durch jene Herrschaftsordnung fundierte Stellung der theokratischen oder ständehierarchischen Oberschichten neu zu befestigen.
Auch wenn die Wesensverkünder sich anfangs von der Radikalität ihres neuen Prinzips, der weltumspannenden Negativität der als Antidot gegen die Heilsbotschaft einer reichtums- und herrschaftsfeindlichen Sozialkritik aufgebotenen Wendung zum Wesen in eine totale Abkehr vom Dasein, eine universale Weltfluchtbewegung hineinreißen lassen, auch wenn sie aus ihrer Kritik an dem falschen, naturkultlichen Ausweg aus der Welt der durch Habgier verursachten Knechtschaft und des durch Herrschsucht verschuldeten Leidens anfangs die buddhistisch-kompromisslose Konsequenz eines gegen natürliche Bedingungen und gesellschaftliche Verhältnisse unterschiedslos eingelegten Vetos, eines über das diesseitige Dasein in allen seinen Aspekten verhängten Verdikts, eines das irdische Leben in toto für wertlos und unwirklich erklärenden Standgerichts ziehen und den rückhaltlosen Bruch mit der Welt, sprich, die Entscheidung für die als der Weg zur Wahrheit erkannte unbedingte Negation des Daseins, die Desertion in das als das Wesen angenommene absolute Nichts an Welt verkünden – letztlich holt sie die hinduistische Vereinnahmung ihrer Weltfluchtbewegung, die mittels Stufenfolge des Heils und Wiederverkörperungslehre bewirkte Einbindung des Fluchtreflexes in die Beharrlichkeit des ökonomischen Reproduktionsgefüges und der politischen Hackordnung der Gesellschaft, aus ihrer spekulativen Verstiegenheit wieder zurück und vindiziert dem Wesensprinzip die Rolle eines wie immer durch seine Radikalität einschneidenden Instruments zur Bewältigung irdischer Probleme und diesseitiger Konflikte.
Stärker noch und vorbehaltloser als in seinen östlichen Lesarten zeigt sich in seiner westlichen Adaption der Wesenskult für Zwecke innerweltlicher Selbstbehauptung instrumentalisiert. Wenn die griechische Aristokratie sich auf das Wesen beruft und eine als Arete kodifizierte besondere Beziehung zu ihm reklamiert, dann nicht etwa, um der Welt den Rücken zu kehren und zu der qua Wesen ausgesprochenen Wahrheit und Wirklichkeit zu desertieren, sondern einzig und allein, um mittels des neuen Prinzips die Macht der Götter zu brechen und ihre opferkultlichen Prärogative außer Kraft zu setzen und in der entmythologisierten oder entsakralisierten irdischen Sphäre, der zur wesenlosen Erscheinung entwirklichten und zur substanzlosen Spiegelung entwerteten Welt, die für ihre ökonomischen Ansprüche nötige Verfügungsgewalt und den für ihre politischen Ambitionen erforderlichen Entfaltungsraum zu gewinnen. Dass die Abstraktheit und Unexpliziertheit des von der Aristokratie als Legitimationsinstanz oder Grund ihrer Selbstmächtigkeit bemühten Wesens von der handelsstädtischen Bürgerschaft genutzt wird, um die Aristokratie an die Kandare zu legen und ihrem privativen Verfügungsanspruch eine sozialverträgliche Wendung zu geben beziehungsweise ihrem persönlichen Machtstreben einen gemeinschaftsdienlichen Zug zu verleihen, ändert nichts an der ganz und gar diesseitsbezogenen Instrumentalisierung und strikt innerweltlichen Funktionalität des in Anschlag gebrachten neuen Prinzips und bekräftigt sie vielmehr nur.
Ebenso wenig ändert an dieser Instrumentalisierung und Funktionalität des neuen Prinzips die Tatsache etwas, dass nach dem Scheitern des auf es gegründeten aristokratischen Führungsanspruchs in der demokratisch-führerschaftlichen Hegemonialherrschaft Athens es, das jenseits der Erscheinungswelt behauptete Wesen, mittels eines maieutisch-anamnestischen Verfahrens, eines durch das Interesse an einer Revision der Erscheinungswelt bestimmten Erinnerungsprozesses explizit gemacht und als für die Beurteilung und Neubewertung der letzteren maßgebendes Kriterium reklamiert wird. Dieses als platonische Wesensschau in die Geschichte eingegangene kriterielle Verfahren ist im Gegenteil Gipfel und Vollendung der Instrumentalisierung des Wesens, weil sie das letztere aus einer unbestimmt transzendenten Position, die dem auf sie sich Beziehenden nur dazu verhilft, sich in der irdischen Immanenz selbstbewusst und relativ frei von den traditionell mit ihr verknüpften Rücksichten und Verbindlichkeiten zu bewegen, in einen quasi archimedischen Standpunkt überführt, der dem auf ihn sich Stellenden erlaubt, die irdische Immanenz aus den Angeln zu heben und nach Maßgabe einer dem Betreffenden anamnestisch zufliegenden Idee absolut neu zu setzen beziehungsweise umzugestalten.
Ihr Vorbild findet diese platonisch-idealische Revision der Welt in der Verfahrensweise jener als Vorsokratiker apostrophierten Aristokraten, die sich durch historische Verhältnisse, durch die geopolitische Lage ihrer Gemeinschaft oder durch eigene biographische Umstände aus dem Kampf um ökonomische Verfügung und politischen Einfluss herausgedrängt finden, die deshalb das Ziel ihrer irdischen Laufbahn, die Erfüllung ihres Lebens nicht mehr in einem durch Wirken für die Gemeinschaft zu erringenden öffentlichen Ruhm, in figürlicher Unsterblichkeit, sondern in einem durch selbstbezogenes Wohltun zu erlangenden privaten Frieden, in persönlicher Glückseligkeit, gewahren und denen infolgedessen der behauptete Wesensbezug auch nicht mehr ebenso abstrakt wie unmittelbar nur dazu dient, eine im Rahmen liturgischen, gemeinwohldienlichen Verhaltens und des politischen Führungsanspruchs, der darauf basiert, ausgeübte ökonomische Verfügungsgewalt über ihren fremdbürtig-territorialherrschaftlichen Reichtum zu rechtfertigen, sondern die vermittelter und konkreter das reklamierte Wesen dazu brauchen, diese Verfügungsgewalt auch unabhängig von jeder liturgischen Anstrengung und außerhalb aller politischen Führungsrolle zu begründen.
Solange die Aristokratie die freie, private Verfügung über ihren der theokratisch-territorialherrschaftlichen Sphäre entrissenen Reichtum im Rahmen eines öffentlichen Wirkens und im Verein mit gemeinwohldienlichen Leistungen beansprucht, ist es die stadtbürgerliche Gemeinschaft, die ihr den solch freie Verfügung legitimierenden Wesensbezug, ein frei machendes, weil die Welt der Erscheinungen transzendierendes und jenseits ihrer verankertes höheres Selbstsein attestiert beziehungsweise bestreitet und die ihr so aber auch erspart, über dies Prinzip, auf das sie sich beruft und dessen absoluter Wahrheit sie ihre relative Freiheit verdankt, explizit Rechenschaft abzulegen. Dort indes, wo, und in dem Maße, wie jene Aristokraten, jene in die Handelsstadt integrierten Eigentümer territorialherrschaftlichen Reichtums, aus der Sphäre bürgerschaftlich-öffentlichen Wirkens ausscheiden beziehungsweise herausgedrängt werden und sich zum Privatisieren, zu einer in der Hauptsache konsumtiven, vom Genuss ihres Reichtums geprägten Existenz, aufgefordert beziehungsweise verurteilt finden, hört das an solcher Privatexistenz uninteressierte politische Kollektiv auf, ihnen als Gegenleistung für ihre gemeinschaftsdienlichen Leistungen den für die Verfügung über ihren Reichtum grundlegenden Wesensbezug zu attestieren und ihnen damit dessen ausdrücklichen Nachweis zu ersparen, und sie sehen sich demzufolge gezwungen, diese ihre, sie zur freien Verfügung über ihren Reichtum ermächtigende Beziehung zum Wesen und Vertrautheit mit ihm explizit darzulegen und für jedermann sichtbar unter Beweis zu stellen. Weil der kollektiv-politische Mechanismus entfallen ist, durch den ihnen von der Gemeinschaft aufgrund ihres gemeinschaftsdienlichen Wirkens das von ihnen reklamierte wesenserfüllt höhere Selbstsein unbesehen zugestanden oder widrigenfalls auch abgesprochen wird, nehmen diese Aristokraten ihre Zuflucht zu einem objektiv-philosophischen Ersatzverfahren, das darauf abzielt, ihre als Wissen der Wahrheit artikulierte Wesenserfülltheit, sprich, den Grund ihres höheren Selbstseins, manifest und der Gemeinschaft ehrfurchtheischend erkennbar oder, besser noch, erahnbar werden zu lassen.
Bei dieser im Wissen der Wahrheit bestehenden objektiv-philosophischen Demonstration des sie erfüllenden und ihr höheres Selbstsein begründenden Wesens gewinnt nun aber das sie zum Bezug auf letzteres motivierende innerweltliche Interesse, das Interesse an freier Verfügung über den der theokratisch-territorialherrschaftlichen Sphäre entzogenen, fronwirtschaftlichen Reichtum zum Wohle einer eudämonistischen Privatiersexistenz eine das Wissen der Wahrheit unwillkürlich vermittelnde und so in der Tat die Wahrheit selbst hinterrücks determinierende Bedeutung. Kraft jenes in seine objektiv-philosophische Explikation einfließenden innerweltlich leitenden Interesses oder diesseitig bestimmenden Anspruchs ist das aus der Latenz eines kollektiv-politischen Slogans oder appellativ-praktischen Kennworts herausgeholte und als Sachverhalt thematisch gemachte oder zur reflexiv-theoretischen Vorstellung gebrachte Wesen nun nicht mehr die rücksichtslos-reine Negation des Daseins und absolut-einfache Nichtigkeit der Erscheinungswelt, als die es sich der von der Begeisterung für die Emanzipationsmacht des neuen Prinzips fortgerissenen asketischen Einsicht oder buddhistischen Erleuchtung offenbart, sondern es ist die schiere Negation all dessen am Dasein, was dem Interesse an freier Verfügung über es widerstreitet, ist die offenbare Nichtigkeit all jener mit der Erscheinungswelt verknüpften opferkultlichen Sanktionen und gottesdienstlichen Hypotheken, die dem Anspruch auf einen ungeteilten Besitz der Erscheinungen in die Quere kommen.
Weit entfernt davon, dass das interessevermittelte Wissen vom Wesen oder das anspruchsbezogene Aussprechen der Wahrheit die Erscheinungswelt als kompletten Schein entlarvte und zu Nichts verflüchtigte, das Dasein des totalen Irrtums überführte und als solches revozierte, dient dies interessevermittelte Wissen vielmehr dazu, die Erscheinungswelt von allem, was in ihr etwa erscheint oder auf sie reflektiert, kurz, von jeglicher Zumutung und Unterstellung, zu befreien und auf ein wesenskonform Seiendes zu reduzieren, erfüllt mit anderen Worten dies anspruchsbezogene Aussprechen vielmehr den Zweck, das Dasein von jeder es reklamierenden fremden Zutat oder äußeren Rücksicht, kurz, von sämtlichem Umtrieb oder Irrsinn, loszusprechen und auf ein wahrheitsgemäß Bleibendes zurückzuführen. Sub conditione des objektiv ermittelten Wesens oder sub specie der philosophisch eruierten Wahrheit löst sich die Erscheinungswelt nicht kurzerhand auf, sondern enthüllt sich als etwas dem prätentionslosen Wesen adäquates Elementares oder Grundstoffliches, als Erde, Feuer, Wasser, Luft, erklärt sich das Dasein nicht einfach für nichts, sondern gibt sich als ein der reinen Wahrheit gemäßes Atomares oder Grundsolides, als unteilbarer, unveränderlicher, unzerstörbarer Baustein aller Dinge zu erkennen.
Dieses von den Vorsokratikern erprobte und zum Zwecke der Begründung einer von kultischen Aufgaben und sakralen Verpflichtungen freien Privatiersexistenz beschäftigungsloser Aristokraten angewandte Verfahren einer mittels Explikation des Wesens durchgesetzten Reduktion der Erscheinungswelt auf ein dem Interesse an einer freien Verfügung über sie nicht mehr widerstreitendes, weil alle fremde Bestimmung und andere Bewandtnis, die in ihr etwa erscheint, das Phänomen des Erscheinens überhaupt, als wesenlosen Schein und auflösbare Schemen bloßstellendes elementares Fundament und atomares Substrat – dieses zu Anfang der Blütezeit der Polis geübte Verfahren greift nun also zum Ende der Polis und angesichts des Scheiterns der ökonomischen Unterhaltsstrategie und des politischen Zusammenlebens der letzteren, ihres kommerziellen Reproduktionssystems und ihres sozialen Integrationsmodells, der Platonismus auf, um seine konstruktive Kritik an der Polis, seine Vorstellung von einer die ökonomischen Bedingungen und politischen Verhältnisse des Gemeinwesens von Grund auf neu ordnenden guten Gemeinschaft, in eine für die prospektive Umgestaltung maßgebende Form zu bringen und als ein über Sein und Schein im Gemeinwesen normativ entscheidendes Kriterium zu erweisen.
Dabei ist mit der Rede von einer den Platonismus motivierenden konstruktiven Kritik und Neuordnungsvorstellung der wichtigste Unterschied zwischen ihm und dem Beginnen der Vorsokratiker, die wesentliche Differenz zwischen der von beiden jeweils verfolgten Zielsetzung, bereits benannt. Den Vorsokratikern geht es mit ihrem Rekurs aufs Wesen, auf die das reine Sein gegen allen Schein zur Geltung bringende Wahrheit nicht um eine Umgestaltung der Seinsweise, eine veränderte Wirklichkeit, sondern bloß um eine andere Sichtweise, ein revidiertes Weltbild. Mit ihrer wie immer um die politische Wirksamkeit gebrachten Existenz in der aufblühenden Polis, ihren wie immer auf Selbstverwirklichung und private Entfaltung eingeschränkten stadtbürgerlichen Lebensumständen sind sie, wenn schon nicht unbedingt zufrieden, so jedenfalls doch prinzipiell einverstanden; an diesen sie, die Angehörigen der aristokratischen Oberschicht, mit ökonomischer Unabhängigkeit und sozialem Status, mit Reichtum und Ansehen, beglückenden Umständen etwas ändern zu wollen, kommt ihnen nicht in den Sinn.
Das einzige, worum es ihnen geht, ist – generell gefasst – die Sicherstellung ihrer vergleichsweise glücklichen Existenz und ihres faktischen Wohlbefindens gegen die Wechselfälle des Lebens und die Widrigkeiten des Schicksals, ist also – die Sache spezieller und in Begriffen des diese Existenz heimsuchenden zentralen Rechtfertigungsproblems ausgedrückt – die ihnen nicht mehr von der Bürgerschaft attestierte, nicht länger im Rahmen eines öffentlichen Wirkens garantierte Freiheit von den mit ihrem territorialen Reichtum und ihrer aristokratischen Stellung von Haus aus verknüpften sakralen Verpflichtungen und kultischen Obödienzien, deren persönliche Missachtung und selbstsüchtige Nichterfüllung traditionell als Hauptursache der ins Dasein einbrechenden Wechselfälle und das Leben heimsuchenden Widrigkeiten gilt. Keinem anderen Zweck dient ihr philosophisch-explikativer Rekurs aufs Wesen: Indem er die Erscheinungswelt allen Scheins und illusionären Beiwerks zu entkleiden und auf ihre wesenskonforme Grundbeschaffenheit, ihr Wesentliches, ihre Wahrheit zurückzuführen beansprucht, dient er der Absicht einer als theoretische Revision ins Werk gesetzten ideologischen Säuberung der Wirklichkeit, ihrer Lossprechung, ihrer Absolution von jenen gottesdienstlichen Rücksichten und opferkultlichen Auflagen, die einer freien Verfügung über die Welt in genere und ihren Reichtum in specie und einer dadurch ermöglichten persönlichen Mitwirkung und privaten Teilhabe an den vergleichsweise säkularen Zielsetzungen und relativ profanen Geschäften der kommerziell organisierten stadtbürgerlichen Gemeinschaft entgegenstehen.
Gleichgültig, welchem eudämonistischen, das eigene Glück und Wohlergehen betreffenden Zweck diese freie Verfügung über die kraft Reflexion des Wesens ideologisch gesäuberte Erscheinungswelt beziehungsweise die solch freier Verfügung geschuldete Teilhabe am handelsstädtischen Unternehmen am Ende dienen soll, gleichgültig also, ob die Betreffenden ihren im Freiraum der Stadt privatisierten Reichtum und personalisierten Status dazu nutzen, hedonistisches Wohlbefinden, ontologische Weisheit oder aretologische Autorität anzustreben, ob sie mit anderen Worten ihr Wissen vom scheinverzehrenden Wesen der Erscheinungswelt und von der illusionslosen Wahrheit des Daseins nutzen, um sich nach Möglichkeit angenehm im Leben einzurichten oder um sich eine kultisch gefärbte Achtung und Ehrfurcht der Mitbürger zu sichern oder um sich über die Hintertreppe der philosophischen Distanzierung doch wieder persönliche Macht und politischen Einfluss zu verschaffen – primär und in der Hauptsache reklamieren jedenfalls jene vorsokratischen Aristokraten den reflexiven Wesensbezug, das objektive Wissen vom Wesen, und ihren daraus sich herleitenden Anspruch auf Wohlleben, Weisheit oder Tugend nicht etwa mit der Implikation, kraft kriterieller Negativität des Wesens die Erscheinungswelt selbst zu verändern, sie von Grund auf zu reformieren, sondern im Gegenteil ausschließlich mit der Intention, eine andere Sicht von ihr zu gewinnen, die Vorstellung von ihr einer gründlichen Revision zu unterziehen, um sie als solche, sie, wie sie wesenhaft erscheint, in Wahrheit ist, manifest zu machen und als ein allen Wechselfällen phantastisch-kontingenter Einflussnahme überhobenes Unwandelbares, ein allen Widrigkeiten schimärisch-heteronomer Ansprüche entzogenes Bleibendes nachzuweisen.
Von solcher grundlegenden Reaffirmation des Bestehenden ist der Platonismus mit seinem Rekurs aufs Wesen weit entfernt. Konfrontiert mit dem traurigen Anblick der durch ihre politisch-ökonomische Entwicklung in genere und durch ihr volksherrschaftlich-hegemoniales Sanierungsprojekt in specie zugrunde gerichteten Polis, sinnt er auf eine ebenso radikale Umgestaltung der Lebensweise wie fundamentale Neuordnung der Sozialverhältnisse des Gemeinwesens. Dabei ist maßgebendes Ziel der Umgestaltung und Neuordnung des Gemeinwesens die Bewahrung und Bekräftigung jener arbeitsteiligen Kooperative, jener stadtbürgerlichen Arbeitsgemeinschaft, die sich im Zuge der kommerziellen Karriere der Polis, ihrer auf den Austausch mit ihresgleichen und mit den territorialherrschaftlichen mittelmeerischen Anrainern abgestellten ökonomischen Aktivitäten, herausgebildet hat und die der platonischen Reflexion als ein ebenso unverzichtbares wie ideales Vergesellschaftungsmodell vorschwebt.
Entstellt und durcheinander gebracht, aus den Fugen geraten und in Unordnung gestürzt sehen Platon und seine Schule diese ideale Arbeitsgemeinschaft der Polis durch die mit der kommerziellen Karriere der Stadt Hand in Hand gehende Anhäufung materiellen Reichtums und durch die konsumtiven Ansprüche und luxuriösen Bedürfnisse, die der akkumulierte Reichtum weckt. Was demnach in Sachen Umgestaltung des Lebens der ökonomischen Kooperative und Neuordnung des politischen Gemeinwesens zu geschehen hat, scheint klar: Es gilt, die handelsstädtische Arbeitsgemeinschaft als solche aufrechtzuerhalten und mit dem ganzen Nachdruck eines normativ-verbindlichen Vergesellschaftungsmodells zur Geltung zu bringen und gleichzeitig die Reichtum in die Stadt spülenden kommerziellen Aktivitäten zu unterbinden, Sorge dafür zu tragen, dass die städtische Gemeinschaft nicht länger mit der Konsumbedürfnisse weckenden und zum Luxus anregenden Güterfülle, die ihrem ökonomischen Treiben traditionell entspringt, konfrontiert beziehungsweise dotiert wird.
Was aber soll angesichts der so definierten reformatorischen Aufgabenstellung, die doch wesentlich ein praktisch-politisches Problem, das Problem nämlich einer Durchsetzung oder Wiederherstellung beziehungsweise einer Auflösung oder Verdrängung gesellschaftlicher Einrichtungen und Mechanismen scheint, der Drang nach Wesenserkenntnis, der propagierte platonisch-anamnestische Rekurs auf eine unvordenklich reine Wahrheit und originale Wirklichkeit bewirken, was hat er in diesem Kontext überhaupt zu suchen? Die Antwort hierauf liegt in der implizit-logischen Widersprüchlichkeit der explizit-praktischen Zielsetzung. Wenn die platonische Schule sich für die Erhaltung und Reaffirmation der handelsstädtischen Kooperative einsetzt und zu diesem Zweck die Beseitigung und Aufhebung aller durch die Bereicherungsmechanismen, die untrennbar mit ihnen verknüpft sind, den Bestand der Kooperative bedrohenden kommerziellen Aktivitäten, kurz, die Unterbindung jeglicher handelsstädtischen Initiative fordert, dann verwickelt sie sich, recht besehen, in diesen fundamentalen Widerspruch, die Bewahrung des Teils durch Preisgabe des Ganzen, die Verewigung des Moments durch Abbruch des Kontinuums, die Rettung der Folge durch Verdrängung des Grunds, die Sanierung der Wirkung durch Zerstörung ihrer Ursache anzustreben. Schließlich ist die stadtbürgerliche Arbeitsgemeinschaft, das arbeitsteilig-kooperative Reproduktionssystem der Polis, ebenso sehr systematische Konsequenz wie historisches Resultat der handelsstädtischen Karriere, und so gesehen, ist es absurd und ein logisches Unding, das eine ohne das andere haben, die Kooperative als modus vivendi der Polis sanktionieren und den Kommerz aus der kooperativ-heilen Welt der Polis exkommunizieren zu wollen.
Hier genau aber erhält nun der Rekurs aufs Wesen und dessen gegenüber der Erscheinungswelt geltend zu machende Negativität seinen im vorsokratischen Kontext erprobten und in der neuen, platonischen Anwendungsform wie auch immer zweifelhaften, wie immer anfechtbaren Sinn. Was als gutes, bewahrenswertes soziales Resultat einer schlechten, verwerflichen ökonomischen Entwicklung als ein logisches Unding und eine widersinnige Vorstellung erscheint, das gewinnt durch den Rekurs aufs Wesen und dessen Vermittlung ontologische Haltbarkeit und idealisches Format. Indem der Platonismus, statt die zu bewahrende Kooperative unmittelbar gegen alle korrumpierenden kommerziellen Einflüsse, alle Bereicherungsmechanismen geltend zu machen, sie erst einmal ihrerseits unter Korruptionsverdacht stellt, als Teil der kommerziell verkommenen, durch Reichtum und Luxus verunklarten und verunreinigten Erscheinungswelt suspendiert, um kraft Wesenserkenntnis, kraft Rekurs aufs scheinlose Sein, aufs zeitlos vergangene Original, sie in ihrer reinen Sichselbstgleichheit, ihrer wahren Form zu ermitteln, indem er mit anderen Worten reflexive Zurückhaltung, Epoché, übt, um kraft Wesensschau seinem Urteil über die Erscheinungswelt die logische Anfechtbarkeit einer wider den Stachel der objektiven Kausalität löckenden, kontrafaktisch-willkürlichen Entscheidung zu nehmen und die dogmatische Autorität eines ex cathedra der Sache selbst gefällten suprafaktisch-absoluten Verdikts zu verleihen, gelingt es ihm in der Tat, den inneren Widerspruch, den sein für die Polis vorgetragener Sanierungsplan impliziert, nicht zwar aufzulösen und aus der Welt zu schaffen, wohl aber zu transzendieren und außer Kraft zu setzen.
Statt gegen die durch und durch korrupte und zum Verderben angesehene Erscheinungswelt ein als bloßer Teil, bloße Konsequenz dieser Welt unschwer erkennbares und eben deshalb zu ihrer Sanierung untaugliches Heilmittel ins Feld zu führen, macht in einer den Vorsokratikern abgeschauten philosophisch-epochalen Wendung der Platonismus dies wohlverstanden korrupte Heilmittel zum Anhalts- und Ausgangspunkt einer als Anamnese, als Besinnung auf den wahren Kern und wirklichen Begriff der Sache sich behauptenden Reflexionsprozesses, in dessen Ergebnis ihm schließlich das Heilmittel in von aller Verstrickung in die Erscheinungswelt befreiter Lauterkeit, in von allen Trübungen und Entstellungen durch seine erscheinungsweltliche Vereinnahmung und Funktionalisierung gereinigter Urbildlichkeit vor Augen und eben deshalb als gegen die falschen Verhältnisse in der Polis geltend zu machendes ideales Sanierungskonzept und Entscheidungskriterium zu Gebote steht.
Wie die Vorsokratiker bietet der Platonismus die Wesenserkenntnis auf, um die Erscheinungswelt anders und nämlich frei von Schein und Illusion, frei von diskreditierend-kontingenten Einflüssen und korrumpierend-heteronomen Ansprüchen, zu gewahren, aber weil das, was der Platonismus von schlechten Einflüssen und falschen Ansprüchen befreit und gereinigt sehen will, nicht wie bei den Vorsokratikern die Erscheinungswelt als ganze oder als unmittelbar reaffirmierte, sondern vielmehr ein als neue Totalität gegen die Erscheinungswelt durchzusetzender und sie mithin ebenso sehr in toto verändernder wie in ihrer Unmittelbarkeit negierender Teil von ihr ist, liefert ihm die Reflexion des Wesens auch nicht schon die erwünschte Sache selbst, die elementare, wesenskonforme Version oder wahrhaftige Fassung der Erscheinungswelt, das des Scheins entkleidete, aufs Sein reduzierte reale Ganze, sondern nur erst den Begriff der Sache, jenes partielle Moment der Erscheinungswelt, das in ihr zur Geltung gebracht werden soll, in totalisierter Form und integraler Vollendung, die jeder kausalen Verknüpfung mit dem innerweltlichen Kontinuum, jeglicher Verwurzelung in ihm entrissene, aus aller erscheinungsweltlichen Verfallenheit herausgesprengte, ebenso absolute wie kriterielle Idee des Ganzen.
So also nutzt der Platonismus den Wesensbezug, um seine nicht sowohl ideologischen, auf ein anderes Bild von der Wirklichkeit, als vielmehr praktischen, auf eine andere Wirklichkeit zielenden Aspirationen zu befriedigen. Kraft epochaler Anamnese, kraft Suspendierung des erscheinungsweltlichen Kontinuums und Verwesentlichung jenes Moments im Kontinuum, das als der wahre Teil gegen das falsche Ganze zur Geltung gebracht werden soll, um als die diskrete neue Totalität das alte Kontinuum auszuschalten und zu ersetzen, gelingt es dem Platonismus, dies als das neue Ganze propagierte Moment der Diskreditierung und Widerlegung, mit der es andernfalls durch das gleichermaßen als seine genetische Matrix und sein ökologisches Milieu erscheinende alte Ganze bedroht ist, zu entheben und in der blendenden Unmittelbarkeit, der selbstherrlichen Isolation eines wesensgesetzten, wahrheitsentsprungenen Maßes aller Dinge, auch sogar seiner selbst in der ihm durch seine erscheinungsweltliche Vereinnahmung vindizierten Entstellung und Korruption, vorstellig werden zu lassen, sprich, es als die widerspruchsfreie, weil kraft anamnestischer Verwesentlichung sui generis seiende und als das innerweltliche Phänomen, als das sie erscheint, nicht etwa aus der Erscheinungswelt stammende, durch sie hervorgetriebene, sondern höchstens und nur in sie verirrte, zu ihr herabgesunkene Idee zu etablieren. So also nutzt der Platonismus das die Welt so, wie sie erscheint, für chronischen Schein erklärende zeitlos vergangene Sein, das Wesen, als einen Hort, eine Rüstkammer für Gegenentwürfe zur Welt, Alternativvorstellungen zum Erscheinenden, die, wiewohl der Erscheinungswelt entnommen und Bestandstücke aus ihr auf- und herausgreifend, doch aber aufgrund der ihnen mittels anamnestischer Reflexion nachgewiesenen Wesentlichkeit ebenso wohl beanspruchen, nicht von dieser Welt beziehungsweise, soweit ihr zugehörig, nur in durch sie bereits korrumpierter Fassung, in unwirklicher Verbildung und unwahrer Gestalt präsent zu sein, und die deshalb auch, ohne in Widerspruch zu eigenen Voraussetzungen zu geraten, ohne sich der Gefahr einer durch die unentrinnbare Totalität und Integrationskraft dessen, wogegen sie sich richten, heimgesuchten unwillkürlichen Selbstkritik auszusetzen, ex cathedra ihrer zum Absoluten aufgehobenen Abstraktheit, ihrer zu unhinterfragbarer Vorbildlichkeit abgehobenen Idealität immer neu gegen die Welt vorgebracht und als Gutes vom Schlechten, ihnen Ähnliches von ihnen Wesensfremdem zu unterscheiden behilfliches Kriterium geltend gemacht werden können.
Indem so aber das Wesen, die von Haus aus unendliche Negation dessen, was zu sein scheint, das unmittelbar reine Nichts der Erscheinungswelt, vom Platonismus zu einem fundamentalistischen Reforminstrument funktionalisiert und nämlich dazu benutzt wird, Momente aus der Erscheinungswelt, Dinge und Verhältnisse, die als das Gute an ihr erscheinen, aus allem genetischen oder systematischen Zusammenhang mit ihr herauszubrechen und ihr als sie zur Besinnung rufendes kritisches Reflexiv beziehungsweise zur Umkehr mahnendes paradigmatisches Objektiv entgegenzuhalten, verliert es nolens volens seinen Charakter ebenso pauschaler wie umfassender Negativität und wird zu einer von dem, was es für nichts erklärt und von sich weist, zugleich doch informierten und okkupierten Urteilsinstanz, einer im Wortsinne bestimmten Negation.
Weil und insofern der Erscheinungskritiker oder Platoniker, während er gegen die verwerflichen Phänomene das reine Wesen, das Nichts aller Erscheinung, ins Feld führt, sie doch zugleich bloß zu kritisieren, nicht in toto zu negieren trachtet, anders gesagt, von ihnen nicht überhaupt lässt, sondern vielmehr sub specie der Negation, die er gegen sie ins Feld führt, ihrer beharrlich gedenkt, sie als durch die Negation ebenso sehr festgehaltenes wie zurückgewiesenes Moment unweigerlich reminisziert, sie in die Reflexion eines vom Negierten nurmehr übrig bleibenden Abbilds, eines in actu der Negation spontan erzeugten und mangels Vorbilds – das ist ja negiert! – zum Urbild erklärten Nachbilds treibt, kurz, sie zu einer der Negation selbst immanenten und ausschließlich in dieser Form überdauernden Bestimmung aufhebt – weil und insofern also der Platoniker, statt mit den Phänomenen dieser Welt kraft des als ihr reines Nichts gefassten Wesens kurzen Prozess zu machen, das Wesen vielmehr als eine Urteilsinstanz begreift, die ihm erlaubt, die negierten Phänomene in einer halsbrecherischen Rettungsaktion dem sie Negierenden selbst zu vindizieren, sie in einer spekulativen petitio principii als das Kriterium, nach dem geurteilt wird, im Urteilsakt je schon zu präsupponieren, kurz, die Phänomene in ihrem damit retrospektiv auf ein Sein gegründeten Nichts, ihrer demnach reflexiv mit einem guten Grund versehenen Negation als Positivität und Bestand beweisende Ideen wiedererstehen oder vielmehr fröhliche Urständ feiern zu lassen – weil und insofern der Platoniker so verfährt, kann er gar nicht umhin, dies als ursprünglich reines Nichts der Erscheinungswelt gefasste Wesen in den Schau- und Tummelplatz eben jener als seiendes Motiv für ihre eigene Nichtigkeitserklärung reminiszierten, als guten Grund für ihre spezifische Negation reklamierten, kurz, als Idee sich selbst das Urteil sprechenden Phänomene zu verwandeln.
In dem Maße, wie das Wesen gebraucht wird, der Erscheinungswelt nicht einfach nur eine kategorische Absage zu erteilen, sondern ihr mehr noch einen spezifischen Spiegel vorzuhalten, verwandelt es sich nolens volens in diesen Spiegel, wird aus einem planen Rejektionsgrund, einer tabula rasa, zu einer schieren Projektionsfläche, einer camera obscura, die sich unwillkürlich mit Reminiszenzen und vielmehr Reklamationen der von ihr verworfenen und in der Verwerfung aber zum Grund der Verwerfung aufgehobenen Erscheinungen füllt, die mit anderen Worten dazu dient, sich uno actu des Neins zur Erscheinungswelt ein das Nein als bestimmte Negation erweisendes, weil die Erscheinungen durch Abstraktion von allem chronisch Verfänglichen zu etwas Rundem konkretisierendes, sie durch Isolation gegen alles topisch Kontagiöse zu etwas Ganzem komplettierendes, alternatives Bild von der Welt zu machen.
Dem platonisch reflektierten Wesen wenden sich die
Weltflüchtigen hoffnungsfroh zu. Freilich verbinden sie
anders als der Platonismus keine praktischen, auf die Gestaltung
des irdischen Lebens gemünzten Absichten, sondern wollen
vielmehr in den aufgetanen Himmel des Ideenreichs Einzug halten
und seines Heils teilhaftig werden. Damit rehabilitieren sie in
Gestalt des Wesensbezuges eben den dionysischen Naturkult, gegen
den das Wesen einst aufgeboten wurde, nur dass jetzt die
beschworene Sphäre des Heils nicht mehr als unmittelbares
Diesseits, die materielle Natur, sondern als absolutes Jenseits,
eine spirituelle Übernatur, erscheint.
Und es ist nun also diese dem Nichts der Erscheinungswelt, dem Wesen, eingeschriebene Ideenwelt, der sich die Untertanen des in Konkurs gehenden Römischen Reiches konfrontiert sehen, wenn sie, von der politisch-ökonomischen Not und dem kultisch-ideologischen Elend ihrer Situation zur Verzweiflung getrieben und in abgrundtiefe Depression gestürzt, den durch die Tradition vorgezeichneten Weg der Abkehr von der diesseitigen Welt und Absage ans irdische Dasein und Hinwendung stattdessen zu jener rückhaltlos transzendenten Position und toto coelo jenseitigen Sphäre beschreiten, die in eben dem Maß, wie sie die diesseitige Welt zur Scheinwelt entwirklicht und das irdische Dasein zur Halluzination entwertet darbietet, sich selbst als das scheinlose Sein im zeitlosen Vorhinein aller Verfallenheit an den Schein, als die illusionslose Wirklichkeit im sphärischen Jenseits allen irdischen Halluzinierens zu verstehen gibt. Weit entfernt davon, dass diese als das Wesen, als das zeitlos vergangene Sein außer allem Schein geltend gemachte Alternative zur Erscheinungswelt den Untertanen noch als das reine Nichts entgegenträte, als das sie denen, die mit asketischer Disziplin oder weltflüchtigem Elan auf sie rekurrieren, ursprünglich erscheint oder, besser gesagt, begegnet, stellt sie sich nun dank ihrer Vereinnahmung durch die platonischen Weltverbesserer, dank ihrer Umfunktionierung in ein Gutes vom Schlechten zu scheiden und zum Leitstern eines Wandels des Schlechten zum Guten zu erheben bestimmtes kriterielles Medium, als das Reich der bestimmten Negation, als erfüllt von beziehungsweise ausfüllbar mit weltlichen Phänomen oder Formen des irdischen Daseins dar, denen nur dies Unirdische, dies Außerweltliche eignet, dass sie all die innerweltlich genetischen Defekte, die sie als zweifelhafte Segnungen erscheinen lassen, all die daseinsimmanent systematischen Ambivalenzen, die das Bekenntnis zu ihnen kompromittierend macht, abgestreift haben und als wesenskonforme Verkörperungen oder ideale Verwirklichungen eben des lauteren Seins und reinen Bestehens vorstellig werden, von dem sie unter den verunklarenden und entstellenden Bedingungen der Erscheinungswelt höchstens und nur einen Anschein zu erwecken, eine Illusion zu erzeugen vermochten.
Was Wunder, dass die Untertanen des in materiellen und spirituellen Konkurs gegangenen Reiches, wie sehr es auch unendliche Verzweiflung am Dasein und abgrundtiefe Depression gegenüber der Welt ist, was sie dem als die Negation des Daseins, als das Nichts der Welt firmierenden Wesen in die Arme treibt, dieser Frucht ihrer Verzweiflung und Ausgeburt ihrer Depression doch aber ganz unverzweifelt sich zuwenden und mit einer von Depression weit entfernten Regung aufkeimender Hoffnung entgegenblicken. Was Wunder, dass sie angesichts des platonisch reflektierten Wesens des Wesens, der anamnestisch ermittelten Bestimmtheit seiner Negation oder maieutisch eruierten Positivität seines Nichts sich nicht damit begnügen, von ihm fürs unabsehbar Erste nichts weiter als abstrakte Befreiung und endgültige Erlösung zu erwarten, sondern unverweilt dazu übergehen, Vorstellungen von konkreter Befriedigung und schlussendlicher Erfüllung mit ihm zu verbinden.
Was Wunder, dass die platonische Verwandlung des Wesens aus einem weltverneinenden Nirgendwo in ein weltenthobenes Ideenreich, jene Umfunktionierung des Wesens, die es seiner kraft Negativität gewahrten reinen Transzendenz entreißt und modo obliquo der Erinnerung an das von ihm Verneinte doch noch für Zwecke der Orientierung im Diesseits instrumentalisiert, indem sie es als eine Arche begreifbar macht, in der sich das in der Flut der Korruption versinkende Schöne dieser Welt als Vorbild für ihre künftige Einrichtung bergen, als eine Insel, auf der sich das im Schiffbruch des Staatswesens zugrunde gehende Gute der Polis als Grundstock für eine Rekonstruktion des Gemeinwesens horten lässt – was Wunder, dass solche Umrüstung des Wesens in eine ebenso anheimelnde wie heimliche Schatzkammer, einen ebenso vielversprechenden wie urteilskräftigen, ebenso en detail mit dem Dasein versöhnenden, wie en gros über es Gericht haltenden Ort der unvergesslichen Erinnerungen und des bleibenden Eingedenkens die Untertanen dazu ermuntert, sich von ihrer Weltflucht weit mehr zu versprechen als bloß das Zurücklassen und Vergessen von allem, was Leid erregt und, weil es Lug und Trug ist, in Enttäuschung endet, und nämlich nichts Geringeres sich von ihr zu erhoffen als die zum Ideal geläuterte Reproduktion und zum Original verklärte Kopie des Zurückgelassenen und Vergessenen in aller leidvollen Vergangenheit entzogener und aller Täuschungsprozesse überhobener unvergänglicher Wirklichkeit oder zeitloser Wahrheit.
Allerdings – und hier machen die Untertanen des in Konkurs gegangenen Römischen Reiches einen ganz und gar unplatonischen Gebrauch von dem ihnen durch den Platonismus überlieferten Topos eines zur Schädelstätte der Erscheinungswelt und Sammelstelle ihrer bestimmten Negationen, kurz, zum Ideenreich entfalteten Wesens: Anders als der Platonismus wollen sie mit dem Ideenreich nicht der Erscheinungswelt den Spiegel vorhalten, wollen sie das mit ebenso paradigmatischen wie bleibenden Erinnerungen erfüllte Wesen nicht dazu nutzen, das schlechte Dasein und verderbte Bestehen mit dem Bild einer besseren Wirklichkeit, eines beständigen Guten zu konfrontieren und sich kriteriell auseinandersetzen zu lassen.
Auch wenn, wie im Zusammenhang mit dem Niedergang der Polis gezeigt, der praktische Impetus des Platonismus sich selbst ad absurdum führt, weil um eines Gegenprogramms zum falschen Procedere der Bürgerschaft, um einer Alternative zur politisch-ökonomischen Realität des Gemeinwesens willen Platon kraft des Rekurses aufs Wesen alle Praxis überspringt und das, was er von der Polis erhalten wissen will, als je schon unverbrüchlich gegeben und deshalb unmittelbar aktualisierbar setzt, während er das, was er an der Polis verändert sehen möchte, als ihr seit jeher fremd und äußerlich und deshalb kurzerhand von ihr abstrahierbar annimmt – auch wenn er also das an der Polis zu Rettende, um es retten zu können, aus allem genetischen und systematischen Zusammenhang mit allem übrigen vorweg heraussprengen muss und deshalb aber, statt es mittels List der Vernunft und Tücke des Objekts aus dem, was an der Polis verwerflich ist, entspringen lassen zu können, vielmehr gezwungen ist, das Verwerfliche mit militärischer Gewalt und bürokratischem Zwang aus dem Feld zu schlagen, um hiernach es, das zu Rettende, als das, was allein noch übrig bleibt, in Szene zu setzen – auch wenn der Platonismus, kurz, nicht einem pragmatischen Entwicklungsprozess, sondern einem dogmatischen Standgericht das Wort redet und sich als ein praktisch-politisches Unterfangen insofern gründlich desavouiert – im Ansatz und Prinzip bleibt er doch jedenfalls eine praxisorientierte Motion, weil er ja die Entfaltung des Wesens zu einem die Erscheinungswelt abbildlich spiegelnden oder vielmehr zur urbildlichen Selbstbespiegelung übersteigenden und in sich aufhebenden Ideenreich keineswegs in weltflüchtiger Absicht, nicht also etwa zu dem Zweck betreibt, sich eine Befreiung von der Erscheinungswelt verheißende Zuflucht zu sichern, sein Sinnen und Trachten einer zum irdischen Dasein alternativen Sphäre zuzuwenden, sondern weil er mit seinem Wissen vom Wesen, seinem Schauen der Wahrheit nichts weiter vorhat, als die Erscheinungswelt, der er durchaus verhaftet bleibt, neu und anders ins Auge zu fassen und ebenso sehr ein für ihre grundlegende Umgestaltung maßgebendes Kriterium wie sich selbst als den über die Umgestaltung entscheidenden und mit der Verfügungsgewalt eines Praxis durch Besserwisserei substituierenden philosophischen Königtums ins Spiel zu bringen.
Von solcher verquer-reformatorischen Anhänglichkeit an die Erscheinungswelt, solcher besserwisserisch-herrschsüchtigen Interessiertheit am irdischen Dasein sind nun aber die Untertanen des in Konkurs gegangenen Römischen Reiches ganz und gar frei beziehungsweise – in wörtlich zu nehmender Pointierung gesagt – himmelweit entfernt. Sie, die durch die katastrophalen Verhältnisse in der Erscheinungswelt, die fatalen Bedingungen des irdischen Daseins zur finstersten Verzweiflung Getriebenen und in abgrundtiefe Depression Gestürzten, sind, da ihnen Verzweiflung und Depression den weltflüchtigen Weg zum als reine Negation der Erscheinungswelt und offenbares Nichts des Daseins perennierenden Wesen weisen und das Wesen nun aber dank seiner platonischen Funktionalisierung zum Topos all dessen, was erhaltenswert an der Erscheinungswelt und wert ist, das Dasein zu überdauern, als Hort urbildlich bestimmter Negationen oder Sphäre zeitlos bleibender Ideen erscheint, alles andere als bereit, angesichts dieser Bestimmtheit der Negation und Idealität des Nichts ihre weltflüchtige Motion abzubrechen und eine Kehrtwendung zurück zur Erscheinungswelt oder hinein ins Dasein zu vollziehen, um dort die bestimmte Negation mit kritisch-reformerischem Impetus in Anschlag, die zeitlose Idee in chronisch-weltverbesserischer Absicht zur Geltung zu bringen.
Weil eben die fatale Mischung aus Verzweiflung und Depression, die ihnen den Weg zum Wesen weist, sie zugleich irreparabel mit der Erscheinungswelt auseinander gebracht, sie unheilbar ihrem irdischen Dasein entfremdet hat und ihnen jeden Rückweg zu dem, wovon sie sich abwenden, verlegt, ihnen jeden Rückgriff auf das, wovor sie flüchten, vergällt, sind sie vielmehr wild entschlossen, die durch die platonische Entfaltung des Wesens zur anamnestisch einsehbaren urbildlichen Gegenwelt oder philosophisch vorstellbaren mustergültig-alternativen Sphäre sich bietende Chance zu nutzen und, der Erscheinungswelt unwiderruflich den Rücken kehrend, zu jener das immanente Dasein ins transzendente Sein aufhebenden Gegenwelt, jener den Schein zum Wesen verklärenden alternativen Sphäre ihre Zuflucht und für alle Zeit oder vielmehr in alle Ewigkeit dort ihren Aufenthalt zu nehmen. Weit entfernt davon, dass sie mit der platonisch entfalteten Wesenssphäre noch ein die Erscheinungswelt betreffendes kriteriell-praktisches Interesse, eine rückwirkend funktionelle Absicht, verbänden, gilt ihnen das als urbildliches Abbild, als selbstreflexiver Spiegel des irdischen Daseins prospektierte Ideenreich nurmehr als Aufforderung zum definitiven Ortswechsel, besser gesagt, zum infiniten Transzendieren der Immanenz: Wie Narziss wollen sie dem realen Schein ihres Daseins entfliehen und in der idealen Realität seiner Spiegelung verschwinden, wie der taoistische Maler wollen sie in das vollkommene Bild, das sie von der Welt entwerfen, nur damit es die Welt als sein unvollkommenes Abbild verwirft, hinüberwandern.
Nicht, dass die Untertanen des in Konkurs gegangenen Römischen Reiches die ersten wären, die mit der immanenten Funktionalität des transzendenten Wesensbezuges brechen und das Wesen, das zeitlos vergangene Sein jenseits allen vergänglich gegenwärtigen Scheins, statt es als Mittel zur Positionierung und Orientierung in der Erscheinungswelt zu benutzen, vielmehr als ein Medium begreifen, in das sich aus der Welt des Scheins hinüberwechseln und in dem sich vor letzterer Zuflucht und Geborgenheit finden lässt. Schon der am Anfang der wesenskultlichen Bemühungen stehende Buddhismus vollzieht ja einen radikalen Bruch mit der ursprünglichen Funktionalität oder erscheinungsweltlichen Rücksicht der Wesenssphäre, deren die Erscheinungswelt disqualifizierende Indifferenz und das irdische Dasein entrealisierende Negativität ja eigentlich nur dazu dient, die sozialkritisch-naturkultliche Verneinung der reichtumsbildnerisch-theokratischen Ordnung durch die Unterschicht und deren Berufung auf ein dionysisch einfaches Leben und von allem Zwang zur Reichtumsbildung befreites subsistenzielles Genügen als die radikale Alternative zum Bestehenden, als die sie sich behauptet, zu entkräften und nämlich als auch nur ein Moment und Bestandstück jener erscheinungsweltlichen Illusion, jener Totalität des Scheins nachzuweisen, zu der sich sub specie des transzendenten Wesens die irdische Immanenz entwertet und entwirklicht. Von dem neuen Prinzip des als das reine Nichts der Welt erscheinenden oder vielmehr verschwindenden Wesens begeistert und hingerissen, verliert schon der buddhistische Aristokrat den unmittelbaren Zweck der wesensbezüglichen Veranstaltung, die Neutralisierung des die theokratische Gesellschaftsordnung und ihren Prospekt herrschaftlicher Reichtumsbildung in Frage stellenden sozialkritisch-naturkultlichen Impetus, aus den Augen und schickt sich zur Weltflucht an, macht Anstalten, Freund und Feind, dem von der fronenden Unterschicht bedrohten Duktus der gesellschaftlichen Ordnung ebenso wie dem Kultus eines natürlichen Lebens, mit dem die Unterschicht die Ordnung bedroht, als einem sub specie des Wesens offenbar Unwirklichen und evident Wertlosen den Rücken zu kehren.
Allerdings lässt die Unfasslichkeit und Abstraktheit, in der sich das neue Prinzip unmittelbar präsentiert, dies, dass aus Sicht des irdischen Daseins und erscheinungsweltlichen Bestehens das Wesen nichts weiter ist als absolute Negation der Welt, das reine Nichts an Dasein, den Weltflüchtigen in seinem Entschluss, der Welt den Rücken zu kehren und sich dem Nichts zuzuwenden, wenn schon nicht wankend werden, so immerhin doch innehalten und sich nach einem Motiv umsehen, das ihm Anlass gibt, mit der Weltflucht noch ein wenig zu warten, den Eingang ins reine Nichts, das in Ansehung der Welt das Wesen ist, noch ein bisschen hinauszuschieben. Und er findet dieses Motiv zum Verweilen in der aus Barmherzigkeit, aus Mitgefühl mit den Geschöpfen in genere und den Artgenossen in specie freiwillig übernommenen Aufgabe, den wegen seiner Unfasslichkeit und Abstraktheit nur erst esoterisch-elitären Wesensbezug oder Zug zum Nichts als exoterisch-universale Heilsperspektive zu konkretisieren und für jedermann fasslich vorzustellen. Bevor also der Weltflüchtige dem Nichts, das in Ansehung der Welt das Wesen ist, statt- und sich anheim gibt, übernimmt er mit anderen Worten die Aufgabe, dies Nichts, das die Wahrheit der Welt oder das Wesen ist, den Mitgeschöpfen nahe zu bringen beziehungsweise ihnen den als diskursive Negation der Welt, als prozessuale Abkehr von ihren Erscheinungen nachvollziehbaren Weg zu ihm zu weisen.
Damit aber stellt der Weltflüchtige nolens volens ein Verhältnis zu der Erscheinungswelt, der er den Rücken gekehrt hat, wieder her, und teils im allgemeinen die Schwierigkeit, die Heilsbotschaft vom Nichts der Welt, das das Wesen ist, gegenüber der Welt zur Geltung zu bringen, sprich, ihr zu vermitteln, teils im besonderen die Notwendigkeit, dem Dasein der Heilsbotschaft in der Welt die für den Vermittlungsprozess erforderliche Dauer zu verleihen, sprich, die Heilsbewegung institutionell zu sichern, als Bestandteil der Welt zu etablieren, sorgen – wie an anderer Stelle gezeigt – dafür, dass der Weltflüchtige, ehe er sich's versieht und ohne dass er weiß, wie ihm geschieht, dies als transzendenter Zweck der irdischen Veranstaltung behauptete Wesen durch die Immanenz refunktionalisiert und mehr denn je in ein Mittel zur Orientierung und Positionierung in der Erscheinungswelt verwandelt erfährt, dass er, kurz, die buddhistische Weltflucht zur hinduistischen Weltenfuge erstarrt und nach dem Motto des omnis negatio est determinatio die pauschale Verneinung des Scheins in eine graduelle Bejahung seines Seins, den Ausstieg aus dem heillosen Dasein in die scala sancta des Daseins selbst, das nihilistische Revokationsprinzip in einen hierarchischen Bestimmungsgrund verkehrt findet.
Mittlerweile aber ist die an geopolitisch anderer Stelle und unter sozioökonomisch anderen Bedingungen, nämlich im Einflussbereich der griechischen Polis, geübte Funktionalisierung des Wesensbezuges vor den Fall ihres praktischen Scheiterns gekommen und deshalb in die theoretische Explikation des Wesens zu einer Sphäre reiner Ideen, spezifischer gesagt, die Transformation des Wesens aus einem die ganze Welt für null und nichtig erklärenden transzendenten Prinzip in eine all das, was an der Erscheinungswelt gut und erhaltenswert scheint, von ihr als solcher wie Sein vom Schein unterscheidende kriterielle Alternative eingemündet. Statt wie in den Anfängen seiner aristokratisch-antidionysischen Bestimmung bloß reine Negation des irdischen Daseins, absolutes Nichts der Erscheinungswelt zu sein, ist dank der platonischen Überführung des Wesensbezuges aus einem Arete begründenden praktisch-ethischen Verhalten in ein den Grund zur Anamnesis legendes theoretisch-philosophisches Verhältnis das Wesen nunmehr eine Negation, die, was sie verneint, gleichzeitig als eine ihr entsprechende, das heißt, geläuterte und haltbar gemachte Position reaffirmiert, ein Nichts, das, was es vernichtet, ebenso wohl als ein in ihm aufgehobenes und zur Geltung gebrachtes Etwas erinnert und reproduziert.
Und dies Wesen, das sich zu einer Sphäre der mittels bestimmter Negation aufgehobenen Positionen entfaltet hat, zu einer Welt der Erscheinungen und Abbilder, die sich frei von dem, was sie entstellt und heteronomisiert, als Urbilder oder Ideen manifestieren – dies entfaltete Wesen finden nun also die Untertanen des in Konkurs gegangenen Römischen Reiches vor, da sie, von ihren Lebensumständen und Daseinsbedingungen zur Verzweiflung getrieben und am Boden zerstört, der Welt den Rücken kehren und in traditioneller Wendung Rekurs auf es, das – auch wenn die ganze Welt vergeht und all ihre Erscheinungen nichtig sind – in Ewigkeit bleibende, weil im apriorischen Vorhinein allen Entstehens und Vergehens, im ontologischen Jenseits allen Erscheinens und Verschwindens vorgestellte zeitlos vergangene Sein nehmen – keineswegs allerdings, um in gut platonischer Manier mit ihm im Sinn zurückzukehren und sich mit seiner Hilfe in der Erscheinungswelt zu reorientieren, sich auf seiner Grundlage ihr gegenüber neu zu positionieren, sondern um stante pede in es selbst überzuwechseln und in ihm als solchem ein- für allemal ihre Zuflucht zu suchen. Dies im Zuge seiner Funktionalisierung zum platonischen Ideenreich, zur lauteren Gegenwelt explizierte Wesen finden sie vor, wenn sie in voller Auflösung und wilder Flucht vor der Welt davonlaufen, getrieben von dem ganz unplatonischen und jeglichen funktionalistischen Kalküls unverdächtigen Drang, sich andernorts, in einer Sphäre, von der die böse Welt toto coelo ausgeschlossen ist, einer Transzendenz, die von der Immanenz salvatorisch entbindet, einem Jenseits, das allen Diesseits' unwiderruflich überhebt, einzustellen und eine Bleibe zu finden.
Wie sollte wohl angesichts der Fülle und Fasslichkeit des demnach als das Wesen Vorgefundenen, angesichts der idealischen Konkretheit und anamnestischen Vertrautheit, in der das zum Wesen zeitlos vergangene Sein sich dank seiner platonischen Explikation nunmehr darbietet, die mit ihm konfrontierten Untertanen noch etwas von dem Schauder, dem durch seine frühere Abstraktheit und Unfasslichkeit erregten Schrecken anrühren können, von dem sich die Pioniere der Weltflucht, die asketisch-buddhistischen Wesenssucher, befallen sahen? Wie sollte dies dem Charakter reiner Negation, dem Anschein eines absoluten Nichts entrissene und mit bestimmten Negationen, mit Seiendem, das den guten Grund dafür liefert, weltliche Erscheinungen für Nichts zu erkennen, erfüllte Wesen noch etwas von jener als horror vacui unbestimmten Angst wachrufen können, die den Weltflüchtigen bewog, fürs erste umzukehren und sich unter dem Vorwand, den anderen Geschöpfen im allgemeinen und den Artgenossen im besonderen die Botschaft vom heilsamen Nichts bringen zu wollen, weiterhin in der Welt aufzuhalten und gar wieder häuslich in ihr einzurichten? Wie sollte das so zu einer zeitlos besseren Welt, einer Reproduktion des Daseins, die sich als Original behauptet, einer Idealität, vor deren Urbildlichkeit alle Realität zum Abklatsch verblasst, entfaltete Wesen wohl verfehlen, den weltflüchtigen Untertanen vielmehr als unvergleichlich einladender Prospekt, als zur Desertion und zum Übertritt geradezu zwingende Gelegenheit vor Augen zu treten?
Dank seiner platonischen Vereinnahmung, seiner Verwandlung in eine kriterielle Instanz zur Unterscheidung von Schön und Hässlich, Wahr und Falsch, Gut und Schlecht, von dem an den Erscheinungen, was entstellender und irreführender Schein, und dem in ihnen, was zur Ordnung rufendes und wegweisendes Sein ist, hat das Wesen all seine elitäre Abstraktheit und esoterische Unfasslichkeit verloren und ist der exoterische, jedermann vor Augen stehende Hort alles Schönen, Wahren und Guten, der universale, für jedermann evidente Topos eines aller Fremdbestimmtheit, Täuschung und Vergänglichkeit des irdischen Daseins entrückten, aller Verstrickungen, Verführungen und Schicksale des Weltlaufs überhobenen scheinlosen Seins, ist ein anamnestisch aufgeschlagenes Buch, in das sich der nach Einsicht Dürstende nur zu versenken, oder, besser gesagt, ein idealisch aufgetaner Himmel, in den sich der um Einlass Barmende nur zu versetzen braucht.
Tatsächlich bezeichnen diese beiden Metaphern vom Wesen als einerseits einem aufgeschlagenen Buch und andererseits einem aufgetanen Himmel ziemlich genau das Spannungsverhältnis zwischen der herkömmlich-platonischen Lesart jenes qua Wesensbezug gehaltenen Gerichts über die Erscheinungswelt und seiner weltflüchtig-neuen Deutung durch die Untertanen des in Konkurs gegangenen Römischen Reichs, umreißen sie ziemlich zutreffend das Zugleich von Identität und Differenz zwischen traditionellem platonischem Heilungsversprechen und neuer soteriologischer Heilsverheißung. Zwar ist es die im Zuge seiner Funktionalisierung zum ideologischen Orientierungs- und politischen Entscheidungskriterium vollzogene platonische Entfaltung des Wesens zu einem Ort anamnestischer Urbilder, einem Hort eidetischer Wahrheiten, die den Untertanen einen Wesensbezug ermöglicht, der sich nicht in der Esoterik eines unendlich negativen Verdikts über das Dasein erschöpft, der nicht aufgeht in der elitären Entschlossenheit einer absolut grundlosen Abkehr von der Erscheinungswelt und bedingungslos desinteressierten Absage an sie, sondern der ihnen das Wesen als ein in bestimmten Negationen sich artikulierendes Gericht über das Dasein vor Augen rückt, der es ihnen in der universalen Aufgeschlossenheit eines die Erscheinungswelt mit dem ihr selbst abgeschauten Grund ihrer Verneinung konfrontierenden Soll, eines ihr selbst entnommenen und als ihr wahres Sein zum Beweis ihrer eigenen Nichtigkeit erhobenen Ideals sichtbar werden lässt.
Zwar ist in diesem Sinne auch für die Untertanen das Wesen, weil es die Welt in sich reflektiert, sie als die aus gutem Grund negierte in der Form eben dieses guten Grunds ihrer Negation in seiner Sphäre reproduziert, eine augenscheinliche Alternativversion, eine offenbare Gegenwelt, die, was am Dasein kritikwürdig, an der Erscheinungswelt verwerflich ist, ex negativo ihrer qua Wesensform sich behauptenden vorbildlichen Integrität oder urbildlichen Identität wahrnehmbar und erkennbar macht, und ist insofern auch für sie das Wesen ein kriterielles Reflexiv oder doktrinelles Objektiv, ein, wenn man so will, aufgeschlagenes Buch, das aufbewahrt, was vom Dasein, wenn es in seinem kritikwürdigen Präsens verschwunden und aufgehoben ist, an Perfectum bleibt, und in dem mit anderen Worten geschrieben steht, wie die Erscheinungen beschaffen sind, wenn sie dessen, was sie zum bloßen Schein verurteilt, des Mediums oder materialen Fundaments ihres Erscheinens und der durch es ihnen vindizierten intentionalen Vermitteltheit oder heteronomen Interessiertheit ledig und überhoben sind.
Aber gänzlich anders als der Platonismus und im Einklang mit der den Wesensbezug entfunktionalisierenden Wendung der asketisch-buddhistischen Bewegung, ihrer das Wesen zum absoluten Zweck substanzialisierenden weltflüchtigen Zielsetzung begreifen die Untertanen des Reichs nun dieses zu vorbildlicher Integrität oder urbildlicher Identität aufgehobene, ideale Dasein, dieses kraft wesentlicher Reflexion oder anamnestischer Reduktion Wahrheit vom Schein scheidende und als solche verkörpernde, originale Spiegelbild einer ihm gegenüber als Imitat, als Abklatsch erscheinenden Welt nicht als ein Mittel, um die letztere zur Ordnung zu rufen, nicht als ein Korrektiv, um das falsche Dasein an ihm zu bemessen, nach ihm zu beurteilen und in seinem Sinne umzugestalten, sondern vielmehr als den letzten Zweck des anamnestischen Erkenntnis- und Aufklärungsprozesses, als ebenso unwiederbringlich wie unwiderstehlich sich bietende Gelegenheit, das falsche Dasein hinter sich zu lassen und des als das wahre Sein erscheinenden originalen Spiegelbilds teilhaftig zu werden, sprich, in es überzuwechseln und ein Teil von ihm zu sein. Den an der heillosen Welt abgründig verzweifelnden und vor dem sinnlosen Dasein unendlich resignierenden Untertanen verwandelt sich mit anderen Worten das aufgeschlagene Buch in den aufgetanen Himmel, schlägt die Anamnesis unmittelbar in Gnosis um, erweist sich die Erkenntnis der Idee umstandslos als ein Akt der Liebe, die Wahrnehmung als gleichbedeutend mit dem Verlangen, sich mit dem Wahrgenommenen zu vereinigen und Geborgenheit und Erfüllung in ihm zu finden.
Was die Einsicht in das zur wahren Welt, zur Sphäre der Ideen entfaltete Wesen dem Geist beschert, will dieser nicht mehr in sich aufnehmen und bewahren, um es gegenüber der Erscheinungswelt kritisch zur Geltung beziehungsweise in ihr reformerisch zum Tragen zu bringen, sondern der Geist will vielmehr nichts weiter, als selber in dies Eingesehene Eingang finden, sich in es als in ein ebenso alternatives wie ihm gemäßes Medium versenken, eine toto coelo neue Existenz in ihm begründen. Von den ebenso heillosen Bedingungen wie sinnlosen Verhältnissen des imperial verfassten Daseins in die Flucht geschlagen und zum rückhaltlosen Auszug aus der Welt disponiert, nutzen die Untertanen dies beides, dass einerseits das als das wahre Sein behauptete jenseitige Wesen die diesseitigen Erscheinungen für Schein und als ein Ganzes des Scheins für nichts erklärt und sich andererseits dank seiner platonischen Funktionalisierung zum philosophisch-politischen Entscheidungskriterium in den Entfaltungsraum und Schauplatz eben jener in einer anamnestisch-spirituellen Rettungsaktion ihrer dialektisch-sokratischen Vernichtung entrissenen und zu Urbildern ihrer selbst, zu Originalen, die sich in ihrer mäontisch-materiellen Verfallenheit der Nichtigkeit schlechter Kopien, bloßer Abbilder überführen, kurz, zu Ideen aufgehobenen Erscheinungen verwandelt – nutzen also die Untertanen dies beides, die ontologische Entwertung und Entwirklichung der Erscheinungswelt durch das Wesen und die phänomenologische Aufhebung der Erscheinungswelt im Wesen, um die Erkenntnis des Wesens zu existenzialisieren, sprich, das heilsame Wissen von ihm zur heilsträchtigen Gnosis, zum exogamen Akt eines spirituellen Ausstiegs aus dem hierbei als Schein sich entlarvenden, zu nichts sich verflüchtigenden materiellen Dasein zu erklären.
Im ironischen Rückschlag erweist sich so aber die gnostisch-heilssüchtige Wendung, die die Untertanen des in Konkurs gehenden Römischen Reiches dem Wesenskult geben, als eine dem dionysischen Naturkult, gegen den der Wesensbezug einst aufgeboten wurde, vergleichbare, um nicht zu sagen parallele Aktion. Wie vormals die fronenden Knechte der theokratischen Monarchie in sozialkritischer Absicht gegen eine zu ihren Lasten veranstaltete herrschaftlich-maßlose Reichtumsproduktion auf ein von aller Reichtumsrücksicht entbundenes einfaches Miteinander, eine dem Füllhorn der Natur unmittelbar entspringende kommunale Subsistenz aus Brot und Wein rekurrierten, so aspirieren jetzt die verzweifelnden Untertanen des cäsarischen Imperiums mit weltflüchtiger Intention gegen ein ihnen zum Tort etabliertes haltlos-agonales Ausbeutungssystem auf eine allem irdischen Streit entzogene versöhnte Gemeinschaft, eine im Pleroma der Idee unwiderruflich eingekehrte kommunizierende Existenz aus Wissen und Wahrheit. Und wie vormals die vermeintlich vom Fluch des herrschaftlichen Reichtums befreiende naturkultlich-dionysische Zuflucht im Grunde doch nichts anderes war, als Reflex und Epiphänomen der durch die herrschaftliche Reichtumsproduktion entfalteten Naturbeherrschung und entfesselten Produktivität, mithin ein durch die letztere gesetzter schöner Schein, so ist auch jetzt die vorgeblich von der Fatalität kommerzieller beziehungsweise imperialer Ausbeutung erlösende ideenkultlich-platonische Sphäre in Wahrheit nichts anderes als abstrahiertes Moment und isoliertes Datum einer durch das kommerzielle oder imperiale Ausbeutungssystem geschaffenen ökonomischen Totalität und politischen Ordnung und setzt sich also dem gleichen Verdacht eines illusionärem Abstraktums und projektiven Abhubs aus wie jene naturkultliche Zuflucht.
Der wesentliche Unterschied zwischen dort der sozialkritisch-dionysischen und hier der weltflüchtig-gnostischen Heilsbewegung ist eben nur die Intervention des Wesens, ist dies, dass im Unterschied zum dionysisch-ekstatischen der angestrebte gnostisch-pleromatische Topos nicht als unmittelbares Diesseits erscheint, sondern als absolutes Jenseits vorgestellt wird, keine selbstvergessen begeisterte Materie, sondern materielos weltüberhobener Geist ist. Weil das, wohin sich die gnostische Weltflucht retten und was sie als das Sein geltend machen will, nicht mehr wie beim sozialkritischen Naturkult eine vom herrschaftlichen Frondienst dem Anschein nach leicht zu unterscheidende bäuerliche Selbstversorgung, eine von der herrschaftlichen Reichtumsproduktion scheinbar mühelos abtrennbare natürliche Subsistenz ist, sondern sich vielmehr als eine mit der reichtumsorientiert gesellschaftlichen Reproduktion ununterscheidbar amalgamierte arbeitsteilige Kooperative, als eine mit der kommerziell vermittelten herrschaftlichen Ausbeutung untrennbar verquickte stadtbürgerliche Selbstversorgungsgemeinschaft präsentiert, sehen sich die Weltflüchtigen gezwungen, auf das platonisch spezifizierte wesenskultliche Konzept der anamnestisch ermittelten Idee zu rekurrieren und mit seiner Hilfe ihr in die Erscheinungswelt eingelassenes schönes Sein und wahres Gut aus seinen phänomenalen Verstrickungen herauszubrechen, ihre salvatorische Klausel dem sie korrumpierenden und zur Unwirksamkeit verdammenden heillosen Kontext des irdischen Daseins zu entreißen, um es, das wahre Gut, die Integrität und Sichselbstgleichheit einer scheinenthoben wirklichen Gegenwelt, sie, die salvatorische Klausel, die Aussagekraft und Offenbarkeit einer allen irreführenden Begleittextes ledigen selbstredenden Heilsbotschaft gewinnen zu lassen.
Statt das, was sie gegen das falsche Dasein, die korrupte Welt ins Feld führen, als unmittelbare, kurzerhand vom Bestehenden abstrahierte Gegenposition proklamieren und anstreben zu können, müssen sie es vielmehr, um es überhaupt ins Feld führen zu können, als durch die Negation des Daseins vermittelte, zur wesenskonformen Bestimmung umständlich aufgehobene Alternativversion reklamieren, sprich, sich ins zeitenthoben anamnestische Gedächtnis rufen. Statt das Heil als materielles, auf der gleichen Ebene wie die Erscheinungswelt verharrendes und nur eine vermeintlich natürliche Fülle gegen die Tatsächlichkeit herrschaftlicher Fron geltend machendes Gegenmodell, als kultischen Prototyp und immanenten Status, behaupten zu können, müssen sie, um überhaupt seinen Heilscharakter sichtbar werden zu lassen, es erst einmal der Erscheinungswelt entreißen, es im ontologischen Sprung aus dem Kasus chronisch vergänglichen Scheins in den Modus zeitlos vergangenen Seins, aus der verstrickten Positivität seines Daseins in die bestimmte Negation des Wesens transponiert gewahren und es hiernach als aus dem Jenseits seines wahren Seins ins Diesseits der scheinbaren Wirklichkeit herüberscheinendes und in diesem Sinne spirituelles, einer toto coelo anderen Sphäre zugehöriges Urbild, als dogmatischen Archetyp und transzendenten Topos, ins Auge fassen.
Wie der um die Fruchtbarkeit des natürlichen Lebens kreisende sozialkritisch-dionysische Kult, so ist auch das auf die Vollkommenheit der städtischen Gemeinschaft fixierte reformpolitisch-platonische Dogma ein Abhub, ein Reflex, ein spontanes Nachbild eben der politisch-ökonomischen Wirklichkeit, gegen die es sich wendet, aber weil das dogmatisch beschworene, platonisch-wahre Sein anders als das kultisch zelebrierte, dionysisch-wahre Leben keinen aus der falschen Wirklichkeit resultierenden Aspekt von ihr abtrennt, sondern ein in sie integriertes Moment aus ihr herausreißt und weil es also sich nicht als eine von der falschen Wirklichkeit reaktiv abzulösende, ihr durch partielle Abstraktion zu entziehende natürliche Gegebenheit darstellen kann, sondern als eine aus der falschen Wirklichkeit reflexiv zu isolierende, mittels totaler Negation von ihr wegzudenkende künstliche Setzung vorstellig werden muss, weil es sich, kurz, mittels Verwesentlichung aus den Verstrickungen seines unmittelbaren Daseins befreien und als Wesenheit sui generis, als Idee, die ontologische Ebene wechseln muss, präsentiert es sich nun auch nicht als materieller Gegenentwurf zur herrschenden Erscheinungswelt, als von letzterer einfach abstrahierter und zu kultischem Eigenleben erweckter Widerschein und Abglanz, sondern manifestiert sich als spirituelle Vorlage zur herrschenden Erscheinungswelt, als deren in sich reflektiertes und zum gnostisch wahren Sein erklärtes Spiegel- und vielmehr Urbild.
Dass das platonisch entfaltete Wesen erstrebenswert ist, steht
für die weltflüchtigen Untertanen des in Konkurs
gegangenen Reichs außer Frage; fraglich ist dagegen seine
Erreichbarkeit. Diejenigen, die traditionell den Bezug zum Wesen
beanspruchen, die liturgische Aristokratie ebenso wie der
platonische Geistesadel, haben sich gründlich diskreditiert.
Dabei scheitert letzterer in der Hauptsache an seinesgleichen: am
römischen Patriziat, das mit seiner Expropriationsstrategie
das platonische Sanierungsprogramm mühelos aus dem Feld
schlägt und am Ende den Geistesadel auf die Rolle eines ihm
dienstbaren Lebensberaters und Sterbebegleiters
reduziert.
Dass wegen seiner ontologischen Differenz, wegen seiner Aufhebung ins Wesen das platonisch ermittelte und als Gelegenheit, sein Heil in der Weltflucht zu suchen, gnostisch beim Schopf gefasste schöne Sein und wahre Gute anders als der dionysische Befreiungs- und Erlösungszustand kein in natura erscheinender Prospekt, sondern eine in spiritu aufleuchtende Perspektive, nicht Paradies auf Erden, sondern Himmelreich, nicht natürliches Füllhorn, sondern göttliches Pleroma ist, bedeutet dabei keineswegs eine Einbuße an Evidenz und Realität, tut seiner Überzeugungs- und Anziehungskraft mitnichten Abbruch. Teils und in genere die spekulative Tatsache, dass die im Wesen aufgehobene himmlische Alternative zum irdischen Sein, die der Erscheinungswelt entrückte Idee, eben wegen ihrer Wesensförmigkeit den modallogischen Spieß umkehrt und in dem Maß, wie sie sich selbst als zeitloses Sein und maßgebendes Original zu verstehen gibt, die irdische Wirklichkeit und Erscheinungswelt zum chronischen Schein und nichtssagenden Abklatsch erklärt, teils und in specie der historische Umstand, dass dank der platonischen Funktionalisierung des Wesens zu einem die Erscheinungswelt kriteriell aufhebenden Ideenreich die himmlische Alternative kein Buch mit sieben Siegeln, kein hinter schierer Negativität verborgenes Geheimnis, kein Nirwana mehr ist, sondern sich als aufgeschlagenes Buch, als in ihrer Wahrheit und Wirklichkeit offenbare Objektivität, als Fata Morgana präsentiert – dies beides also sorgt dafür, dass den verzweifelten und vor der Welt resignierenden Untertanen ihre wesenskultlich-spirituelle Erlösungsperspektive nicht weniger aussichtsreich und annehmbar erscheint als weiland den fronenden und von der Welt geschundenen Knechten ihr naturkultlich-materieller Heilsprospekt.
Wenn die Verlagerung der Fluchtperspektive aus der Materialität einer dionysisch befreiten Natur in die Spiritualität eines gnostisch entfalteten Himmels für die Betreiber und Anhänger dieser gnostisch gewendeten Weltflucht ein Problem mit sich bringt, dann nicht das der Annehmbarkeit, sondern der Erreichbarkeit des himmlischen Ziels, nicht das der schönen Aussicht, sondern der Überwindung der schrecklichen Kluft, die von solcher Aussicht trennt. Tatsächlich hat die zuerst aristokratisch-aretologische und dann platonisch-anamnestische Funktionalisierung des Wesensbezuges diejenigen, die ihn in ihrer Person ursprünglich herzustellen und durch ihre Haltung traditionell zu verkörpern beanspruchen und die insofern den Kontakt des irdischen Diesseits zum jenseitigen Wesen zu gewährleisten, die Verbindung der Erscheinungswelt zu jenem transzendenten Sein zu repräsentieren scheinen, mittlerweile gründlich desavouiert und als solch vorgebliche Repräsentanten des Wesens, als die vermeintlichen Verbindungsglieder oder Mittler zwischen der Immanenz des chronisch vergänglichen Daseins und der Transzendenz des zeitlos vergangenen Seins allen Kredit verspielen lassen.
Wenn die Aristokratie des in die Krise seiner eigenen Maßlosigkeit geratenen theokratischen Systems die radikale Sozialkritik des dionysischen Naturkults durch die noch unvergleichlich radikalere Negativität des Natur und Gesellschaft gleichermaßen, das bäuerlich einfache Leben ebenso wie die herrschaftliche Schöpfung von Reichtum, für substanzlosen Schein, für null und nichtig erklärenden Wesenskults aus dem Feld schlagen kann, dann ja nur deshalb, weil sie auf ein wesenskonform höheres Selbst pocht, das, wie sehr auch in die Erscheinungswelt eingelassen und verstrickt und wie sehr in all seinen empirischen Erscheinungen und praktischen Positionen dem Schein verfallen und von nicht minder illusionärer Beschaffenheit als die ganze erscheinungsweltliche Sphäre, doch aber im Grunde seiner Abkunft aus dem Wesen, seines Entspringens aus dem zeitlos vergangenen Sein nicht von dieser Welt und von deren Entwirklichung und Entwertung durch jenes als zeitlos vergangenes Sein perennierende Wesen folglich auch nicht betroffen ist. Wenn die Aristokratie die reine Negativität des alle irdische Wirklichkeit irrealisierenden und alle weltlichen Werte disqualifizierenden Wesens beschwören kann, ohne ihrerseits dem Irrealisierungsverdikt restlos zu verfallen und sich rückhaltlos vom Disqualifizierungssog mitgerissen zu finden, so, weil sie im Prinzip, im als Fehltritt, Untat, Vergehen wohlverstandenen Ursprung ihres innerweltlichen Daseins, aus dem Wesen, dem außerweltlichen Sein, das das Dasein für Schein erklärt, hervorgeht und, wie sehr auch durch ihre Scheinverfallenheit von ihm geschieden, doch aber auf es zu rekurrieren und in es zurückzukehren vermag, sofern es ihr gelingt, sich dem Dasein, in das sie sich bis zum Selbstverlust verstrickt hat, wieder zu entreißen, sich aus der Erscheinungswelt, in der sie ihr Wesen bis zur Unkenntlichkeit verloren hat, zu rekuperieren.
Freilich macht in seiner westlichen, durch die handelsstädtischen Bedürfnisse der Polisgemeinschaft bestimmten Spielart der aristokratische Wesenskult keinerlei Gebrauch von dieser dem einzelnen, dem Subjekt, wegen seines Ursprungs aus dem Wesen gegebenen Möglichkeit zu einer restitutio in integrum seiner Herkunft, sprich, einer Abkehr von der sub specie der Wesenssphäre als chronisch vergänglicher Schein bloßgestellten Immanenz und Hinwendung zu dem aus Sicht der Erscheinungswelt als Transzendenz offenbaren zeitlos vergangenen Sein. Weit entfernt davon, sich um eine Realisierung der Möglichkeit, eine Aktualisierung des weltflüchtigen Potentials, das sie birgt, zu bemühen, funktionalisiert die Aristokratie der Polis solche Möglichkeit vielmehr nur, instrumentalisiert sie die Potenzialität, die sie dem sie in Anspruch nehmenden Individuum, dem auf sie pochenden Subjekt verleiht, um dem letzteren hier und jetzt, unter den ökonomischen Bedingungen und in den politischen Verhältnissen der Polis Einfluss und Ansehen zu verschaffen. Die Aristokratie nutzt also den Wesensbezug einzig und allein, um ihren Mitgliedern jenen Anspruch auf ein als Arete bestimmtes detachiert höheres Selbstsein zu verschaffen, das, wie es einerseits ihnen gestattet, über ihren fremdbürtig-territorialherrschaftlichen Reichtum im Kontext der Polis frei und ohne Rücksicht auf die von Haus aus mit ihm verknüpften Obligationen zu verfügen, so andererseits allerdings auch der wegen seines bloßen Anspruchscharakters, seiner inexpliziten Behauptung es beglaubigen müssenden beziehungsweise bestreiten könnenden Bürgerschaft die Gelegenheit bietet, jene freie Verfügung der Aristokratie über ihren territorialen Reichtum in das Prokrustesbett eines sozialverträglichen Umgangs mit der Polis beziehungsweise gemeinschaftsdienlichen Wirkens für sie zu zwängen. Die Aristokratie gebraucht mit anderen Worten den Wesensbezug, nicht um ihn explizit zu machen, sondern um ihn als implizite Begründung für die politische Machtstellung und das soziale Prestige ihrer Mitglieder in den Fokus des qua Liturgie ausgetüftelten Modells einer der handelsstädtisch-maritimen Gemeinschaft durch ihre genaue Gegenspielerin, die fronwirtschaftlich-territoriale Herrschaft, zuteil werdenden militärischen Stützung und politischen Führung zu verwandeln.
Explizit gemacht und zum Gegenstand philosophischer Reflexion oder theoretischer Analyse erhoben wird der Wesensbezug erst in der die Spätphase der Polis markierenden platonisch-anamnestischen Ideenlehre, die in Reaktion auf das im dilemmatischen Wechselspiel aus demokratischer Tyrannei und oligarchischer Despotie offenkundige Scheitern des liturgischen Führungsanspruchs der Aristokratie die im aretologisch-höheren Selbstsein implizierte Wesensfülle als solche zu thematisieren und inhaltlich zu entfalten strebt, um in der beschriebenen Weise einer Erhebung der Wesenssphäre zum paradigmatisch-maßstäblichen Objektiv oder Kriterium der Erscheinungswelt ein Instrument zur Reform und Neuordnung der letzteren an die Hand zu bekommen. Weil die durch den Wesensbezug angeblich mit dem liturgischen Geiste höheren Selbstseins erfüllte territoriale Aristokratie, statt mit wesenserfüllt freiem Blick und detachiertem Engagement der Polis wohl zu tun und alles in ihr aufs Beste zu bestellen, vielmehr im involviert-eigennützigen Verein mit der Handelsfunktion die Polisgemeinschaft in ökonomische Klassen zersprengt und durch eine den inneren Konflikt mit äußeren Sedativa kurzfristig zwar lindernde, langfristig aber immer nur verschärfende hegemoniale Machtpolitik und Ausbeutungsstrategie ins Verderben führt, sucht nun die platonische Anamnesis mittels direkten Rekurses auf das von der Aristokratie ebenso offenkundig verratene wie stillschweigend behauptete Wesen selbst jene Elemente des von pathologischer Korruption heimgesuchten politisch-ökonomischen Organismus beziehungsweise jene Momente des von chronischen Infektionen befallenen erscheinungsweltlichen Corpus zu ermitteln und zu isolieren, die, für sich genommen, aus dem falschen Ganzen herausgebrochen und zur abstrakten Integrität eines in sich geschlossenen Systems totalisiert, die Gemeinschaft zu sanieren, die Polis zu heilen versprechen.
An der von der alten Aristokratie initiierten Funktionalisierung des Wesensbezuges, seiner Instrumentalisierung zur Rechtfertigung ökonomischer Verfügungsgewalt und politischer Machtansprüche, ändert also auch die platonische Wendung, die dem politischen Selbst abgeforderte philosophische Reflexion seines Wesensgrundes, die Überführung des im Tun des Rechten, in Arete, implizierten formalen Wesensbezuges in ein zum Wissen des Wahren, zur Idee, entfaltetes materiales Wesensverhältnis nichts. Wie die alte aristokratische Führung will auch die neue platonische Intelligenz durch die Berufung aufs transzendente Wesen Ordnung in der irdischen Immanenz schaffen, in der Erscheinungswelt mit dem realen Schein heteronomer Bestimmtheit aufräumen und die ideale Seinskonformität eines autonomen Bestehens erwirken – nur, dass jetzt an die Stelle des alten, von Ruhmsucht, vom Streben nach der Anerkennung der Mitbürger begeisterten Adels, des von Arete erfüllten Liturgen, der von der Reflexion geleitete und nichts als der Wahrheit verpflichtete Geistesadel, der von der Idee erfüllte Philosoph tritt.
Und wie vormals die aristokratisch verfasste, durch ihr implizites Verhältnis zum Wesen, durch Arete, privilegierte Führung scheitert nun aber auch die platonisch instruierte, durch ihr explizites Wissen vom Wesen, durch die Idee inspirierte Intelligenz: Die theoretische Projektion des Philosophen, sein auf die heilsame Reduktion, das Gesundschrumpfen des Gemeinwesens abgestelltes Vorhaben eines auf nichts als auf eigene subsistenzielle Arbeit gegründeten Auskommens erweist sich als ebenso untauglich, in der Welt des Stadtstaats für Einheit, Frieden und Bestand zu sorgen wie zuvor das praktische Engagement des Liturgen, sein auf die Sanierung des Gemeinwesens durch hegemoniale Expansion hinauslaufendes Bemühen um einen aus nichts als aus fremdem kommerziellem Gewinn resultierenden Wohlstand.
Aber der platonische Philosoph scheitert sogar weit gründlicher noch als der aristokratische Liturg: Während der letztere mit seinem aretologisch-höheren Selbst immerhin praktisch-politisch die Macht ausübt und den Poliskarren eigenhändig in den Dreck fahren beziehungsweise das Staatsschiff in eigener Person in die Untiefen steuern darf, kommt der erstere mit seinem ideologisch-höheren Wissen gar nicht erst zum Zug und bleibt, weil die soziale Praxis und politische Wirklichkeit partout nichts von ihm wissen will, in seiner anamnestisch-theoretischen Sphäre kläglich stecken. Wie sich zeigt, ist die vergängliche Erscheinungswelt an der ewigen Idee, die ihr der platonische Geistesadel mahnend vorhält und als Paradigma expliziert, um sie zum Ausgangspunkt und Kriterium einer durchgreifenden sozialen Reform und politischen Neuorientierung zu machen, so wenig interessiert und ist für sie so wenig zu begeistern, dass es ihm, dem durch die Mobilisierung des Wesensbezuges und Entfaltung der Wesensfülle als Erbe der aristokratischen Liturgie sich empfehlenden philosophischen Geistesadel, gar nicht erst gelingt, die Akademie beziehungsweise das Lyzeum, allwo er sich sein Rüstzeug geschmiedet hat, zu verlassen und auf dem Markt, wo er die geschmiedete Rüstung zum Einsatz bringen müsste, in Erscheinung zu treten, geschweige denn, Fuß zu fassen.
Das Beschämendste und zugleich Bedrängendste an der Sache aber ist, dass dies Misslingen nicht nur und rein negativ seinen Grund im Desinteresse der stadtstaatlichen Welt, in ihrer fehlenden Begeisterung für ein radikales soziales Umdenken und grundlegende politische Reformen hat, sondern einer quasi positiven Ursache geschuldet ist, nämlich der Existenz einer mit dem platonischen Geistesadel konkurrierenden und dessen potenzielle Macht als vielmehr ihr Erbteil aktuell reklamierenden anderen Führungsschicht, sprich, dem spektakulären Aufstieg und revolutionären Wirken der als Patriziat verfassten römischen Aristokratie. Wäre es bloß die unheilbare Korruptheit der sich in ihren Widersprüchen und Konflikten mittlerweile wie zu Hause fühlenden Welt, ihre Verstricktheit in die Krise, ihre Gewöhnung an die Krankheit, was die Wesensverkünder in ihrem von der Idee, dem Abbild, das nach Maßgabe seiner Seinsreduktion Urbild ist, erfüllten Gestaltungsanspruch scheitern lässt, diese könnten sich auf ihrem als anamnestischer Lehnstuhl wohlverstandenen theoretischen Lehrstuhl bequem zurücklehnen und, der Schönheit ihres Schauens, Wahrheit ihres Wissens und Güte ihres Wollens gewiss, die der Besserung, ganz zu schweigen von Heilung, sich verweigernde schlimme Welt sich selbst überlassen.
Tatsächlich aber ist ja, was die guten Absichten des platonischen Geistesadels vereitelt und ihr Sanierungsprogramm zur Unwirksamkeit verurteilt, nicht einfach die Erscheinungswelt selbst, das dem Eingriff sich verweigernde Objekt, der an sein Leiden sich klammernde Patient, sondern ein mit dem platonischen Geistesadel um die Behandlung der Erscheinungswelt konkurrierender alternativer Therapeut, ein mit seinem Heilsversprechen dem Objekt sich unwiderstehlich aufdrängendes anderes Subjekt, ein den Patienten durch seine nicht sowohl philosophisch vermittelte als vielmehr charismatisch gezielte Zuwendung im Nu für sich einnehmender praktischer Arzt. Kaum dass der platonische Geistesadel sich ans Werk machen und die stadtstaatliche Erscheinungswelt auf eine wesenskonforme Fasson reduzieren und gesundschrumpfen will, findet er sich auch schon mit einer alternativen, echten Aristokratie konfrontiert, der patrizischen Oberschicht Roms, die nicht aus dem Vorsatz und Prinzip des idealischen Wesens, sondern unter der Vorgabe und Kuratel der genetisch Gewesenen, nicht mit anderen Worten dank dem Wesen entlehnter Arete, sondern kraft den Ahnen geschuldeter Pietät agiert und die dem städtischen Gemeinwesen ganz ebenso Heil und Segen zu bringen beansprucht wie er selbst.
Anders allerdings als er, der platonische Geistesadel, setzt das römische Patriziat Heil und Segen nicht etwa in eine ökonomische Reduktion und ein reales Gesundschrumpfen des städtischen Gemeinwesens, sondern im genauen Gegenteil in dessen militärische Expansion und imperiale Bereicherung. Dieser radikale Unterschied in der Perspektive und vielmehr diametrale Gegensatz in der Orientierung erklärt sich gleichermaßen aus dem differenten historischen Ort und der divergenten ideologischen Motivation der beiden gesellschaftlichen Gruppen. Der platonische Geistesadel reagiert auf das Scheitern einer Aristokratie, die sich aus Arete, aus prätendierter Liebe zum Wesen, genötigt sieht, ihre ökonomische Kraft und politische Macht in den Dienst der Handelsstadt zu stellen, und die dabei erleben muss, wie die handelsstädtische Entwicklung soziale Verwerfungen und politische Konflikte heraufbeschwört, die wiederum sie, die Aristokratie, zu systemsprengenden Interventionen und zerstörerischen Rettungsversuchen anstacheln. Die Reaktion des platonischen Geistesadels auf dieses Scheitern besteht in dem Plan, nach Maßgabe einer aufs Wesentliche, auf die Idee, reduzierten Wirklichkeit die Handelsstadt ihrer verderblichen kommerziellen Dynamik zu entkleiden und in eine mangels äußerer Abhängigkeiten und heteronomer Einflüsse ebenso stabile wie sterile Überlebensgemeinschaft zu überführen.
Das römische Patriziat dagegen, eben erst als neue, unverbrauchte Kraft auf dem handelsstädtischen Schauplatz erschienen, zieht aus dem Scheitern der athenischen Aristokratie eine ganz andere Konsequenz oder kommt solchem Scheitern, besser gesagt, zuvor, indem es aus Pietas, aus redressierter Liebe zu den Ahnen, seine ökonomische Kraft und politische Macht dazu nutzt, den dynamischen Kern des Gemeinwesens, die kommerzielle Funktion, so rasch wie möglich an die Kandare zu nehmen und als Hilfsfunktion, als abhängiges Faktotum in den Dienst der von ihm, dem Patriziat selbst, mittels militärischer Expansion und kolonialistischer Expropriation betriebenen politischen Karriere und ökonomischen Bereicherung der Stadt zu stellen. Weil es das Heft selbst in die Hand nimmt, der kommerziellen Funktion die Initiative entreißt, kann das Patriziat den ökonomischen Verwerfungen und politischen Konflikten, die das indirekte Bereicherungsverfahren kommerzieller Provenienz mit sich bringt, erfolgreich vorbeugen beziehungsweise die Fehlentwicklungen und Krisen, die seine eigene direkte Ausbeutungsstrategie heraufbeschwört, in eigener Regie korrigieren oder nach Gutdünken managen und beweist so eine Kontinuität und Effektivität, eine Durchhaltefähigkeit und Leistungskraft, die den Erfolg und die Haltbarkeit des vormals von der athenischen Aristokratie gestützten und beschirmten kommerziell dominierten Polisunternehmens weit in den Schatten stellen und dementsprechend auch ihm, dem von Pietas erfüllten römischen Patriziat, eine unvergleichlich größere Anhänglichkeit und Kooperationsbereitschaft der gesamten Gemeinschaft, der immer wieder halbwegs entschädigten Opfer ebenso wie der immer neu mit Gewinn bedachten Nutznießer des Systems, sichern, als die von Arete geleitete athenische Aristokratie sie von der Bürgerschaft der Polis, den immer wieder in Not gestürzten Tagelöhnern und Handwerkern ebenso wie den immer neu im Namen des Gemeinwohls geschröpften Handeltreibenden, je erwarten durfte.
Was Wunder, dass das römische Patriziat mit seinem Erfolgsrezept in Sachen Sanierung des Gemeinwesens seinen Konkurrenten, den platonischen Geistesadel, nicht sowohl konfrontiert als vielmehr regelrecht überrollt und letzterer keine Chance hat, seinem in praxi unendlich überlegenen Konkurrenten etwas Nennenswertes entgegenzusetzen. Während der platonische Ideenkult im Bemühen, aus dem Scheitern der alten Aristokratie die Lehre einer Ausschaltung der für das Scheitern – leider allerdings auch für das Gedeihen – der Handelsstadt verantwortlichen Faktoren zu ziehen, dem Gemeinwesen nichts weiter zu bieten hat als ökonomischen Verzicht und politische Einschränkungen, kann der patrizische Ahnenkult dank seines Versuchs, dem Scheitern der handelsstädtischen Unternehmung durch deren Umrüstung in eine ihren territorialstaatlichen Lebensraum mit militärischer Gewalt und bürokratischem Zwang direkt zur Kasse bittende Ausbeutungsmaschinerie zuvor zu kommen, das Gemeinwesen mit der immer neuen Aussicht auf Reichtum und Macht betören.
Und nicht nur die Interessenten und potenzielle Gefolgschaft schnappt mit seinem qua gewinnträchtige Expropriationsstrategie erfolgreichen Sanierungsprogramm das römische Patriziat dem platonischen Geistesadel weg, es setzt auch ihn selbst in wachsendem Maße unter Bewährungsdruck und macht es ihm immer schwerer, sich als eine von der Wahrheit und Haltbarkeit ihrer alternativen Orientierung überzeugte Gruppe zu behaupten. Nicht genug damit, dass die von Pietas erfüllte neue Aristokratie die handelsstädtische Gemeinschaft, die civitas einschließlich Plebs, mühelos auf ihre Seite bringt und immer neu zum Engagement im imperialen Ausbeutungswerk zu bewegen versteht, sie macht es zugleich den Erben der von Arete geleiteten alten Aristokratie zunehmend schwerer, sich dem Sog des ungeheuren Erfolgs der Konkurrenten zu entziehen und, statt kurzerhand zu ihnen überzulaufen und sich nach Möglichkeit mit ihnen gemein zu machen, vielmehr als mit eigenem Wissen und Wollen begabte Subjekte sui generis oder besser proprio auctoritate die Stellung zu halten.
So groß ist tatsächlich der Sog, den die erfolgreiche römisch-patrizische Konkurrenz auf die platonisch-philosophischen Wesensvertreter ausübt, dass diese, statt sich, wenn schon nicht der praktisch-effektiven Umsetzung, so wenigstens doch der theoretisch-reflexiven Entfaltung ihrer Wesensschau, ihrer Idee, widmen zu können, vielmehr in wachsendem Maße vor der vordringlichen Aufgabe stehen, sich persönlich gegen jene Konkurrenz abzugrenzen, sprich, sich gegenüber deren ebenso blendend präsenter wie überwältigend dominanter Identität ihrer spezifischen Differenz, ihres wesensbestimmten Selbstseins zu versichern. Weil von der ebenso integrativen wie expansiven Existenz der nicht weniger ökonomisch florierenden als politisch triumphierenden patrizischen Oberschicht eine schier unwiderstehliche Anziehungskraft ausgeht, haben die platonischen Möchtegernführer von Gnaden der Wesensschau gar nicht mehr die Muße, sich um ihr eigentliches Geschäft, die wenn schon nicht praktische, so wenigstens doch theoretische Bewahrheitung und Verwirklichung der Idee, zu kümmern, und haben vielmehr alle Hände voll zu tun oder, besser gesagt, nichts anderes mehr im Kopf, als jener schier überwältigenden Attraktivität der Konkurrenz mit allen Kräften der Person und allen Mitteln des Charakters Widerstand zu leisten und eine vom typischen Zustand der Herrschenden emanzipierende conditio philosophica für sich geltend zu machen beziehungsweise sich in einer von der falschen Verfassung der Mächtigen dieser Welt dispensierenden constitutio vera zu behaupten.
Je nachdem, worauf sich diese Selbstbehauptungsstrategie kapriziert, ob sie also die spezifische Differenz und eigene Konstitution der vom Wesensbezug geprägten Existenz eher auf der sensuell-leiblichen, der intellektuell-geistigen oder der spirituell-moralischen Ebene der Person nachzuweisen versucht, schlägt sie eine diätetische, kritische oder moralische Richtung ein und etabliert sich als Hedonismus, Skepsis oder Stoa. Entweder sie versucht mit anderen Worten, das aufs Wesen geeichte Selbst im Maßhalten des leiblichen Individuums, seiner diätetischen Immunität gegen die fleischlichen Versuchungen und sinnlichen Ausschweifungen der ihren patrizischen Herren willenlos hingegebenen Erscheinungswelt sichtbar zu machen, oder sie zielt darauf ab, dies vom Wesen geprägte Selbst in der Urteilskraft des subjektiven Geistes, seiner kritischen Distanz zur blinden Affirmation und dogmatischen Gewissheit der ebenso restlos mit der Erscheinungswelt identifizierten wie von ihrer erfolgreichen Manipulation okkupierten patrizischen Herren sich bewähren zu lassen, oder aber sie konzentriert sich darauf, dies wesensfundierte Selbst in der Apathie der persönlichen Seele gegenüber den korrumpierenden Einflüssen und desorientierenden Ansprüchen der die patrizischen Herren engagierenden und motivierenden Erscheinungswelt unter Beweis zu stellen.
Egal aber, ob die auf die spezifische Differenz ihres Wesensbezuges weniger explizit pochenden als implizit bauenden platonisch-philosophischen Geister in ihrem Bemühen um Selbstbehauptung auf die Karte sensuell-diätetischer Zurückhaltung, intellektuell-kritischer Distanz oder spirituell-moralischer Integrität setzen, stets sind sie unter dem Eindruck jener in den patrizischen Herren gestaltgewordenen übermächtigen Konkurrenz bereits um ihre wesentliche Autonomie gebracht, finden, statt das Maß ihrer Selbstgleichheit im geschauten Wesen, in der Wahrheit der der Erscheinungswelt entrissenen Idee zu haben, vielmehr den Maßstab ihres Vergleichs in der heteronomen Beziehung zu eben jener übermächtigen Konkurrenz und sind deshalb im Kern oder Grunde ihres gegen die Konkurrenz behaupteten Selbstseins ebenso sehr mit ihr als systematischem Typus identifiziert wie durch sie als empirische Norm definiert. So gewiss es die Versuchungen und Ausschweifungen patrizischer Opulenz, die Positivismen und falschen Gewissheiten patrizischer Idolatrie und die Auslöser und Triebfedern patrizischer Korruption sind, wogegen sich unter Berufung auf sein besseres Wissen, seine Wesensschau, das philosophische Selbst verwahrt, so gewiss erweist sich dies patrizische Gegenüber, gegen das es sich verwahrt und dem es sich in actu der Verwahrung doch zugleich zuwendet und öffnet, nun als das in soghaft-faszinierender Dominanz, in sieghaft-blendender Präsenz organisierende Zentrum des Selbst und verwandelt sich das reklamierte bessere Wissen, das geschaute Wesen, aus einem sichtbaren Prospekt, einem objektiven Anhalt des wesentlich mit ihm beschäftigten Geistes und Selbstdenkers in die subjektive Reserve, den unsichtbaren Rückhalt des mit nichts sonst als mit heteronomen Bedingungen und differenten Erscheinungen befassten Beobachters und Bedenkenträgers.
Diese durch die Macht und Anziehungskraft der patrizischen Herrschaft bewirkte Umfunktionierung des platonischen Geistes aus einem monomanischen Wesensschauer in einen idiosynkratischen Selbstdenker, aus einem Theoretiker, der in der Vorstellung einer idealen gesellschaftlichen Herrschaft seine objektive Identität findet, in einen Kritiker, dem jene zum subjektiven Abwehrmechanismus, zur persönlichen Einstellung verflüchtigte Vorstellung nurmehr dazu dient, an der gesellschaftlich herrschenden Realität Anstoß zu nehmen und sich immun gegen den mit solcher Realität vertrauten und ihrer mächtigen patrizischen Typus zu behaupten, Distanz zu ihm zu wahren und sich gar frei von ihm zu erkennen – diese Umfunktionierung also des auf eine alternative, ideale Welt reflektierenden platonischen Philosophen in den mit der idealen Welt ebenso unvergesslich wie unerinnerbar im Rücken oder vielmehr in der mentalen Reserve von der alternativlos einen Welt ebenso okkupierten und faszinierten wie von ihr abgestoßenen und gegen sie sich verwahrenden epikuräisch-skeptisch-stoischen Moralisten – sie also wird in dem Maße vollends unwiderruflich, wie der patrizische Typus selbst, durch seinen eigenen ökonomischen Erfolg aus dem politischen Rennen geworfen und nämlich vom cäsarischen Apparat und seinen Chargen ersetzt, in der durch keine Pietas, keine praktische Verantwortung für das Gemeinwesen mehr kontrollierten und disziplinierten Opulenz, Idolatrie und Korruption, die sein Erbteil sind, zu ertrinken droht, nach einem Halt oder Zügel sucht und diesen ausgerechnet, aber mit der Logik des nunmehr beiden gemeinsamen Schicksals politischer Funktionslosigkeit, in den transzendentalen Positionen des gegen ihn sich verwahrenden und aber in solcher Verwahrung seiner Transzendenz, seiner Idee, verlustig gegangenen und auf ein moralistisches Vexierbild, einen spiritus refractor seines patrizischen Konterparts reduzierten platonischen Selbstes findet.
Von den Konsequenzen seiner in funktionslosem Wohlleben endenden Karriere vor den Fall sei's schrankenloser sinnlicher Zerstreuung, sei's widerstandslosen geistigen Zerfalls, sei's haltloser moralischer Auflösung gebracht, rekurriert der Patrizier von sich aus und begierig auf jene seiner eigenen vorbehaltlosen Immanenz gegenüber leibhaftige Immunität reklamierende, intellektuelle Distanz wahrende und gar spirituell frei sich behauptende Gegenposition eines von der Erfahrung der Transzendenz, vom Bezug zum Wesen, geprägten philosophischen Selbstseins, um in ihm sei's den Maßstab für ein den Leib sanierendes diätetisches Maßhalten, sei's das Kriterium für eine den Geist zusammenhaltende kritische Identität, sei's das Prinzip für eine die Seele rettende moralische Integrität zu finden. Vom lasziven, fetischistischen, dissoluten patrizischen Subjekt vollständig in Anspruch genommen, wird das philosophische Selbst kraft seiner zum charakterologischen Widerstand, zum idiosynkratischen Behauptungsgestus niedergeschlagenen und verflüchtigten Wesensfundiertheit zu einem exzentrischen Halte- und Kontrollpunkt, der durch Hedoné die Laszivität zu moderieren, durch Epoché den Fetischismus zu demontieren, durch Apathie die Dissolution zu reduzieren dient.
Sowenig aber das philosophische Selbst mehr sein kann als eben nur der Moderator, Integrator, Regulator des außerhalb seiner und unabhängig von ihm subsistierenden patrizischen Daseins, das marginale Reflexiv oder die transzendentale Form eines für sich seienden fremden Inhalts oder empirischen Subjekts, sowenig kann es den Prozess der Zerstreuung, des Zerfalls und der Auflösung, in den die Erscheinungswelt dies empirische Subjekt dank der Macht, die es über sie gewinnt, paradoxerweise verstrickt, aufhalten oder gar verhindern, sowenig kann es letztlich mehr sein als ein Memento mori, ein Todesengel, der seinen Herrn, das patrizische Subjekt, die Kunst sei's eines hedonistisch-langen Lebens, sei's einer skeptisch-unbehaftbaren Existenz, sei's eines stoisch-gefassten Sterbens lehrt.
Angesichts der Diskreditierung des aristokratischen
Selbstseins, seines Verlusts aller Verbindungs- und
Mittlerfunktion, erscheint die Kluft zum platonisch
aufgeschlagenen Buch oder aufgetanen Himmel des Wesens
unüberbrückbar. Die Suche nach einem praktischen Ersatz
für die verlorene Copula oder nach einem theoretischen
Konstrukt für die Überwindung der Kluft resultiert im
Gnostizismus, den die Dialektik der Transzendenz entweder in
Gestalt des Fetischismus oder in Form des Systemzwangs
unerbittlich heimsucht.
Wie sollte wohl dieses von gänzlich anderen Rücksichten als von denen aufs Wesen okkupierte und determinierte hedonistisch-skeptisch-stoische Selbst, dieses Reflexiv, das zum Lebensberater und vielmehr Sterbebegleiter seines in völliger Immanenz versinkenden und zugrunde gehenden übermächtigen Konkurrenten, des patrizischen Subjekts, degradiert erscheint, noch irgend etwas von der Brücken- oder Vermittlungsfunktion wahrnehmen können, die als mit ihm in seinem anfangs aristokratisch-aretologischen und später dann platonisch-anamnestischen Format verknüpft vorgestellt wurde? Wie sollten die nach Gnosis dürstenden Untertanen des in Konkurs gegangenen Römischen Reiches, sie, die es nach Trennung von der falschen Welt der alles entstellenden Phänomene und Vereinigung mit der wahren Sphäre der nur sich selbst enthüllenden Ideen verlangt, wohl hoffen können, in diesem mit nichts mehr als mit der Diätetik, der Kritik und der Ethik der phänomenalen Welt beschäftigten philosophischen Selbst mehr als den seinesgleichen durch die Stürme und Flauten jener phänomenalen Welt hindurchzulavieren und an ihren Klippen und Untiefen vorbeizulotsen bemühten und tatsächlich aber nur an die Küste des endlichen Scheiterns geleitenden Cicerone anzutreffen und nämlich einem wirklichen Fährmann zu begegnen, der sie, die Elenden und Verzweifelten, aus dem Ozean der irdischen Leiden herausführt und ans kontinental andere Ufer, ans ferne Gestade der himmlischen Sphäre bringt?
So gewiss das wesenserfüllt höhere Selbst, das gegen den Schein der Welt auf sein Sein sich berufende aristokratische Subjekt, um sein aretologisches Scheitern wieder gut zu machen, die Sphäre des Wesens in platonisch-anamnestischer Reflexion zur urbildlich besseren Welt entfaltet und als von aller Fremdbestimmtheit und schicksalhaften Verstrickung, von aller Heteronomie und Korruption befreite ideale Totalität imaginiert und so gewiss dies Selbst, indem es mit der so zum Sanierungskonzept entfalteten wesenskonformen Idealität in die Erscheinungswelt zurückkehrt, dort aber in Gestalt des von Pietas getriebenen römischen Patriziers einen konkurrierenden Heilsbringer vorfindet, der politisch übermächtig und ökonomisch überzeugend genug ist, um es, das platonische Selbst, seine Ideen restlos aus dem Auge verlieren zu lassen und aus einem Möchtegernsanierer des siechen Gemeinwesens in nichts weiter als einen diätetischen Berater, kritischen Erzieher und moralischen Betreuer eben jener an den Konsequenzen ihres phänomenalen Erfolges krankenden patrizischen Subjektivität zu verwandeln, so gewiss befinden sich die in heller Auflösung und voller Weltflucht begriffenen Untertanen des Reiches in der überaus misslichen Situation, zwar das rettende Ufer vor Augen zu haben, weit und breit aber niemanden zu erspähen, der sie über das Meer des Leidens und der Verzweiflung, das sie vom rettenden Ufer trennt, heil hinüberbringen könnte.
Konfrontiert mit der verlockenden Errungenschaft des wesenserfüllt platonischen Selbst, der zur Gnosis, zur spirituellen Vereinigung einladenden, kurz, sich als Himmelreich darbietenden Welt der Ideen, müssen die Untertanen zugleich feststellen, dass sich das platonische Selbst selbst, der den Zugang zur Ideenwelt beziehungsweise den Übergang in sie eröffnende und gewährleistende Heilkundige und Seelenführer, aus dem Staub gemacht oder vielmehr unter Preisgabe und Zurücklassung seines eidetisch besseren Wissens, seiner wesenhaft höheren Wahrheit im Sumpf seiner bloßen Selbstbehauptung gegenüber den Versuchungen und Verstrickungen der Erscheinungswelt verirrt und verloren hat. Als die Analphabeten, Unwissenden, Erdverhafteten, sehnsuchtserfüllt Liebesunkundigen, die sie sind, stehen sie quasi ohne Vorleser vor dem Buch, ohne Exeget vor der Wahrheit, ohne Schlüssel vor dem Himmelreich, ohne Copula vor dem Objekt, mit dem sie die Vereinigung suchen. Sie erleben Versagung und Enttäuschung in ihrer schlimmsten Form: Sie haben vor Augen, wovon eine unüberwindliche Kluft sie trennt, sind dessen ansichtig, was ihnen zugleich unerreichbar bleibt.
Was Wunder, dass sie sich schwer tun, die unendliche Differenz und unüberwindliche Kluft, die sie, die im materiellen Schein des immanenten Daseins Befangenen, demnach mangels Verbindungsglied oder Mittler vom spirituellen Sein der transzendenten Sphäre trennt, zu akzeptieren. Was Wunder, dass sie, was ihnen ebenso greifbar nahe, ebenso sehr im unmittelbaren Blickfeld, wie unfasslich fern, perspektivisch in den Fluchtpunkt seiner ontologischen Differenz entrückt erscheint, mit aller Macht, der Allmacht des Gedankens, der Einbildungskraft der Sehnsucht, der Zauberkraft des Wunsches zu erlangen suchen. Was Wunder, kurz, dass die mangels Medium vereitelte Gnosis in den mit allen Mitteln operierenden Gnostizismus umschlägt.
Um ihrem Verlangen nach Eingang in die spirituelle Transzendenz, nach Aufnahme ins Himmelreich der Ideen, aller unüberbrückbar ontologischen Kluft zum Trotz, dennoch Befriedigung zu verschaffen, scheinen dabei den Heilssuchern in der Hauptsache zwei Wege offen zu stehen: Sie können nach einem praktischen Ersatz für die fehlende Brücke, den als Copula brauchbaren Mittler, das als Medium taugliche höhere Selbst suchen, oder sie können sich um eine theoretische Überbrückung der Kluft selbst, um eine Überführung des qualitativen Sprungs in eine quantitative Skala, eine Verwandlung des ewigen Augenblicks der Entscheidung in einen Instanzenzug unendlicher Differenzierungen bemühen.
Nach einem praktischen Ersatz für das in sein triumphal-irdisches Dasein revisionistisch verbissene oder idiosynkratisch verbohrte und zu dessen Lebensberater oder Sterbebegleiter verkommene wesenserfüllt höhere Selbst zu suchen bedeutet, inmitten der Erscheinungswelt und in einer ihrer vielen Gestalten etwas zu entdecken, das genug spirituelle Kraft, genug Seinshaftigkeit birgt oder verkörpert, um die Immanenz aufzubrechen, das mit anderen Worten der himmlischen Transzendenz nahe genug steht und ihr hinlänglich verhaftet ist, um den Weg zu ihr zu weisen, die Brücke zu ihr zu schlagen. Wo immer Dinge Eigenschaften, Substanzen oder Verhaltensweisen aufweisen, die nicht unzweideutig materiell, nicht unmissverständlich von dieser Welt sind, sondern von einer anderen Dimension, einer anderen Konsistenz, einer anderen Potenz zu künden scheinen, genügt das im Prinzip, um die vom Verlangen nach gnostischer Vereinigung und von der Frustration der dazu fehlenden Copula zu Wahnvorstellungen hingerissenen Heilssucher das gesuchte Verbindungsglied in den betreffenden Dingen gewahren und diese deshalb zu Objekten eines auf ihre schließliche Nutzung als Heilsmittel berechneten Kultes machen zu lassen, der sich um ihre Propagation, ihre Sammlung, ihre Pflege, ihre Zurichtung dreht. Ob es der zeugungskräftige Stier, die ekstatische Taube, die esoterische Schlange, das läuternde Feuer, das reinigende Wasser, das gediegene Gold, der durchscheinende Kristall, der göttliche Atem, das lebendige Blut, die Essenz des männlichen Samens ist – stets gilt den Heilssuchern das Ding, auf das sie verfallen, als Träger einer in der materiellen Welt Raum greifenden Immaterialität, Ausdruck einer die Erscheinungen durchdringenden Spiritualität und gilt ihnen deshalb die Hinwendung zu diesem Ding und die Konzentration auf es als Schritt hin zu dem immateriellen Sein, in das sie überwechseln wollen, als Kontakt zu dem spirituellen Wesen, mit dem sie die Vereinigung suchen.
Freilich bleibt das Ding, während es als das verkörperte Immaterielle über die materielle Welt hinausweist, Verkörperung oder Teil eben dieser materiellen Welt, bleibt es, während es als Manifestation des Spirituellen das Wesen gegenwärtig werden, erscheinen lässt, eben nur Manifestation, das Spirituelle in handgreiflicher Gestalt, das Wesen als Erscheinung. Das heißt, das Ding, das als Copula zur himmlischen Sphäre dienen soll, lehrt die Heilssucher die Dialektik der Transzendenz, den Umschlag von Transzendenz in Fetischismus, von teleskopischem Durchblick in myopische Fixierung. Indem es ihnen den Weg zum Spirituellen weist, sie zum Immateriellen hinführt, führt es sie vielmehr nur in die Sackgasse seiner für das Spirituelle einstehenden Materialität, indem es sie in Kontakt mit dem Jenseits bringt, für sie die Verbindung zu ihm herstellt, trennt es sie ebenso wohl von ihm und fesselt sie unauflöslich an sich als den Kontakt zum Jenseits herstellendes diesseitiges Moment, als die Transzendenz verkörperndes, für sie einstehendes immanentes Verbindungsglied.
Unter dem Vorwand, sie weiterzubringen, sie zu transferieren, verweist es sie tatsächlich immer nur an sich selbst, treibt sie in die unendliche Reflexion seines zur Selbstvermittlung kurzgeschlossenen Mittlertums und beschert ihnen so statt der durch es vermittelten Flucht nichts weiter als die Sucht nach dem in ihm als conditio sine qua non der Flucht sich ständig neu ihnen aufdrängenden Fluchtmittel. Statt ihnen das Heil durch seine Dazwischenkunft realiter zu erschließen, beschwört es bloß eine mit seiner Dazwischenkunft ihnen idealiter eröffnete Heilsperspektive, statt sie des fait accompli der durch es gegebenen Heilswirklichkeit zu überführen, verstrickt es sie bloß in den Wiederholungszwang der in ihm beschlossenen Möglichkeit zum Heil, statt ihnen ein praktisches Instrument zur Aktualisierung der Weltflucht, zur Ausfahrt in die spirituelle Sphäre an die Hand zu geben, drängt es ihnen bloß magische Rituale zur Hege und Pflege seines Transportcharakters, zur Wahrung und Verbesserung seines weltflüchtigen Potenzials auf.
Soweit sie nicht die Sucht nach dem in fluchtpünktlicher Selbstreferenz zirkelschlüssigen Fluchtmittel, der in den Schwanz sich beißenden Kopula bereits in den Krallen hat und sie entweder gesund genug sind, um heilsamen Überdruss zu empfinden, oder ohnehin nur erst neutrale Beobachter des Suchtverhaltens anderer sind, wenden sich die Heilssucher schließlich angeekelt ab, um nach geeigneteren Methoden zur Überwindung der das Diesseits vom Jenseits, die materielle Erscheinungswelt von der spirituellen Wesenssphäre unendlich trennenden Kluft zu suchen. Bleibt ihnen der oben erwähnte zweite Weg zur Bewältigung der Kluft: Anstelle der scheiternden, in Fetischismus endenden praktischen Suche nach einem Instrument, das genug von der anderen Welt hat oder hinlänglich von ihr ist, um ihnen als Brücke dienen und sie hinüberschaffen zu können, bleibt den Heilssuchern das theoretische Bemühen um eine Konstruktion, die genug von beiden Welten umfasst, hinlänglich übergreifende Kontinuität beweist, um die schroffe Kluft zu schließen und als graduellen Zwischenraum passierbar werden zu lassen.
Statt der praktischen Mittlerinstanz, der Copula, suchen sie theoretische Zwischenglieder, Intermedien, und finden diese in halb der diesseitigen Welt, halb der jenseitigen Sphäre zugehörigen, weil teils noch der Materialität verhafteten, teils schon zur Spiritualität befreiten Äonen oder Geisterreichen, durch die hindurch ein schrittweiser Aufstieg aus der Welt der Erscheinungen ins Himmelreich der Ideen möglich sein soll. Durch Emanation des im Zuge seiner Entäußerung, seiner Entfernung von sich, schwächer und dunkler werdenden und schließlich in der Opazität und Blindheit der Erscheinungswelt zugrunde gehenden spirituellen Wesens entstanden, bilden diese Zwischenwelten nach Maßgabe ihrer Grobkörnigkeit oder Feinstofflichkeit, ihres zu Chiaroscuro-Schattierungen abgestuften Mischungsverhältnisses aus Geist und Materie, ihrer unterschiedlich proportionalen Teilhabe an der Klarheit ihrer Genese und der Verworrenheit ihrer Gravidität eine Hierarchie und Stufenleiter, die nun in Umkehrung der Emanationsrichtung einen als Sammlungsbewegung vorstellbaren Aufstieg in die gnostisch gewahrte Reinheit und Klarheit des geistigen Wesens ins Auge zu fassen erlaubt.
Indes sucht die Dialektik der Transzendenz auch auf diesem Wege die Heilssucher unerbittlich heim – in Gestalt nämlich einer quantitativen Hypertrophierung oder unendlichen Vermehrung der den qualitativen Sprung in eine Vielzahl kleiner Schritte aufzulösen, das diskrete Maß als eine Folge kontinuierlicher Abstufungen darzustellen bestimmten Vermittlungsinstanzen. Indem die Heilssucher, um die Kluft zu schließen und passierbar zu machen, jene als Mischprodukte beider Reiche, als Bastardbildungen aus Geist und Materie erscheinenden Zwischenglieder einführen, müssen sie erkennen, dass zwischen den Zwischengliedern immer neue, an die ursprüngliche Kluft gemahnende Zwischenräume klaffen und finden sich deshalb zu immer neuen Vermittlungsanstrengungen, zur Einführung immer weiterer Verbindungsstücke genötigt. Und diese im Versuch, eine qualitative Differenz quantitativ zu ermessen und damit als solche aufzulösen, implizierte fortlaufende Lückenbildung und Differenzierung – sie führt nun zu einer ebenso fortlaufenden und als schierer Systemzwang praktizierten Interpolationstätigkeit, die in dem Maß, wie ihr gelingt, die Lücken immer besser zu schließen, besser gesagt, sie als diskrete Bruchstellen und Grenzschwellen unter der Kontinuität ausgefüllter Positionen und festgestellter Momente immer besser zu kaschieren, aber auch immer mehr Raum zwischen den beiden kontinuierlich zu machenden Welten benötigt, den Zwischenraum zwischen den Polen des Materiellen und des Spirituellen immer weiter vergrößert, die Entfernung des als himmlisches Wesen imaginierten Zielpunkts von der als irdische Erscheinungen definierten Ausgangsbasis immer unabsehbarer werden lässt.
Je besser es den Heilssuchern gelingt, das absolute Maß der ontologischen Differenz zwischen materiellem Schein und spirituellem Sein in die relativen Größen einer vom einen zum anderen überleitenden hierarchischen Stufenleiter aufzulösen, um so ausladender zeigt sich die Hierarchie, um so endloser die Stufenleiter, um so unermesslicher die bis zum Ziel zurückzulegende Distanz, um so mehr verschwindet mit anderen Worten das Ziel im unendlichen Fluchtpunkt der als Übergang zu ihm gedachten und aber zu einem ganzen System, einer infinitesimal eigenen Welt ausufernden theoretischen Konstruktion.
Weder also mittels eines praktischen Ersatzes für das die Kluft zwischen Erscheinung und Wesen zu überbrücken bestimmte und aber zum Lebensberater oder Sterbebegleiter seiner eigenen empirischen Existenz verkommene wesenserfüllt höhere Selbstsein noch auf dem Wege einer theoretischen Vermittlung der Kluft selbst, ihrer Ausfüllung mit einem kontinuierlichen Klettergerüst, kann die hierbei zum Gnostizismus ausartende, sprich, entweder in den magisch-rituellen Techniken eines praktischen Fetischismus stecken bleibende oder aber in den kosmisch-graduellen Konstruktionen eines theoretischen Systemzwangs sich verlierende Gnosis letztlich hoffen, sich an dem factum brutum vorbeizumogeln, dass zwar die Welt der Ideen offen vor ihr liegt, das Himmelreich denkbar nahe herbeigekommen ist, dass zugleich aber dies vor ihren Augen sich entfaltende und zum Greifen nahe Jenseits vom Diesseits, dem sie den Rücken kehren und das sie verlassen möchte, durch eine unüberwindliche Kluft getrennt ist und ihr deshalb, aller vermeintlichen Nähe und Greifbarkeit zum Tort, unerreichbar entzogen und unendlich verschlossen bleibt.
Soweit die gnostischen Heilssucher nicht in ihrer Verzweiflung jenem Gnostizismus unwiderruflich verfallen und sich, um wenigstens etwas zu haben, woran sie sich klammern können, und nicht vor dem Nichts auch noch ihrer letzten Zuflucht, ihrer weltflüchtigen Hoffnungen, zu stehen, sei's dem Wiederholungszwang seines praktischen Fetischismus, sei's den Wahnvorstellungen seines theoretischen Systemzwangs erliegen, soweit sie also am Ende desillusioniert genug von ihm sind, um die Falschheit seiner Hilfs- und Heilsangebote zu durchschauen, oder von vornherein hinlänglich bei Sinnen sind, um sich gar nicht erst auf seine illusionären Verheißungen einzulassen, führt für sie kein Weg an der Einsicht in die ontologische Abgründigkeit der Kluft zwischen der Erscheinungswelt, der sie ganz und gar zugehören, und der Wesenssphäre, die ihnen ebenso unerreichbar wie greifbar vor Augen steht, vorbei und schützt sie nichts mehr vor der furchtbaren Erkenntnis, dass es, eben weil sie mit Leib und Seele Teil der Erscheinungswelt sind und sich als bar jedes qua aristokratisch-philosophisch höheres Selbstsein zuvor noch behaupteten existenziellen Anteils am Wesen erwiesen haben, nie und nimmer in ihrer Macht, ihren eigenen Kräften steht, den Wechsel aus dem materiellen Schein ins spirituelle Sein zu vollziehen, dass sie vielmehr, ausgestattet mit der Wesensschau, dem Wissen der Wahrheit, aber zugleich außerstande, die Wesensschau als Gnosis Wirklichkeit werden zu lassen, die Erkenntnis der Wahrheit in die Tat eines wahrhaftigen Lebens umzusetzen, zum Unglück geboren und nämlich dazu verdammt sind, mit dem ewigen Sein vor Augen für alle Zeit dem Schein verfallen zu bleiben und in ihm eine ebenso leid- und unheilvolle wie sinn- und substanzlose Existenz zu fristen.
In perfekter Verkehrung ist aus dem Wesen, das zu Beginn
seines Erscheinens nur etwas für Wenige war und nichts, auf
dessen Weltfluchtperspektive man sich ohne Not einließ,
eben durch das weltlich verderbliche Wirken dieser Wenigen, die
sich auf es berufen, etwas für die Vielen geworden, die nun
in es als in das ihnen aufgetane himmlische Jenseits ihre ganze
Hoffnung setzen. Gleichzeitig aber ist in tiefironischer Wendung
jener Bezug zum Wesen und Zugang zu ihm, den die Wenigen für
sich reklamierten, gründlich verloren gegangen.
Fürwahr ein schrecklicher Augenblick der Wahrheit! Und dazu eine zutiefst ironische Pointe der Entwicklung, die bis dahin die Menschheit genommen hat! Einer Entwicklung, die von Anfang an durch das Bemühen geprägt ist, im Blick auf das unendlich differente Sein und a priori diskrete Beginnen, das das ex improviso gesellschaftlichen Reichtums auftauchende andere Subjekt evoziert und nach seinem Weggang, seinem Verscheiden, als ein absolutes Jenseits, ein transzendentes Wesen zu etablieren droht, dem existenten Kontinuum und erscheinenden Dasein seine relative Wirklichkeit und seinen bleibenden Wert zu erhalten. In den heroologisch verfassten und dann theokratisch organisierten Gesellschaften findet jenes Bemühen seinen Ausdruck in einer Integrations- und Vereinnahmungsstrategie: Um den Preis ständiger doktrineller Fixierung auf und fortwährender ritueller Zuwendungen an das differente Sein oder transzendente Wesen wird dieses seiner das irdische Dasein mit Entwirklichung und Entwertung bedrohenden Indifferenz und Negativität entrissen und in eine ebenso sehr in prinzipieller Kontinuität mit dem irdischen Dasein gewahrte wie auf eine permanente Anteilnahme an ihm vereidigte heroisch-konstitutive Stiftungsinstanz beziehungsweise göttlich-affirmative Garantiemacht umfunktioniert.
Diese heroologisch-theokratische Vereinnahmungsstrategie wird erst aufgegeben, als unter dem Druck der politisch-ökonomischen Entwicklung, der kraft wachsender Produktivität zunehmenden Dichotomisierung der Gesellschaft in eine fronende, ihr Leben am Existenzminimum fristende Unterschicht und eine konsumierende, im Überfluss schwelgende Oberschicht eine sozialkritische Bewegung entsteht, die eben jenes differente Sein und transzendente Wesen als eine explizit gegen die Produktion gesellschaftlichen Reichtums und ihr Geschöpf, die herrschaftliche Sphäre, gerichtete dionysische Naturmacht, als das rauschhaft-kultische Ereignis einer subsistenziellen Reduktion aufs einfache Leben ins Spiel zu bringen sucht.
Angesichts solcher Überführung der absoluten Transzendenz in die relative Immanenz eines dionysisch-naturhaften Gegenprinzips, ihrer Umfunktionierung in ein ebenso gezieltes wie abstraktes revolutionäres Motiv, eine ebenso bestimmte wie pauschale Negation der etablierten Gesellschaftsordnung, sieht sich die bedrohte Oberschicht, die in der opferkultlichen Krise der Theokratie zur herrschenden Macht avancierte Aristokratie, genötigt, auf das transzendente Wesen in all seiner schonungslos-daseinsfernen Indifferenz und unendlich-weltfremden Negativität zu rekurrieren, um es dem erscheinungsweltlichen Missbrauch, den der sozialkritisch-dionysische Naturkult mit ihm treibt, verweisungs- und bannkräftig entgegenzuhalten. Indem die Aristokratie gegen die relative, reichtums- und herrschaftskritische Negativität eines naturwüchsig einfachen Lebens die absolute, erscheinungs- und daseinsindifferente Negativität des ursprünglich wahren Seins aufbietet, überantwortet sie den sozialkritischen Naturkult einer durchschlagenden ontologischen Entwirklichung und modallogischen Entwertung und bricht ihm so die Spitze ab, raubt ihm die im Vertrauen auf die Substanzialität des Daseins überhaupt, im Glauben an die Haltbarkeit der Welt als solcher bestehende Basis für seinen Anspruch, eine wahre Alternative zur reichtumsfixierten Existenz zu bieten und für die Überwindung des herrschaftlichen Status quo der Welt von wirklichem Wert zu sein.
Allerdings trifft die disqualifizierende Indifferenz und entrealisierende Negativität des in seiner ganzen ontologischen Differenz, seiner unverhüllten apriorischen Transzendenz aufgebotenen Seins des anderen Subjekts ja nicht nur den dionysischen Naturkult mit dem von ihm beschworenen subsistenziellen Dasein, sondern auch und ebenso sehr das, wogegen der dionysische Naturkult sich richtet, das subsistenzielle Dasein sich verwahren will: die Sphäre gesellschaftlichen Reichtums, ihre, der Aristokratie, eigene Existenzgrundlage, die Objektivität, die sie ihrer Wirklichkeit versichert und ihr ihren Wert verleiht. Um nicht selber und in eigener Person dem vernichtenden Verdikt zu verfallen, dem ihre Berufung auf ein im absoluten Jenseits allen chronischen Daseins und in ontologischer Differenz zu ihm perennierendes apriorisches Sein gleichermaßen das subsistenziell einfache Dasein im dionysischen Naturzusammenhang und die konsumtiv entfaltete Existenz in der theokratischen Herrschaftssphäre, kurz, die als Schein und Illusion erscheinende Welt als ganze unterwirft, distanziert sich deshalb die Aristokratie von sich selbst, von ihrer persönlichen Involvierung in der Erscheinungswelt, nimmt sie, besser gesagt, sich selbst, ihre in der Berufung auf das wahre Sein und wirkliche Apriori gewahrte reine Identität, von allem scheinverfallen-eigentümlichen Dasein und irreführend-persönlichen Aposteriori aus und salviert dies Selbst, birgt dies jeglicher vermeintlicher Bindungen ans Dasein und weltlicher Anhaltspunkte verlustige und auf den Wassern haltlosen Vergehens, den Wolken illusionärer Flüchtigkeit ziellos treibende Moment abstrakter Identität, indem sie für es jenes wahre Sein und wirkliche Apriori als seinen unvergänglichen Ankerplatz, seinen unverlierbaren Herkunftshafen, als sein qua Transzendenz perennierendes A und O, seinen am Ende zeitlos vergangenen Anfang, kurz, sein ewig präsentes Wesen reklamiert.
Mit ein- und derselben Entschiedenheit, mit der die ex cathedra des transzendenten Seins operierenden aristokratischen Kritiker der pseudotranszendent-naturkultlichen Immanenz ihr ganzes der Immanenz zugehöriges Dasein, alles an der eigenen Person, das von dieser Welt und Teil ihres phänomenalen Zusammenhangs ist, der gleichen Gleichgültigkeit und Nichtigkeit überantworten, der sie die kraft der absoluten Differenz des transzendenten Seins um alle Wirklichkeit, allen Wert gebrachte und zum schieren Schein, zur haltlosen Illusion erklärte Welt insgesamt ausliefern, eximieren sie doch zugleich die Person selbst beziehungsweise das an ihr, was nicht bloß persona, nicht bloß ebenso illusionäres Trugwerk wie vergängliches Beiwerk, sondern was vielmehr hinter der weltlichen Maske, unter den phänomenalen Schemen fluchtpünktlich resultierendes Reflexiv oder residual wiederkehrendes Prinzip ist, und behaupten es als ein in der Indifferenz sich von sich scheidendes oder vielmehr mit seiner unbedingten Differenz sich identifizierendes Subjekt, ein das Nichts überdauerndes oder vielmehr in ihm sich, sein Wesen, ewig findendes Selbst.
Strukturell oder seiner definitiven Form nach signalisiert nun zwar dies radikale Mittel, dessen sich die Aristokratie zur Entkräftung der naturkultlich-dionysischen Sozialkritik bedient, der als absoluter Selbstzweck sich inaugurierende Wesenskult, eine unmissverständliche Entscheidung über den weiteren Weg der Aristokratie, und bedeutet er nämlich die sonnenklare Aufforderung an sie, sich vom Schein des irdischen Daseins, von der Illusion der immanenten Verhältnisse abzukehren und die Weltflucht anzutreten, sprich, sich der Negation aller Immanenz getrost anheim zu geben, sich in das Nichts des Daseins beherzt zu fügen, um hinter oder vielmehr in ihm der Transzendenz teilhaftig zu werden, um als die Wahrheit des Nichts der Welt, als die einfache, absolut sich setzende Kehrseite des verflüchtigten Daseins das reine Sein zu erfahren. Funktionell allerdings oder der ursprünglichen Intention nach sieht die Sache anders aus: Da dient der Rekurs auf die Negativität des Wesens ja der Absicht, dem Negationspotenzial des dionysisch-naturkultlichen Unwesens den Boden zu entziehen, seine Kritik an der bestehenden Gesellschaftsordnung zu entkräften und der theokratischen Herrschaft beziehungsweise ihrer Erbin und Verweserin, der Aristokratie, die ökonomische Kontrolle und politische Macht zu erhalten.
Und so gewiss das Mittel des Wesenskultes dieser Absicht entspricht, so gewiss es die ihm ursprünglich zugedachte Funktion einer Reaffirmation der bestehenden Machtverhältnisse und Konsolidierung der herrschenden Ordnung erfolgreich erfüllt, so gewiss liefert es der Aristokratie im eklatanten Widerspruch zu dem Weltfluchtimperativ, als der es sich kraft seines die Immanenz entwirklichenden und entwertenden transzendenten Selbstzweckcharakters herausstellt, ein Motiv, an der Welt festzuhalten und sich im irdischen Dasein sei's wie zuvor zu Hause zu fühlen, sei's gar wie nie zuvor neu einzurichten. Wohl ist die Welt durch dies Wesen, auf das sich die Aristokratie beruft, entwirklicht und entwertet, bietet sie sich sub specie der Negativität seines zeitlos vergangenen Seins als schierer Schein und haltlose Illusion dar; immerhin aber ist damit die alle traditionelle Ordnung des Daseins in Frage stellende Gefahr einer naturkultlich-wirklichen Gegenwelt vom Tisch, ist die Drohung einer aus einem alternativen Seinsprinzip gespeisten und in der Verdrängung aller alten Strukturen resultierenden dionysisch-immanenten Substanzialität und epiphanisch-autonomen Lebendigkeit aus der Welt.
Außerdem sind mit der transzendenzperspektivischen Entwirklichung der diesseitigen Sphäre zur Welt der Erscheinungen, mit der wesensbedingten Entwertung des irdischen Daseins zur illusionären Veranstaltung ja nicht nur die sozialkritisch-umstürzlerischen Gegenspieler, die dionysisch-naturkultlichen Konkurrenten um die Gestaltung der Welt und den Anspruch auf sie düpiert und am Boden zerstört, es zeigen sich damit auch und vor allem jene der Vereinnahmung und Integration des a priori anderen Subjekts entspringenden sakralen Mächte der naturalen Welt und göttlichen Garanten ihrer sozialen Ordnung gründlich desavouiert, mit deren dogmatischer Anerkennung und kultischer Versorgung die theokratische Herrschaft in specie und die aristokratische Opfergemeinde in genere ihre privilegierte Stellung im Dasein, ihre ihnen durch die Daseinsordnung zugewiesene ökonomische Verfügung und politische Befugnis bezahlen müssen. Weil das zeitlos vergangene Sein oder transzendente Wesen das chronisch vergängliche Dasein, die unendlich verschiedene Immanenz, als substanzlosen Schein und haltlose Illusion entlarvt, entsubstanzialisiert und disqualifiziert es auch und ebenso sehr jene göttlich-höheren Mächte und sakral-maßgebenden Instanzen, die, recht verstanden und recht behandelt, die Wirklichkeit des irdischen Daseins zu affirmieren, den Wert der immanenten Welt zu garantieren versprechen und die doch in Wahrheit nur Geschöpfe eben jener dem Dasein unterstellten und durch das Wesen widerlegten Substanzialität, Reflexe eben jener als Weltgrund angenommenen und vom Wesen revozierten Originalität sind und also in einer regelrechten petitio principii der Affirmation durch das bedürfen, was sie zu affirmieren behaupten, auf die Gewährleistung durch das angewiesen sind, was sie zu garantieren beanspruchen.
Das heißt, die Entwirklichung und Entwertung der Welt zur bloßen Erscheinung hat, abgesehen davon, dass sie der naturkultlich-sozialkritischen Motion gleichermaßen den Impetus und den Gegenstand verschlägt, dies weitere Annehmliche, dass sie jene die Naturordnung affirmierenden sakralen Kräfte entkräftet, jene die Sozialordnung garantierenden göttlichen Mächte entmachtet, die der Preis für die Bewältigung und Integration des das irdische Dasein mit seiner Indifferenz, die weltlichen Erscheinungen mit seiner Negativität bedrohenden a priori anderen Subjekts sind, und dass sie, indem sie damit das aristokratische Individuum von seinen bisherigen opfergemeindlich-kollektiven Verpflichtungen gegenüber jenen sakralen Kräften und göttlichen Mächten, seiner ständigen doktrinellen Fixierung auf sie und seinen fortlaufenden rituellen Zuwendungen an sie entbindet, ihm in seiner ökonomisch fundierten Lage und politisch privilegierten Stellung eine ungewohnt freie Verfügungsgewalt über das irdische Dasein erschließt und einen ungeahnt neuen Entfaltungsraum in der Welt der Erscheinungen eröffnet.
Wie sollte wohl das aristokratische Individuum, mit der reservatio mentalis seines Wesensbezuges in petto und der darin beschlossenen salvatorischen Klausel seines höheren Selbstseins im Rücken und also des Scheins ebenso sehr kraft wesenserfüllten Selbstes überhoben wie ihm durch sein irdisches Dasein, seine personale Erscheinung zugehörig, nicht das Verlangen verspüren, sich noch ein Weilchen, solange es ihm eben gefällt, auf unbestimmt Weiteres also, im Dasein aufzuhalten, in der Sphäre des Scheines umzutreiben, um seine ungewohnt freie Verfügung über deren substanzlose Schemen auszukosten, seine ungeahnt neue Entfaltung in ihren erscheinungsweltlichen Räumen zu genießen? Wie sollte es wohl nicht bestrebt sein, der auf Weltmächtigkeit zielenden ursprünglichen Intention, die es mit der Reklamation des Wesens verbindet, ad calendas graecas den Vorzug vor der zu nichts als zur Weltflucht disponierenden eindeutigen Position des reklamierten Wesens zu geben? Zumal ja die reservatio mentalis, weil sie als realisierter Rückzug aus der Welt nichts Geringeres ist als radikale Absage an alles und jedes, weil sie ihr Positives erst einmal in nichts weiter gewahrt als in der pauschalen Negation, der sie jedwedes Ding verfallen lässt, weil sie, kurz, Entscheidung für nichts als das zur opaken Kehrseite, zur unwirtlichen Außenhülle des wahren Seins erklärte reine Nichts ist, alles andere als einen einladenden Prospekt, einen leichten Herzens einzunehmenden Standpunkt darstellt!
So sehr das aristokratische Individuum aber dazu neigt, das gegen die Erscheinungswelt geltend gemachte Wesen nicht als praktischen Fluchtpunkt für den Auszug aus der Welt, sondern nur als theoretischen Referenzpunkt eines heilsame Distanz zur Welt wahrenden Selbstes und mithin als salvatorische Klausel für ein völliger Scheinverfallenheit entzogenes und zu ebenso viel Verfügungsmacht wie Entfaltungsraum losgelassenes innerweltliches Sein in Anspruch zu nehmen, so wenig ist doch in den Kerngebieten des Wesenskultes, dort, wo die ökonomische Not und das soziale Elend der Unterschichten am größten sind, wo der naturkultlich-sozialkritische Affekt gegen die herrschaftliche Reichtumssphäre deshalb auch am heftigsten ausfällt und wo der aristokratische Rekurs auf die den Sozialkonflikt entschärfende, weil die objektiven Positionen, kraft deren er sich behauptet, nivellierende Negativität des Wesens am dringlichsten ist – so wenig ist also dort die gesellschaftliche Situation dazu angetan, jener Neigung des aristokratischen Individuums freien Lauf zu lassen.
Weil die Entkräftung der relativen Negativität des gegen die Reichtumssphäre aufgebotenen dionysisch-subsistenziellen Naturkults durch die absolute Negativität des gegen die Welt als ganze ins Feld geführten ontologisch-existenziellen Wesenskults ja nicht auch schon die ökonomische Not und das soziale Elend aus der Welt schafft, denen jene naturkultlich-sozialkritische Negativität entspringt, und weil die in Not und Elend Gestürzten in dem Maße, wie ihnen der Wesenskult den naturkultlich-innerweltlichen Ausweg verschlägt, ihre Zuflucht im Wesenskult selbst und seiner außerweltlichen Wahrheit, seinem Verdikt über die Welt als haltlosen Schein und flüchtige Illusion, kurz, seiner Weltfluchtperspektive suchen, findet sich die Aristokratie nolens volens auf jene Perspektive vereidigt und damit befasst, für die Notleidenden und Elenden seelischen Trost und Hoffnung auf Erlösung aus ihr zu ziehen.
Weit entfernt davon, sich mit dem Wesensbezug als einer reservatio mentalis in petto oder einer salvatorischen Klausel im Rücken der Welt der Erscheinungen zuwenden und in ihr einer von dogmatischen Vorschriften und rituellen Rücksichten befreiten ökonomischen Verfügungsmacht und darauf fußenden politischen Herrschsucht frönen zu können, sieht sich das aristokratische Individuum durch den sozialen Druck von unten immer wieder mit der Negativität des Wesens konfrontiert und in seine Weltfluchtperspektive hineingedrängt und hat alle theoretischen Hände voll zu tun beziehungsweise muss die in der Karmalehre und ihrem kastensystematischen Wiedergeburtszyklus resultierenden spekulativsten Volten schlagen, um das irdische Dasein wieder als solches und in seiner ganzen erscheinungsweltlichen Differenziertheit ins Auge fassen und dem abstrakten buddhistischen Heilsstreben den vergleichsweise annehmlichen Charakter der in die Länge und Breite des gesellschaftlichen Status quo ausgeführten und in seinen Konkreta ebenso unwiderruflich zum Stillstand gebrachten wie ihnen unauslöschlich eingeprägten hinduistischen Erlösungsprozession verleihen zu können.
Anders liegen die Dinge an der mediterranen Peripherie, wo das neue Prinzip des kommerziellen Austauschs und das durch es ermöglichte doppelte Phänomen einer Akkumulation von Reichtum auf Kosten der umliegenden territorialherrschaftlich-theokratischen Gebiete und einer auf Basis dieses ökonomischen Kapitals vor sich gehenden Stiftung relativ eigenständiger politischer Gebilde, selbstverwalteter stadtstaatlicher Gemeinschaften, allen sozialen Druck erst einmal zum Verschwinden bringt und durch die Suggestion eines gemeinschaftlichen und für alle gewinnbringenden Unternehmens, durch den Anschein einer ebenso ungetrübt kommunalen Eintracht wie grenzenlos sozialen Wohlfahrt ersetzt. Hier kann das mit dem neuen kommerziellen Prinzip paktierende aristokratische Individuum aus dem Wesenskult in der Tat den im Sinne seines ursprünglichen Strebens nach Weltmächtigkeit wohlverstandenen vollen funktionellen Nutzen ziehen und kann, indem es einerseits das Wesen dazu nutzt, wie die Welt als bloße Erscheinung, substanzlosen Schemen, so die Herren der Welt, die Götter, als machtlose Einbildungen, sinnlose Figuren zu entlarven, und andererseits seinen eigenen reklamierten Bezug zum Wesen dazu gebraucht, sich als mit der Erscheinungswelt ebenso sehr vertrautes, in ihr zu Hause seiendes, wie ihr gegenüber apartes und von ihrer Entwirklichung und Entwertung unbetroffen bleibendes Selbst zu behaupten, den Grund für die erwünschte, von opferkultlichen Verpflichtungen freie Verfügung über die materiellen Ressourcen der Welt und durch rituelle Rücksichten unbehinderte Entfaltung in ihren sozialen Strukturen legen.
Zwar ergeben sich aus der Notwendigkeit einer Anerkennung seiner Legitimationsbasis, seiner behaupteten Wesenserfülltheit, durch die übrigen gesellschaftlichen Gruppen neue soziale Obliegenheiten und andere materielle Verbindlichkeiten, aber da diese seinen Wirkungsbereich und Entfaltungsraum definierenden Obliegenheiten und Verbindlichkeiten seine freie Verfügung und ungehinderte Entfaltung eher organisieren als hemmen, eher kanalisieren als hintertreiben, vermag sich das aristokratische Individuum leicht mit ihnen zu arrangieren.
Allerdings gelingt es dieser durch den Wesenskult als einen Kult des wesenserfüllt-höheren Selbstes ermächtigten und entfesselten Aristokratie, auf der Grundlage des neuen kommerziellen Prinzips und durch dessen Eigendynamik angetrieben, die Handelsstadt so durchgängig aufzumischen und ihr Staatsschiff so gründlich auf die Klippen zu setzen, dass von der ursprünglichen, vorgeblich nach nichts als nach kommunaler Eintracht und sozialer Wohlfahrt strebenden politischen Gemeinschaft nicht das Geringste mehr übrig ist und jene neuartig ideale Gemeinschaft sich, den Bruchlinien ihrer Grundstruktur folgend, vielmehr in ökonomische Klassen zersprengt und in ein ebenso unaufhörliches wie unerbittliches, tödliches Ringen um die Erhaltung und Mehrung des Reichtums in eigenen Händen zwecks kapitaler Akkumulation beziehungsweise um die Teilhabe und den Nießnutz am Reichtum in anderen Händen zwecks subsistenzieller Versorgung oder konsumtiver Befriedigung verstrickt zeigt. Derart verfahren und so von permanenten Konflikten heimgesucht zeigt sich am Ende die Situation, dass die Aristokraten beziehungsweise ihre platonischen Erben und Verweser sogar darauf verfallen, auf das in petto ihres aretologisch höheren Selbstes bis dahin verhaltene Wesen als solches zu rekurrieren, um es in den Dienst einer diagnostischen Beurteilung und therapeutischen Neugestaltung der Erscheinungswelt zu stellen und zwecks Sanktionierung und Logifizierung ihrer von intentionalen Widersprüchen gezeichneten Sanierungskonzepte als Sphäre der Ideen, als unvermittelt-urbildliches Korrektiv der Erscheinungswelt und absolut-kriterielle Alternative zu ihr zur Geltung zu bringen.
Am letztlich fatalen Verlauf der durch die ebenso unheilvolle wie schlagkräftige Allianz zwischen neuem, kommerziellem Prinzip und altem, territorialem Adel und durch das Geschöpf dieser Allianz, die handelsstädtische Gemeinschaft, heraufbeschworenen Entwicklung vermag die Intervention der platonischen Geistesaristokratie, ihr Versuch, das durch die reale Dynamik liturgischen Handelns angerichtete Chaos durch die ideale Ordnung eines philosophischen Regiments zu heilen, freilich nichts zu ändern. Längst hat eine andere aristokratische Gruppe, das Patriziat der Handelsstadt Rom, das Heft an sich gerissen und im Zuge eines ahnenkultlich statt wesenskultlich fundierten Wirkens für das Gemeinwohl eine Konfliktbewältigungs- und Sanierungsstrategie begonnen, deren Kernstück eine Verschiebung im Kräfteverhältnis der beiden Partner der Allianz, der kommerziellen Funktion und der territorialen Herrschaft, ist und nämlich in der Degradierung der kommerziellen Funktion und ihrer transaktiv-indirekten Aneignung zum bloßen Erfüllungsgehilfen eines von der aristokratisch-militärischen Führung im Rahmen ihrer imperialen Expansion mit Mitteln politischer Unterdrückung und bürokratischen Zwangs betriebenen exaktiv-direkten Beutemachens besteht.
So wirksam diese Strategie handelsstädtischer Selbstbehauptung und vielmehr Machtentfaltung sich aber auch erweist und so sehr es ihr lange Zeit hindurch gelingt, mittels des Reichtums, den sie in die Stadt pumpt, die ökonomischen Schäden und sozialen Konflikte, die sie gleichzeitig hervorruft, wenn schon beileibe nicht zu heilen oder zu schlichten, so immerhin doch zu kitten beziehungsweise zu überspielen – dass bei unverändert beibehaltener Bereicherungsstrategie die Schäden sich in Gestalt immer umfänglicherer neuer Zerstörungen reproduzieren und die Konflikte auf immer erweiterter Ebene wiederkehren, kann sie nicht verhindern. Und sie kann deshalb auch nicht verhindern und arbeitet im Gegenteil eifrig darauf hin, dass am Ende der auch das Patriziat selbst zerstörenden und durch den militärisch-bürokratischen Apparat der Cäsarenherrschaft ersetzenden Entwicklung das kommunale Gemeinwesen sich zur Kenntlichkeit einer imperialen Despotie entstellt zeigt, die, während sie alle formell zu Bürgern erhobenen und reell zu Untertanen degradierten Angehörigen des Reiches einer unterschiedslosen fiskalischen Ausplünderung beziehungsweise ökonomischen Ausbeutung unterwirft, selber in rivalisierende Banden oder konkurrierende Regime zerfällt, die im Kampf um die Beute das ganze Imperium ins Schlachtfeld verwandeln und so ihre eigenen Plünderungs- und Ausbeutungsbemühungen durchkreuzen, indem sie teils die Untertanen durch Zerstörung ihrer Arbeitsstätten und Verwüstung ihres Lebensraums objektiv zugrunde richten, teils die Subjekte selbst ins Verderben stürzen und sie nämlich zum Kriegsdienst pressen, in der Konsequenz ihrer unablässigen Kampagnen vertreiben, im Eifer der Gefechte niedermetzeln.
Das letzte Ergebnis des mit dem Rekurs aufs Wesen initiierten und auf dem neuen kommerziellen Prinzip, dem die Polisgemeinschaft, die Stadtrepublik entspringt, basierenden Wirkens einer von theokratischen Banden und opferkultlichen Rücksichten befreiten aristokratischen Regierung ist also ein gesellschaftlicher Zustand, der so desolat, so von allen guten Geistern des Gemeinschaftssinns und der bürgerlichen Gesittung verlassen und so in Raub und Mord, Ausbeutung und Totschlag, versunken ist, dass die an sich mit der Wahrnehmung des Wesens verknüpfte und aber im Interesse der Funktionalisierung des Wesens zu einem Instrument der Weltbemächtigung ausgeblendete Einsicht in die Unwirklichkeit der Welt und Wertlosigkeit aller ihrer Erscheinungen nun von der breiten Masse als frohe Botschaft aufgenommen und nämlich als Gelegenheit, zu dieser heillos-unwirtlichen Welt auf Distanz zu gehen und sich womöglich von ihr loszusagen, beim Schopf ergriffen wird.
Was das von der Aristokratie eingeführte Wesensprinzip pro forma seiner transzendenten Struktur dekretiert und wovon die an seiner Funktionalisierung, seinem Einsatz gleichermaßen gegen den dionysischen Naturkult und gegen die Macht der Götter interessierte Aristokratie ursprünglich gar nichts weiter wissen will: das ontologische Faktum nämlich der im Wesen beschlossenen rücksichtslosen Irrealisierung und restlosen Disqualifizierung der Erscheinungswelt – es stellt sich nun angesichts des von der aristokratisch-republikanischen Herrschaft beziehungsweise ihrer cäsarisch-imperatorischen Erbin angerichteten Unheils und geschaffenen Chaos den ökonomisch Notleidenden und sozial Verelendeten, dem an der Welt als permanentem Unglücksort verzweifelnden Gros der Untertanen, als willkommene Aufklärung und erlösende Kunde dar: So gewiss sich sub specie des als das zeitlos vergangene Sein, das unvergänglich wahre Beginnen, offenbaren Wesens die irdische Welt als haltlos vergänglicher Schein enthüllt und ihre Erscheinungen der Unwesentlichkeit chronisch flüchtiger Illusionen verfallen, so gewiss kann die Hoffnung keimen, dass mit der vom aristokratischen Wesenskult ja für prinzipiell möglich erklärten Beseitigung des Scheins und Rückkehr zum Wesen die Not sich beheben, mit der dem Selbst, das des Wesens ist, angeblich ja erreichbaren Zerstreuung der Illusionen und Konzentration auf die Wahrheit das Elend sich enden lässt.
Was zu Anfang des von der gesellschaftlichen Elite eingeführten Wesenskults und der mit ihm verknüpften praktischen Funktion, mit ihm verfolgten Weltbemächtigungsintention noch eine lästige und nach Möglichkeit ausgeblendete strukturelle Implikation oder formale Folge des Wesensprinzips war – die Irrealisierung und Disqualifizierung der irdischen Welt –, erweist sich so am Ende der von jener Elite im Zeichen des Wesenskults gehandhabten Weltgeschäfte und ausgeübten Macht auf Erden der breiten Masse vielmehr als eine willkommene, weil Errettung aus der Not verheißende, zur Hoffnung auf Erlösung aus dem Elend Anlass gebende Eröffnung, um nicht zu sagen, Offenbarung.
Angesichts dieser zur völligen Umkehr geratenden Wendung trifft es sich gut und scheint ein von prästabilierter Harmonie zeugender Glücksfall, dass die sekundäre, platonische Funktionalisierung des Wesens, seine es als Ideenreich reklamierende Verwendung für die Sanktionierung innerweltlicher Sanierungskonzepte, ihm mittlerweile seinen Charakter abgründiger Indifferenz und reiner Negativität verschlagen hat und es in der relativen Vertrautheit, um nicht zu sagen suggestiven Annehmlichkeit einer schlicht und einfach besseren Welt, einer von aller ökonomischen Schizophrenie und politischen Heteronomie befreiten und im perfekten Einklang mit seinem Sollen seienden, kurz, idealen Alternative zum irdischen Dasein präsentiert. In der Tat zeigt sich dadurch die Sicht auf die Welt und das Verhältnis zu ihr im Vergleich mit den Anfängen des Wesenskults von Grund auf revidiert und ins genaue Gegenteil verkehrt.
Während das pro forma des Wesens über die Welt verhängte und zur Abkehr von ihr gemahnende Verdikt haltloser Scheinhaftigkeit und halluzinatorischer Gegenstandslosigkeit den Wenigen, die es zur Kenntnis nehmen, anfangs noch als factum non gratum und nach Möglichkeit nicht zu beachtende Einrede gilt, weil es der Funktion der Herrschaftssicherung und Weltbemächtigung, die jene Wenigen mit dem Wesensprinzip eigentlich verknüpfen, zuwider läuft, und während zudem die Dunkelheit des Wesens, sein in reiner Negativität sich erschöpfendes, im absoluten Nichts der Welt sich verbergendes esoterisches Sein dort ein zusätzliches Motiv liefert, sich jener formell zwingenden Aufforderung zur Weltflucht zu verschließen oder jedenfalls mit äußerster Zögerlichkeit zu begegnen, gilt dank der heillosen Herrschaft und zerstörerischen Machtübung der Wenigen dies vom Wesen über die Welt verhängte Verdikt mittlerweile vielen und, genauer gesagt, den Meisten als frohe Kunde und als mittels Abkehr vom Dasein zu ergreifende Befreiungschance und bietet ihnen die platonisch durchgesetzte Ermäßigung des Wesens aus der unendlichen Negativität eines allen Schein zerstörenden pauschalen Weltgerichts zur bestimmten Negation der die Erscheinungen aufhebenden kriteriellen Idee jetzt vielmehr ein zusätzliches Motiv, keinen Augenblick länger als nötig zu zögern und die Weltflucht stante pede anzutreten. Bar jedes Interesses an der ihnen durch das patrizisch-cäsarische Walten gründlich verleideten Welt, sind die Vielen nur zu bereit, dem absoluten Verdikt des Wesens zu folgen und sich von den als Schein und Illusion entlarvten irdischen Erscheinungen abzuwenden, während gleichzeitig das Wesen selbst, dem sie statt dessen sich zuwenden, dank seiner platonischen Verwandlung ins zum Urbild geläuterte Abbild der diesseitigen Welt, seiner philosophischen Explikation zum himmlischen Pendant des irdischen Daseins ihnen aufs Reizendste entgegen blickt und die herrlichsten Avancen macht.
Alles könnte sich also nach so viel Not und Elend doch noch zum Guten wenden, alles könnte ein, gemessen am Unheil der von Anfang verfehlten Entwicklung, mit Fug und Recht glücklich zu nennendes Ende finden, wäre da nicht die erwähnte ironische Pointe, dass nun zwar die subjektive Bereitschaft und die objektive Gelegenheit zur Abkehr von der Welt und Einkehr ins Wesen vorhanden sind, dass aber die Schaffung dieser beiden Bedingungen offenbar nur um den Preis des Verlusts der erforderlichen dritten Kondition, sprich, nur auf Kosten des die Bereitwilligen in die himmlisch andere Welt zu übersetzen beziehungsweise überzusetzen geeigneten Transportmittels möglich ist. Jenes von der Aristokratie eingangs ihres Wesenskults reklamierte wesenserfüllte Kernstück des Individuums oder Grundprinzip der Person, jenes nach Maßgabe seiner ursprünglichen Verbundenheit mit dem wahren Sein und bleibenden Verschiedenheit von aller trügerischen Erscheinung als transportatives Vehikel heraus aus letzterer und hinein in ersteres brauchbare höhere Selbst – es verflüchtigt sich und geht verloren, während die aristokratischen Individuen, die aretologisch inspirierten Personen, teils mit der praktisch-liturgischen Weltbemächtigung und der darin beschlossenen Provokation eines Zustands allgemeiner Verzweiflung an der Welt, teils mit der theoretisch-philosophischen Weltbeurteilung und der durch sie in die Wege geleiteten Transformation des Wesens in ein kriterielles Objektiv und projektives Medium der Welt, teils schließlich mit der hedonistisch-skeptisch-stoischen Selbsterhaltung und dem durch sie bestenfalls für das empirische Dasein zu erreichenden langen Leben und gefassten Sterben zugange sind.
Das mit dem Draht zur Transzendenz ausgestattete höhere Selbst also geht im Zuge seiner weltlichen Geschäfte flöten, hebt sich zugunsten eines höchstens noch als Transzendental des empirischen Ich überdauernden Lebensberaters beziehungsweise Sterbebegleiters auf und lässt, was es in Szene gesetzt hat, die Konstellation nämlich einer in ihrer Unwirtlichkeit und unheilvollen Zerrissenheit jeder Attraktivität und Bindekraft verlustig gegangenen Welt der Erscheinungen und eines demgegenüber als Reich der nicht minder himmlischen als kritischen Ideen zur Weltflucht regelrecht einladenden Wesenssphäre, ohne seine Interventionskraft oder Vermittlungsfunktion und also in der ganzen Unüberbrückbarkeit eines in der bodenlosen Kluft, die Schein von Sein, Illusion von Wirklichkeit trennt, verankerten Gegensatzes zurück.
Was Wunder, dass die in der unwirtlichen Scheinwelt ihres irdischen Daseins, der sie nur zu gern den Rücken kehren würden, gestrandeten Vielen, konfrontiert mit der anheimelnden Seinssphäre, die ihnen das höhere Selbst vor seiner Abdankung zum hedonistischen Maßhalter, skeptischen Distanzierer oder stoischen Selbstbehaupter noch platonisch-philosophisch entfaltet hat und die ihnen nun ebenso unerreichbar wie offenkundig, ebenso unendlich fern wie greifbar nah ins Blickfeld gerückt ist – was Wunder, dass sich die Vielen da der Gnosis, dem Zauber- und Blendwerk einer Vereinigung verheißenden Erkenntnis, ergeben, um die Kluft dennoch zu überbrücken und sich, aller ontologisch-absoluten Trennung zum Trotz, aus der Welt des materiellen Scheins in die Sphäre spirituellen Seins hinüberzumogeln.
Was Wunder aber auch, dass sie, sofern sie aus der Verirrung des geschilderten praktischen Fetischismus oder theoretischen Systemzwangs der Gnosis wieder erwachen beziehungsweise ihr überhaupt widerstehen und sich gar nicht erst in sie hineinziehen lassen, des ganz und gar Verzweifelten ihrer Lage gewahr und nämlich der Tatsache inne werden, dass ihre Verzweiflung am Dasein, die Depression, in die sie die Erscheinungswelt stürzt, der Form nach zwar Hand in Hand mit einem Perspektivenwechsel, einer Erhebung zum in die Länge und Breite seiner idealischen Konstruktion das Himmelreich bedeutenden wahren Wesen geht, der Sache nach aber darauf hinausläuft, dies wahre Wesen als die unwiderruflich verspielte Chance des "wäre gewesen" ihnen vor Augen zu führen, sprich, den Perspektivenwechsel, die traditionell angezeigte Wendung zu einem Sein jenseits des Scheins, im Augenblick des Vollzuges als eine modallogisch ewig überholte Aktion, eine im Irrealis verhaltene Reminiszenz, gleich wieder zu entkräften und zurückzunehmen.
Und was Wunder schließlich, dass angesichts dieser offenbaren Tatsache der mangels Heilsmittel, mangels Rettungsboot im Irrealis, sprich, als unwiderruflich verspielte Chance, sich präsentierenden Rückkehr in integrum des himmlischen Wesens die an der Küste ihres unwirtlichen Daseins und unseligen Lebens demnach ein- für allemal gestrandeten Vielen oder jedenfalls diejenigen unter ihnen, die ohne den Halt der kultischen Tradition beziehungsweise den Trost der gnostischen Illusion ihrer Lage gewahr sind, ihre abgründige Verzweiflung in entschiedene Hoffnungslosigkeit, ihre tiefe Depression in plane Resignation überführt erfahren und nun mit der kalten Klarsicht, die definitive Hoffnungslosigkeit verleiht, um sich blicken, mit der ruhigen Nüchternheit, die echter Resignation entspringt, in die Runde schauen.
Den klarsichtig-nüchternen Blick schweifen lassend, sehen sie aber ringsum nichts als ein wildes Panoptikum aus traditionellen Götterkulten und neuen Heilslehren, ein unentwirrbar synkretistisches Geflecht aus bodenloser Überzeugung und falscher Hoffnung: der bodenlosen Überzeugung, durch die opferkultliche Umfunktionierung der indifferent transzendenten Macht, des in absoluter Negativität verschiedenen anderen Subjekts in eine an der Welt interessierte Gottheit, eine das irdische Dasein affirmierende Sanktionsinstanz dieser Welt eine verbürgte Wirklichkeit vindizieren, diesem Dasein bleibenden Wert sichern zu können, und der falschen Hoffnung, wenn schon die Unwirklichkeit der Welt zur Kenntnis nehmen und dem Dasein seinen Wert absprechen, es als Schein verwerfen zu müssen, so doch wenigstens aus der Unwirklichkeit in die Wirklichkeit hinübergelangen, den Weg aus dem Schein des Daseins heraus und hinein ins demgegenüber bleibende Sein finden zu können.
Diese vielfach miteinander synkretisierten, zu den merkwürdigsten Hybridformen verschmolzenen traditionell-religiösen Überzeugungen und sektiererisch-heilsgläubigen Hoffnungen begreifen sie, die aus Hoffnungslosigkeit Klarsichtigen, nun als törichten Aberglauben, kindischen Unsinn, der vor der Offenbarkeit und Entrücktheit des zum Himmelreich der Ideen entfalteten Wesens zuschanden wird – vor der Wahrheit eines Wesens, das über die irdische Welt den Stab ihrer durch keine göttliche Sanktion oder kultische Vorkehrung zu widerlegenden, geschweige denn, zu widerrufenden systematischen Scheinhaftigkeit und chronischen Vergänglichkeit bricht und das zugleich jedem von menschlicher Seite unternommenen Versuch, die unüberbrückbar ontologische Kluft zu ihm zu überbrücken und sich aus der vollständigen Scheinverfallenheit, dem rettungslos vergänglichen Dasein in seine ewige Sphäre, sein bleibendes Sein hinüberzuretten, Hohn spricht.
Von der Erkenntnis ihrer Scheinverfallenheit durchdrungen, und vom Bewusstsein der Aussichtslosigkeit, aus eigener Kraft des Seins teilhaftig zu werden, erfüllt, können die Hoffnungslosen unter den an der Welt Verzweifelten, sprich, die Klarsichtigen unter den Vielen über deren synkretistisches Treiben, ihre heillose Heilssuche, ihre sinnlosen Klammerreflexe und kopflosen Fluchtbewegungen nur lachen oder vielmehr, da ihnen nicht nach Lachen zumute ist und der tatsächliche Ernst der Lage ihnen jenes närrisch-heilssüchtige Treiben als ein maßlos-exotisches, schrill-deplatziertes Unterfangen erscheinen lässt, nur staunen.
Next: 5. Der Herr des Seins Up: krise Previous: 3. Der Offenbarungseid der theokratischen Religionen im Kaiserkult Contents