8. Volksgemeinschaft und innerer Feind: Die "Reichskristallnacht"
So weit, so schlecht! Hätte es damit sein Bewenden gehabt, Millionen Juden wären am Leben geblieben. Auch in der substantialistischen Zuspitzung, die der im späten Wilhelminischen Reich und in der Weimarer Republik Gestalt annehmende Volksstaat deutschen Zuschnitts seinem Antisemitismus verlieh, mußte der letztere keineswegs notwendig in der als systematischer Massenmord organisierten Verfolgung der nationalsozialistischen Ära resultieren. Als Ersatzobjekt für den pseudoklassenkämpferisch-antiliberalistischen Affekt des Volksstaats und des diesen tragenden integrierten Staatsvolks waren die Juden zu einer höchst undankbaren sozialen Rolle verurteilt und zwangsläufig Diskriminierungen, Repressalien, ja, auch Verfolgungen ausgesetzt; aber als zugleich ein Menetekel, das die liberalen Bürger in Schach hielt, und ein Prügelknabe, der dem antibürgerlichen Ressentiment eine Abfuhrmöglichkeit verschaffte, kamen die Juden dem Staat nicht weniger zupaß als die Burgjuden des Mittelalters dem Feudalherren lieb und teuer oder der Hofjude der frühbürgerlichen Zeit dem absolutistischen Fürsten willkommen waren; und insofern konnten sie bei allen Widerwärtigkeiten und Gemeinheiten, die sie über sich ergehen lassen mußten, so ziemlich sicher sein, daß der Volksstaat sie am Leben und in ihren Lebensverhältnissen grundsätzlich gewähren lassen würde. Dieses noch in der Weimarer Republik halbwegs funktionierende Äquilibrium aus Anfeindung und Duldung, Verfolgung und Laissez-aller gerät nun plötzlich ins Wanken und kippt um in einen mörderischen Verfolgungswahn im vollen Doppelsinn des Wortes, will heißen, in einen gleichermaßen aus Paranoia und Kreuzzugsbewußtsein gespeisten Vernichtungsfeldzug gegen die Juden. Bewirkt wird die Zerstörung des prekären Äquilibriums durch die in den zwanziger Jahren mit zunehmender Zielstrebigkeit betriebene Radikalisierung und Zuspitzung des Prinzips des demokratischen Volksstaats zur Strategie des faschistischen Führerstaats. Grund für diese Zuspitzung sind die instabilen gesellschaftlichen Zustände und die kritischen wirtschaftlichen Verhältnisse, die das an den Folgen des Ersten Weltkriegs laborierende Deutschland in besonderem Maß charakterisieren. Auf jene Verhältnisse und die von ihnen ausgehende Gefahr eines vollständigen ökonomischen Zusammenbruchs und durchschlagender sozialer Umwälzungen reagieren im ebenso wirkungsmächtigen wie unheiligen Verein zwei eigentlich gegensätzliche gesellschaftliche Parteien oder Positionen mit exakt demselben politisch-ideologischen Rezept: nämlich mit der Strategie einer Ausstattung des Volksstaats mit Notstandsvollmachten, einer Erhebung seines Apparats zu diktatorischer Macht, zum Leviathan sans phrase. Verfolgt wird diese Strategie einerseits von Teilen der subbürgerlichen Klasse, die, mittlerweile gewohnt, im Volksstaat "ihren" politischen Agenten und sozialen Repräsentanten zu gewahren, ihren durch die Verhältnisse zur revolutionären Ungeduld gesteigerten sozialen Unmut in die an ersteren gerichtete Forderung ummünzen, mit allen dem Staatsapparat zur Verfügung stehenden Gewaltmitteln und ohne alle Rücksicht auf etwaige, dem staatlichen Handeln entgegenstehende verfassungsmäßige Einschränkungen für die Sicherstellung einer halbwegs sozialverträglichen Volkswirtschaft und die Herstellung einer halbwegs sozialverantwortlichen politischen Ordnung zu sorgen. Weil es der volksstaatlich gewendete starke Staat des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ist, der durch seine transzendentale Fasson eines das liberale Bürgertum unter Kuratel stellenden autoritativen Sachwalters klassenübergreifend-gesamtgesellschaftlicher Interessen beziehungsweise subbürgerlich-volksspezifischer Bedürfnisse sich als politisch-ideologische Vertretung breiter Volksschichten etabliert und den letzteren den Schneid ihres ursprünglich gegen die Staatsordnung der bürgerlichen Gesellschaft nicht weniger als gegen diese selbst mobil gemachten revolutionären Elans abgekauft hat, übertragen nun diese Volksschichten ihre unter dem Druck der Verhältnisse neu erwachenden umstürzlerischen Energien vorzugsweise auf jenes institutionelle Organ und drängen mittels solch energetischer Besetzung den Staatsapparat mehr und mehr in die Rolle eines prospektiven Revolutionärs von oben, eines die gewaltsame Neuordnung und zwangsweise Sozialisierung der bürgerlichen Gesellschaft aus eigener Machtvollkommenheit in Angriff nehmenden, ebenso völkisch-vorsorglichen wie machiavellistisch-rücksichtslosen Autokraten und Souveräns. Als eine den Willen der Volksmasse nicht mehr bloß repräsentativ wahrende und zur Geltung bringende, sondern mehr noch aktiv verkörpernde und in die Tat umsetzende Ersatzfunktion bietet sich der eben hierdurch im Nimbus des sozialrevolutionären Nothelfers erstrahlende Volksstaat vor allem – wenn auch keineswegs nur – jenen Gruppen an, deren mangelnde Einbindung in traditionelle Arbeiterorganisationen und sozialistische Perspektiven ihrer revolutionären Energie oder Aufruhrstimmung einen hinlänglichen Charakter freiflottierender Unbestimmtheit und abstrakter Disponibilität ermöglicht.Aber verfolgt und betrieben wird die Strategie einer Ausstattung des volksstaatlichen Apparats mit diktatorischer Macht und quasirevolutionärer Durchschlagskraft nicht nur von einer breiten Front der aufrührerisch gestimmten unteren Volksschichten, sondern auch und ebensosehr vom Kapital selbst und den es verwaltenden Funktionärskadern. Schließlich ist, wie ausgeführt, die entscheidende, vom Kapital und seinen Funktionären vollauf gewürdigte politisch-ökonomische Leistung des charakterologisch zum Volksstaat umgebildeten starken Staats, daß er als politischer Repräsentant und sozialer Sachwalter der ausgebeuteten Klasse diese im Sinne einer langfristig gesicherten industriellen Kapitalakkumulation sozial integriert, politisch organisiert und ideologisch formiert, daß er also unter dem politischen Deckmantel einer Wahrnehmung von Interessen des Volks vielmehr ökonomisch die auf der Ausbeutung des letzteren basierende Verwertungsperspektive des Kapitals und das an diese Verwertungsperspektive gebundene bürgerliche Klasseninteresse wahrt. Warum sollte sich an dieser der transzendentalen Funktion des Volksstaats eingeschriebenen materialen Bestimmung durch dessen Zuspitzung zum sozialrevolutionären Notstandsstaat etwas ändern? So gewiß der Volksstaat selbst bereits bloß die strukturelle Fortsetzung und funktionelle Entfaltung der aus sozialintegrativem Mittel und kapitalakkumulativem Zweck amphibolisch verschränkten Konstitution ist, die im 19. Jahrhundert als der starke Staat Gestalt annimmt, so gewiß läßt sich von der dem 20. Jahrhundert vorbehaltenen Überführung des als Volksstaat sozialen Bürokraten in den als Volksgemeinschaftsstaat sozialrevolutionären Autokraten erwarten, daß auch sie sich im Rahmen jener zwieschlächtigen Konstitution vollzieht und bei aller konversionshaft charakterologischen Veränderung der transzendentalen Staatsform, die sie bedeutet, an der materialen Bestimmung, die mit dieser transzendentalen Form untrennbar verknüpft ist, kein Jota ändert. Und geradeso, wie die unteren Schichten sich von dem mit Notstandsvollmachten ausgestatteten, autokratischen Volksstaat im Vertrauen auf dessen sozialintegrative Funktion Hilfe in ihrer unter industriekapitalistischen Bedingungen akuten ökonomischen und sozialen Not versprechen, kann demnach auch das Industriekapital selbst im Blick auf den solcher sozialintegrativen Funktion eingeschriebenen kapitalakkumulativen Zweck darauf bauen, daß der autokratische Nothelfer de profundis seines zur revolutionären Maske radikalisierten sozialstaatlichen Charakters den kapitalen Interessen Genüge tut und seinen auf die Sicherstellung des kapitalen Verwertungsprozesses gemünzten konterrevolutionären Auftrag erfüllt.
Das praktische Resultat dieser von entgegengesetzten Seiten in unheiliger Interessengemeinschaft betriebenen Radikalisierung des pseudodemokratischen Volksstaatsprinzips zur ersatzrevolutionären Volksgemeinschaftsidee ist, wie gesagt, der faschistische Führerstaat. In der Figur des Führers, dem zur souveränen Person, zur lebendigen Maske ebensosehr irrationalisierten wie individualisierten, selbsttätigen Staatsapparat ist in unauflöslicher coincidentia oppositorum beides verkörpert: die soziale Funktion und die kapitale Bestimmung, die formale Repräsentanz der völkischen Gemeinschaftsbildung und die materiale Intendanz des kapitalen Verwertungsprozesses. Eben diese Koinzidenz bringt der Zwitterbegriff "Nationalsozialismus" zum Ausdruck, durch den die den faschistischen Führerstaat herbeiführende und in Szene setzende politische Bewegung sich charakterisiert: Von Staats wegen prätendiert wird ein Sozialismus im Dienste des Kapitals. Daß es nicht Kapitalsozialismus, sondern Nationalsozialismus heißt und daß also der kapitale Zweck in der Camouflage des nationalen Interesses auftritt, entspricht dabei dem paradoxen Charakter des als coincidentia oppositorum definierten Verhältnisses zwischen formaler sozialistischer Funktion und materialer kapitalistischer Bestimmung: Damit der kapitale Zweck ausgerechnet und partout durch eine Spielart des ihm an sich revolutionär entgegengesetzten Vergesellschaftungsmodells, nämlich durch einen im faschistischen Führerstaat als konterrevolutionäres Vexierbild gestaltgewordenen Sozialismus, betrieben und erreicht werden kann, muß dieser kapitale Zweck selbst jenem konterrevolutionären Sozialismus, seinem Mittel, sich physiognomisch anbequemen und hinter der Deckadresse eines zu reproduzierenden und zu akkumulierenden lebendigen Werts, hinter dem falsch lebendigen Pseudos eines durch die soziale Gemeinschaft aufzubauenden und zu mehrenden völkischen Erbes, eben hinter der zur Rasse, zum biologischen Mehrwert "konkretisierten" Nation, sich verstecken.
Es liegt auf der Hand, daß solch eine ebensosehr von seiten des großen Kapitals betriebene wie von breiten Volksschichten getragene Überführung des Volksstaats in den Volksgemeinschaftsstaat, solch eine im faschistischen Führer gestaltgewordene Fortschreibung des Sozialstaats im Dienste des Kapitals zu einem Staatssozialismus, der seine Dienstbarkeit gegenüber dem Kapital zum Dienst an der Nation, zum völkischen Anliegen eskaliert und verklärt, – daß also solch eine Eskalation des volksstaatlichen Prinzips den oben beschriebenen antibürgerlichen und liberalismusfeindlichen politischen Affekt nur verstärken kann, den im quasispontanen Reflex der ökonomischen Protektion, die er der bürgerlichen Kapitalklientel zuteil werden läßt, dieser Staat ausbildet und insgeheim nährt. Und wie der politische Affekt gegen die bürgerlichen Nutznießer der mit paradox sozialstaatlichen Mitteln sichergestellten und betriebenen Kapitalakkumulation eine Verstärkung erfährt, so muß natürlich auch der staatlicherseits ausgebildete Mechanismus zur gefahrlosen Abfuhr dieses Affekts, nämlich das Verfahren einer Verschiebung und Umwandlung des Affekts ins Ressentiment gegen den Liberalitätsjuden, gegen das vexierbildliche Alter ego des zum Staatsbürger geläuterten liberalen Bürgers, kurz, der von Staats wegen produzierte Antisemitismus, an Virulenz und Bedeutung gewinnen. Zwar unmittelbar mag es den Anschein haben, als würde der zum faschistischen Volksgemeinschaftsstaat avancierte Volksstaat sich gar nicht mehr mit einer bloßen ressentimentförmigen Abreaktion seines antibürgerlichen Affekts am Ersatzobjekt Jude zufriedengeben, als sei er vielmehr entschlossen, seinen im Rahmen des populistisch-formativen Charakters, den er ausbildet, und der völkisch-integrativen Funktion, die er ausübt, gegen die bürgerlichen Nutznießer des Kapitals aufgestauten politisch-ideologischen Groll an den letzteren selbst auszulassen. Wie anders soll man verstehen, daß der faschistische Staat im Zuge seiner die politische Machtergreifung in die bürokratische Tat umsetzenden Säuberungs- und Gleichschaltungskampagnen neben den politischen Gegnern auf der Linken auch beträchtliche Gruppen aus dem bürgerlichen Lager, sozialdemokratische und liberale Abgeordnete, Publizisten und Journalisten, bekennende Klerikale, Intellektuelle und Künstler aus dem Amt wirft und kaltstellt beziehungsweise verhaftet und kaltmacht? Bedeutet dies nicht, daß der Volksgemeinschaftsstaat im Unterschied zum Volksstaat seinem Affekt gegen die bürgerlich-liberale Klasse freien Lauf läßt und aus dem institutionellen Kurzschluß zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Ausbeutungsmacht und Ausgebeuteten, den er herstellt und vielmehr in höchsteigener führerschaftlicher Person darstellt, die Konsequenz einer Entfernung des ebensosehr politisch durch ihn überflüssig gemachten wie ideologisch für ihn zum Ärgernis gewordenen liberalbürgerlichen Kapitalanhangs als ganzen zieht, kurz, durch Beseitigung der bürgerlichen Klasse die Gesellschaft in dem von ihm politisch-ideologisch verkörperten Sinn als homogene Volksgemeinschaft, als im Dienste der kapitalen Verwertung klassenlos tätige nationale Bewegung und soziale Einheit ins Werk zu setzen strebt?
Derart revolutionär indes ist der faschistische Staat denn doch nicht! Wenn er Teile der bürgerlichen Klasse direkt aufs Korn nimmt und in die innere oder äußere Emigration beziehungsweise in die Konzentrationslager schickt, so nicht deshalb, weil er seine charakterologisch bedingte und funktionslogisch erzeugte Aggression gegen die naturwüchsige Klientel des Industriekapitals, das liberale Bürgertum, nunmehr ungehemmt ausleben könnte. Seine einzige Absicht ist vielmehr, das ins Extrem getriebene politisch-ideologische Machtmonopol, das er als Volksgemeinschaftsagent verkörpert, auch noch gegen die letzten Reste einer eigenständigen politischen Vertretung der bürgerlichen Klasse, gegen die letzten Bastionen eines mit der staatlich-bürokratischen Macht konkurrierenden Liberalismus geltend zu machen und durchzusetzen. Die bürgerlichen Gruppen, die der faschistische Staat kaltstellt oder kaltmacht, sind die Vertreter des Restbestandes bürgerlicher Öffentlichkeit im volksstaatlichen Deutschland, ist das Wenige, was sich an klassenspezifisch liberalistischem Machtanspruch im staatsbürgerlichen Deutschland nur überhaupt hat entwickeln können – und dagegen setzt der Staat nun das seinem autokratisch-totalitären Charakter und Auftrag gemäße Prinzip eines absoluten Staatsbürgertums, einer restlosen Unterwerfung des liberalen Bürgers unter die Staatsräson, einer rückhaltlosen Disziplinierung der naturwüchsigen Kapitalklientel durch den zum allein handelnden politischen Subjekt des Industriekapitals erhobenen Staatsapparat durch. Weil die Politik im faschistisch zugespitzten Volksstaat ausschließlich die Sache einer Kapital und Arbeit unter der Maske des nationalen Revolutionärs spontaneistisch zusammenfassenden und organizistisch aufhebenden, führerschaftlichen Staatsverwaltung ist, ist jeder bürgerliche Politikanspruch, der sich außerhalb dieser zur Person verdinglichten transzendentalen Synthesis des bürokratischen Apparats zu behaupten sucht, ein Haupt- und Staatsverbrechen und wird entsprechend verfolgt und geahndet. Als politisches Subjekt kann und darf der Bürger nur überleben, insofern er seine virtuelle Staatsbürgerschaft als aktuelle Staatsdienerschaft gewahrt und praktiziert und sich unter Verzicht auf jedwede publizistische, parlamentarische oder kulturpolitische Klassenvertretung mit Haut und Haar einem als Dienst am Volk zelebrierten nationalsozialistischen Staatsfunktionärstum verschreibt, das heißt, sich zum "fanatischen" Bürokraten mausert – was er denn auch massenhaft tut.
An der ökonomischen Begünstigung der bürgerlichen Klasse ändert sich durch diese ihre qua Gleichschaltung intensivierte politische Disziplinierung jedoch nicht das geringste. Gewiß: der mit dem Kapital zum kriegswirtschaftlich-volksbetrieblichen Komplex einer unbeschränkt haftenden Interessengemeinschaft aus industriellen Managern und ministerialen Bürokraten kurzgeschlossene faschistische Staat schaltet die in der bürgerlichen Klasse bestehende naturwüchsige Kapitalklientel als eigenständige gesellschaftliche Instanz und möglichen politischen Konkurrenten aus und treibt sie durch das Nadelöhr eines jede politische Betätigung auf Teilhabe an der völkischen Bewegung reduzierenden Staatsfunktionärstums – aber er respektiert doch zugleich die ökonomische Stellung dieser Kapitalklientel. Der faschistische Staat akzeptiert die bürgerliche Klasse in der ihr vom Kapital nach wie vor zugewiesenen Rolle des primären sozialen Nutznießers des von ihm im trauten Verein mit dem Kapital ebenso technokratisch forcierten wie quasisozialistisch formierten Verwertungs- und Ausbeutungsprozesses. Er, der sich mit den unmittelbar-funktionalen Agenten des Kapitals kurzschließt und institutionell verquickt, beugt sich zugleich der klassenmäßigen Zusammengehörigkeit dieser dem Staatsapparat führerschaftlich integrierten Kapitalfunktionäre mit der dem Apparat beamtenschaftlich assoziierten bürgerlichen Kapitalklientel und beläßt die letztere in ihrer traditionellen Position als mittelbar-soziale Klasse des Kapitals, die von dessen distributiven Segnungen vorzugsweise profitiert. Er fügt sich – aber er fügt sich mit dem antibürgerlichen Groll im Herzen, der die charakterologische Konsequenz seiner volksstaatlichen Konstitution ist und der nun sogar noch an Intensität gewinnt und sich deshalb zur förmlichen Obsession auswächst, weil der faschistische Staat seinen spezifischen Charakter ja aus der Zuspitzung und Dynamisierung der quasivolksstaatlichen Fasson zur pseudosozialrevolutionären Motion schöpft. So gewiß es das auszeichnende Charakteristikum des führerschaftlich mobilisierten Staatsapparats ist, daß mit ihm die volksstaatliche Prätention, im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft vornehmlich den kleinen Mann ideologisch zu repräsentieren und politisch zu organisieren, zum nationalsozialistischen Anspruch eskaliert, diese Repräsentation und Organisation des kleinen Mannes über alle bloß integrative Bedeutung hinaus in eine den Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft sprengende "verschworene" Volksgemeinschaft einmünden zu lassen, so gewiß ist es nur folgerichtig, daß der bereits die volksstaatliche Prätention begleitende antibürgerliche Affekt zu einer entsprechend totalisierenden Emotion aufgeladen und intensiviert wird. Bis zum Zerreißen eingespannt zwischen seinem auf die Beförderung und Sicherstellung der Kapitalakkumulation zielenden funktionellen Auftrag einerseits und andererseits dem quasisozialistischen Sendungsbewußtsein, das er zur Erfüllung seines Auftrags ausbilden und in die Tat einer vom bürokratischen Apparat höchstpersönlich zu simulierenden und zu dirigierenden völkisch-revolutionären Bewegung umsetzen muß, erfährt der faschistische Staat krasser denn je den ihn konstitutionell bestimmenden Widerspruch zwischen ökonomischem Zweck und politischem Mittel und reagiert mehr denn je auf diesen konstitutionellen Widerspruch mit reflexhafter Aggressivität gegen dasjenige am kapitalen Zweck, was dessen Gegensatz zum quasisozialistischen Mittel gesellschaftlich sichtbar werden läßt, das heißt, gegen die als sozial begünstigte Klasse in naturwüchsiger Unmittelbarkeit dem Industriekapital anhängende liberalbürgerliche Klientel. Mehr noch als der demokratische Volksstaat träumt der faschistische Führerstaat von der Möglichkeit, den kapitalen Ausbeutungszweck, dem er dient, in einer der quasisozialistischen Fasson, die er hervorkehrt, gemäßen Weise von allen privateigentümlich ökonomischen Abhängigkeiten und klassenspezifisch sozialen Rücksichten zu befreien. Der Arbeit und Kapital in Personalunion synthetisierende führerschaftliche Staatsapparat träumt davon, die Kapitalakkumulation in eben der von aller bestimmten gesellschaftlichen Zielsetzung losgesprochenen funktionalistisch-technokratischen Weise oder Selbstzweckform betreiben zu können, die ihm zur Sichselbstgleichheit des die allgemeine industrielle Mobilmachung inszenierenden Intendanten einer mit der Nation in aller Form deckungsgleichen Verwertungsgesellschaft verhülfe. Weil dieser pseudosozialistische Traum von der zur Selbstverwertungsgesellschaft homogenisierten Volksgemeinschaft unter Führung des Staatsapparats jedoch seinem auf die Aufrechterhaltung der ökonomischen Struktur der bürgerlichen Klassengesellschaft nicht weniger als auf die Sicherstellung der Kapitalakkumulation gerichteten politischen Auftrag offenkundig widerstreitet, braucht der faschistische Staat stärker noch als der Volksstaat die Juden. Er benötigt sie um den strikt klassenstrukturfeindlichen und massiv antibürgerlichen Affekt, den sein pseudosozialistisches Phantasma in ihm erregt, abzufangen und in eine seinem Pakt mit dem Kapital nicht in die Quere kommende Richtung zu lenken. Weit stärker noch als der demokratische Volksstaat braucht der faschistische Führerstaat den Liberalitätsjuden, um an ihm das durchaus nicht mehr nur nach der Manier des starken Staats funktionalistisch-didaktisch eingesetzte, sondern vielmehr substantialistisch-existential gewendete Exempel des strafwürdigen liberalen Bürgers zu statuieren, der aus der kapitalen Volksgemeinschaft ausgeschlossen werden muß, weil er diese symptomatisch verrät und durch seine soziale Existenz als Schein zu decouvrieren droht. Insofern der faschistische Staat, der mittels des politischen und ideologischen Instrumentariums einer quasisozialistischen Volksbewegung die kapitale Verwertungsperspektive sicherstellen will, mit seiner Verfahrensweise sich krasser denn je in Widerspruch setzt zu den mit der Verwertungsperspektive einhergehenden sozialen Verbindlichkeiten und Klassenrücksichten, braucht er das Faszinosum und Schreckensbild des zwischen Raffgier und Schmarotzertum, Schatzbildung und Wohlleben, zwischen abstraktivem Tanz ums goldene Kalb und privativem Konsumrausch changierenden Liberalitätsjuden mehr denn je, um an diesem systemtranszendenten Ersatzobjekt den antibürgerlichen Affekt abzureagieren, den jener systemimmanente Widerspruch in ihm wachruft. Dem in Gestalt des Liberalitätsjuden aus der Volksgemeinschaft hinausprojizierten "raffenden Kapital" oder "prassenden Mammon" tritt in geschlossener Arbeitsfront das "schaffende Kapital" oder "Opferwerk" des faschistischen Staatwesens gegenüber, das den liberalen Bürger von seiner naturhaften Asozialität erlöst und zum widerspruchslosen Staatsdiener aufhebt. Und entsprechend der Verschärfung des inneren Widerspruchs zwischen pseudosozialistisch-politischem Mittel und privatkapitalistisch-ökonomischem Zweck, den der faschistische Staat durch das Ersatzobjekt Liberalitätsjude "lösen", und der Intensivierung des widerspruchsbedingten Affekts, den er durch die Projektion auf das Ersatzobjekt erledigen muß, kehrt nun zwangsläufig auch seine Haltung gegenüber diesem selbst einen immer aggressiveren Zug hervor, zeigt sich von zunehmender Gewalttätigkeit geprägt. Weil die vom faschistischen Staat als Arbeitsfront inszenierte kapitale Volksgemeinschaft den bürgerlichen Liberalismus, den die Juden vertreten müssen, zu einem mit der eigenen politisch-ideologischen Konstitution unvereinbaren Fremdkörper erklärt, nimmt das gegen die Juden sich entladende Exkommunikationsbedürfnis nur zu rasch die Züge einer handgreiflichen Verfolgungs- und Verdrängungspraxis an. Dabei legt diese das frühere volksstaatliche Ressentiment in volksgemeinschaftliche Aggression überführende Verfolgung bis hierher durchaus noch die Züge des aus der europäischen Vergangenheit vertrauten Pogroms an den Tag. Die am Ersatzobjekt Jude geübte Verdrängungspraxis präsentiert sich mithin noch im historisch gewohnten Charakter einer Vertreibungsaktion – mit dem strukturell wesentlichen und nicht zuletzt für die Größenordnung des Ereignisses wichtigen Unterschied allerdings, daß das Pogrom staatlich organisiert und die Vertreibung im Wortsinne eine Haupt- und Staatsaktion ist. Bei aller mörderischen Agressivität, die der ebenso systematisch erzeugte wie symptomatisch verschobene Affekt, von dem sie gespeist wird, ihr verleiht, gehorcht also diese in der "Reichskristallnacht" gleichermaßen ihren Höhepunkt und ihr Symbol findende nationalsozialistische Verfolgungs- und Vertreibungspraxis der dreißiger Jahre immer noch einer eher traditionellen Verdrängungslogik: Die unter staatlicher Regie gegen die Juden mobilisierte volksgemeinschaftliche Aggression trägt noch eher Züge eines den Gegner "exilierenden" Ausschluß- und Entfernungsverfahrens als die Totenkopf-Physiognomie einer das Opfer "eliminierenden" Ausrottungs- und Beseitigungsaktion, die sie dann plötzlich – mitten im Krieg – hervorkehrt und mit einem im Angesicht der drohenden militärischen Niederlage wahnwitzig anmutenden Aufwand und Systemzwang entfaltet.