2. Wertbildung als Wucher: Der Burgjude

Das also ist die in unzähligen Spiel- und Lesarten sich wiederholende Leidensgeschichte des ebenso politisch abhängig existierenden wie ökonomisch selbständig subsistierenden, kleinen mittelalterlichen Produzenten, der sich durch die Bedürfnisse seiner politischen Herrschaft dem handelskapitalen Prinzip und seinen marktförmig funktionierenden Mechanismen konfrontiert und nur zu bald auch ausgeliefert findet. Was Wunder, daß er diesem Marktprinzip schon bald mit äußerster Reserve begegnet, daß er seinen Mechanismen, die ihn als wertbildenden Faktor vereinnahmen, um ihn zugrunde zu richten, sobald die Wertbildung keinen Gewinn für den Markt mehr abwirft, nur zu rasch mit abgrundtiefem Ressentiment gegenübersteht? Was Wunder, daß er sich nichts mehr wünscht, als dieses Prinzip wieder aus seinem Leben zu entfernen, sich frei von ihm bewegen zu können? Mit direkter Gewalt gegen es vorzugehen, wie er wohl möchte, wenn er sich in die Enge hoffnungsloser Verschuldung und existenzbedrohender Pfändung getrieben sieht, kann er indes nicht wagen, weil das Prinzip und seine Repräsentanten ja den Schutz und die Förderung der gewaltübenden, herrschaftlichen Macht in der Gesellschaft, eben der feudalen Klasse, genießen, die sich seiner zur Befriedigung ihres über den unmittelbaren Subsistenzrahmen hinausgehenden Bedürfnisses nach strategischen Gütern und Luxusartikeln bedient. Was aber bleibt dem Produzenten dann überhaupt zu tun übrig? Welcher Weg bleibt ihm, dem zwischen seinem Zorn gegen den ökonomischen Ausbeuter auf dem Markt und seiner Angst vor dem politischen Gewalthaber in der Burg Hin- und Hergerissenen überhaupt noch offen? Es bleibt ihm der für solche Fälle typische symptomatisch-faule Kompromiß, die Verlagerung der Konfrontation auf einen Nebenschauplatz, die Austragung des Konflikts an einer für dessen wirkliche Reichweite und Bedeutung unmaßgeblichen Stelle. Diese Stelle ist das Zinsgeschäft in abstracto, das Verleihen von Wertmitteln, Geld, unabhängig von der Warenproduktion und ihrem locus communis, dem Markt. Hier nimmt die geschilderte Wertbildung mittels des Kaufs von Arbeitskraft die Züge einer ominös objektiven Selbstvermehrung des Werts, einer im Sinne des "Geld heckt Geld" unvermittelten Selbstverwertung an. Während sonst der Wertverleih durch seine lokale Einbindung in die Marktinstitution beziehungsweise seine personale Anbindung an die Marktrepräsentanten noch direkt auf die Quelle des Werts, die Arbeitskraft des Produzenten, und auf den Mechanismus der Wertbildung, die Warenproduktion, bezogen und insofern auch noch der aus dem Verleih resultierende Wertzuwachs in seiner Herkunft erkennbar bleibt, erlangt in dem vom Markt institutionell und personell abgelösten Zinsgeschäft der Vorgang die Undurchschaubarkeit und mysteriöse Bedeutung einer rein finanziellen Transaktion. Der Geldverleiher gibt Wert und erhält dafür mehr Wert zurück. Vom Wertbildungsprozeß dazwischen weiß er nichts und will er nichts wissen; der ist Sache dessen, der das Geld leiht. Daß der Leihende mehr Wert, als er vom Verleiher erhält, durch seine Arbeitskraft produziert, ist Bedingung dafür, daß er das geliehene Kapital mitsamt dem als Zinsen firmierenden Wertabschlag zurückzahlen kann, und insofern conditio sine qua non des ganzen Geschäfts. Aber genau darum, weil diese Bedingung nur eine stillschweigende Implikation ist, nimmt das Geschäft den qualitativ monströsen Charakter einer Transaktion an, bei der der von jeder marktspezifischen Distributionsarbeit oder güterbezogenen Zirkulationsfunktion abgelöste, reine Besitz von Wert bereits zur Aneignung von Mehrwert berechtigt. Das heißt, der Geld leihende Produzent findet die oben beschriebene Verwandlung seiner Arbeitskraft aus einem gütererzeugenden Vermögen in einen wertbildenden Faktor in dem Sinne reinkulturell verwirklicht, daß er nun als Produktionsfaktor eines Werts fungiert, der jeden in den produzierten Waren, in denen er sich unmittelbar darstellte, bis dahin noch kultivierten Anschein einer als materiale Vermehrung des gesellschaftlichen Reichtums mit seiner realen Selbstvermehrung verknüpften gemeinnützigen Funktion abgelegt, mithin die seiner privaten Profit- oder Selbstverwertungsstrategie bis dahin noch aufgesetzte Maske eines die allgemeine gesellschaftliche Reproduktion befördernden Instruments fallengelassen hat und sich nunmehr ohne Rücksicht auf die Produktion materialen gesellschaftlichen Reichtums privativ darauf konzentriert, durch abstrakte Aneignung des von der Arbeitskraft geschaffenen Mehrwerts seinen realen Anteil an den Produkten, die dieser Mehrwert repräsentiert, und das heißt seinen eigenen Anspruch auf gesellschaftlichen Reichtum, zu vergrößern. Indem an die Stelle des – Wert auf dem Weg über die Aneignung von Arbeitskraft in Warengestalt akkumulierenden – Kaufmanns der – Wert über die Aneignung von Arbeitskraft in Geldform appropriierende – Geldverleiher tritt, streift der marktentsprungene Titel auf gesellschaftlichen Reichtum, den der den Produzenten geliehene Wert verkörpert, allen in der direkten Verkoppelung der Mehrwertproduktion mit der Gütererzeugung sonst gewahrten Schein von Sozialverpflichtung ab und tritt in der ganzen monströsen Nacktheit eines auf die Expropriation weiteren gesellschaftlichen Reichtums ebenso eifrig bedachten wie um dessen Produktion absolut unbekümmerten, rein privativen Umverteilungs- oder vielmehr Ausbeutungsmittels zutage.

Aber nicht nur das qualitativ monströse Ausbeutungsfaktum, sondern auch die quantitativ exorbitante Ausbeutungsrate wird unverhohlener sichtbar. Jene im Leihverhältnis statthabende Verdoppelung oder Vervielfachung des Gewinnanteils der Marktrepräsentanten, die, wie oben ausgeführt, dadurch zustande kommt, daß dem Produzenten mittels der geliehenen Summe erst einmal seine wie potentielle Waren behandelte Arbeitskraft mit dem als Profit des Marktes üblichen Abschlag bezahlt wird und dann noch einmal die aktuellen Waren, in deren Münze er die Arbeitskraft schließlich liefert, mit dem gleichen Wertabschlag abgenommen werden, – jene Vervielfachung des Gewinnanteils wird nun, da die Vermittlung durch die Waren entfällt beziehungsweise aus der rein finanziellen Transaktion herausfällt und völlig getrennt von ihr stattfindet, in ihrem wahren Ausmaß unmittelbar erkennbar. Weil nurmehr Wert in Geldform ausgeliehen und Wert in Geldform zurückgezahlt wird, ist die quantitative Diskrepanz zwischen der Anfangs- und der Endsumme offensichtlich und wird nicht mehr dadurch kaschiert, daß die zurückgezahlte Wertsumme in der Naturalform von Waren auftritt, die gewohnheitsmäßig vom Produzenten nicht nach ihrem Wert, sondern nach dem Preis taxiert werden, den die Marktrepräsentanten dafür zahlen. Was an sich nur die in Geldform erscheinende Rate der normalen Ausbeutung ist, gewinnt so den Anschein einer abnormen Proportion, wird als unverhältnismäßiger Expropriationsgrad, als halsabschneiderischer Wucher erfahren und verstärkt noch den mit der Trennung des Geldverleihers vom Kaufmann einhergehenden qualitativen Eindruck einer von aller gesellschaftlichen Leistung abgekoppelten, rücksichtslos privativen Selbstverwertung des Werts.

Gegen diese besondere Sparte oder spezialisierte Funktion der Ausbeutung von Arbeitskraft durch den markteigenen Wert also richtet der Produzent seinen Zorn, auf diesen in der, wie man will, entmischten Form oder Reinkultur des Zinsgeschäfts sich entfaltenden Nebenschauplatz der Kapitalakkumulation konzentriert er sein Ressentiment und vermeidet so die direkte Konfrontation mit dem handelskapitalen Gegner und der ihn protegierenden feudalen Herrschaft. Ist Konfliktscheu oder Angst vor der politischen Übermacht der unmittelbare "negative" Anlaß für die Verschiebung des Schauplatzes der Auseinandersetzung, so kommt als verstärkendes "positives" Motiv die Hoffnung hinzu, den auf diese Weise eingegrenzten und isolierten Gegner überhaupt aus dem Feld schlagen und das in ihm verkörperte neue Prinzip womöglich als solches der Gesellschaft wieder austreiben zu können. Was in genere des konkreten Marktgeschehens und der unter seinem Deckmantel vor sich gehenden Wertakkumulation sich schon definitiv der Vorstellungskraft entzieht, das läßt sich in specie des abstrakten Zinsgeschäfts und der in seinem Rahmen betriebenen Schatzbildung noch eher imaginieren: die öffentliche Ächtung des Wertprinzips als eines in toto gesellschaftsfeindlichen Faktors und seine gemeinschaftlich durchgesetzte Abschaffung mit dem Ziel der Wiederherstellung alter, habituell naturalwirtschaftlicher Verhältnisse. Indem der Produzent den in seiner generellen und primären Form als Warenhandel längst unangreifbar gewordenen wertbestimmten Ausbeutungsmechanismus bloß in seiner speziellen und sekundären Ausprägung als Geldhandel aufs Korn nimmt, geht er nicht nur einer aussichtslosen gesellschaftlichen Konfrontation aus dem Weg, sondern erhält sich auch die – wie immer um den Preis der Selbsttäuschung erkaufte – Hoffnung auf eine mögliche effektive Beseitigung jenes ihn bedrängenden und in seiner Existenz bedrohenden Mechanismus. So wahr der Produzent die Wertakkumulation in ihrer allgemeinen Form als marktmäßiger Warenhandel geflissentlich übersieht und auf die dieser allgemeinen Form ebenso aufgesetzte wie äußerliche Gestalt eines Zinswucher betreibenden Geldhandels reduziert, so wahr kann er sich noch in der Hoffnung wiegen, durch die gesellschaftliche Ausgrenzung und Beseitigung des Geldhandels das Wertprinzip als solches aus der Welt schaffen zu können.

Und in dieser mittels Verschiebung, Isolation und Abstraktion des Wertprinzips die Illusion seiner möglichen Beseitigung aufrechterhaltenden konfliktscheuen Wahrnehmungstechnik übernehmen nun die Juden die Rolle des gesellschaftlichen Trägers und handelnden Subjekts des solcherart ausgegrenzten Wertprinzips. Und sie übernehmen diese Rolle aus dem einzigen und einfachen Grund, weil die Umstände ihrer gesellschaftlichen Existenz den mit dem Wertprinzip assoziierten Strukturmerkmalen besonders gut korrespondieren. Zu diesen Strukturmerkmalen, die das im Geldhandel dingfest gemachte Wertprinzip als einen dem gesellschaftlichen Zusammenhang ebenso äußerlichen wie aufgesetzten Zwangsmechanismus ausweisen, paßt ein Subjekt, das sich zum gesellschaftlichen Ganzen in einer entsprechend unvermittelten und kontingenten Position befindet. Wer könnte in den dumpf bodenständigen, lokal beschränkten und aus schierem Mangel an überregionalen Strukturen homogenen Ackerbaugesellschaften der damaligen Zeit solche Unvermitteltheit und Kontingenz besser verkörpern als die Juden mit ihrer Uneingesessenheit, Fremdbürtigkeit und Versprengtheit und ihrer im damals zentralen Punkte sozialer Identität und Zusammengehörigkeit, im Punkte der religiösen Denomination und Zugehörigkeit zur katholischen Kirche, ausgemachten Andersartigkeit und entschieden abweichenden Bestimmung? Für eine Konfrontation, die jenes ökonomische Prinzip privativer Wertbildung, das politisch angegriffen werden soll, erst einmal aus der Schußlinie möglicher Vergeltungsmaßnahmen herausbugsiert und als eine mit keiner Gegenwehr drohende, weil aus aller Beziehung zu den gesellschaftlichen Machtzentren herausgelöste, isolierte Zielscheibe aufstellt, – für eine solche Konfrontation sind die Juden der ideale Adressat und Gegner. Sie, die als Landesfremde über keinen sozialen Rückhalt, als nicht an der religiösen Identität der Mehrheit Partizipierende über keinen politischen Kredit verfügen und die mit ihrer Weltläufigkeit und ihren Verbindungen nach draußen in den engen, xenophobischen Gemeinwesen der damaligen Zeit höchstens und nur Infiltrations- und Verschwörungsängste wachrufen, – sie müssen dafür herhalten, jene Züge existentiell zu verkörpern, die mit dem seiner tatsächlichen zentralen Stellung auf dem Markt entkleideten und ins Abseits einer speziellen Geschäftssparte verschobenen neuen Wertprinzip der durch es bedrängte Produzent strukturell verknüpft sehen möchte: Heteronomie und Akzidentialität, Zusammenhanglosigkeit und mangelnde Notwendigkeit. Eben die Isoliertheit und Kontingenz, die der Produzent mittels Verschiebungsleistung der gesellschaftlichen Funktion Wertprinzip nachzuweisen bemüht ist, ist dem gesellschaftlichen Subjekt Jude als Factum brutum eigen. Ordnet er deshalb jene Funktion diesem Subjekt zu, so kann er in seinem Verhalten gegenüber letzterem die Früchte seiner an ersterer vorgenommenen Verschiebung ernten: Er kann das auf Geldhandel reduzierte Wertprinzip in Gestalt des gesellschaftlichen Trägers Jude ächten und mit dem Ziel verfolgen, es aus der Gesellschaft zu entfernen, den gesellschaftlichen Reproduktionszusammenhang von ihm zu befreien. Einen statistisch relevanten Zusammenhang zwischen Geldhandel und Juden braucht es dabei nicht: So wahr für die als Verschiebung beschriebene Zurichtung der wertprinzipiellen Funktion nicht deren objektspezifisch-innere Bestimmtheit, sondern eine psychologisch-äußere Rücksicht, nämlich das mit politischer Konfliktscheu einhergehende illusionäre Bedürfnis der Produzenten nach Isolierung und Akzidentialisierung der Funktion maßgebend ist, so wahr braucht es für die Wahl eines zur Funktion passenden gesellschaftlichen Subjekts nicht mehr als die Befriedigung jenes Bedürfnisses. In dieser Hinsicht geht es den Juden geradeso wie den Opfern jeder "normalen" neurotischen Verschiebungsleistung: Sie müssen Verantwortung für etwas übernehmen, womit sie sachlich nichts weiter verknüpft als die von einem ebenso zielstrebigen wie "unsachlichen" Interesse bestimmte assoziative Übereinstimmung, die der "Neurotiker" Produzent zwischen ihnen und dem, wofür er sie Verantwortung übernehmen läßt, gewahrt. Daß die "neurotische" Assoziation zwischen Geldhandel und Juden, weil sie ja keine private Phantasie des individuellen Produzenten ist, sondern der kollektiven Vermeidungs- und Illusionsstrategie einer ganzen Kleinproduzentenklasse entspringt, ihrerseits nun gesellschaftliche Bedingungen schafft, die einer empirischen Verbindung von Geldhandel und Juden Vorschub leisten, das ist, zumal die politische Herrschaft diese Entwicklung begünstigt, unvermeidlich, bleibt aber für die Wirksamkeit des Verschiebungs- und Zuordnungsmechanismus unerheblich beziehungsweise sekundär und braucht uns deshalb hier nicht weiter zu interessieren.

Was die politische Herrschaft, die feudale Macht, dazu bringt, den verschobenen Angriff auf ihren Protegé, das handelskapitale Wertprinzip, nicht nur zu tolerieren, sondern mehr noch dadurch indirekt zu unterstützen, daß sie durch eine Doppelstrategie aus Diskriminierung und Begünstigung die Juden in den Geldhandel drängt und so der "neurotischen" Assoziation der verschobenen ökonomischen Funktion mit diesem gesellschaftlichen Subjekt eine nachträgliche Plausibilisierung oder vielmehr sekundäre Rationalisierung verschafft, liegt auf der Hand. Der verschobene Angriff erfüllt eine Ventilfunktion, die angesichts des Ressentiments und Konfliktpotentials, das die ökonomische Entwicklung in den Produzentenschichten ständig neu anhäuft, von der feudalen Macht entschieden honoriert wird. Ohne daß das kapitale Marktprinzip selbst und die es protegierende politische Herrschaft in die soziale Konfrontation hineingezogen würden, können die ausgebeuteten Produzenten an einem Popanz oder jedenfalls Substitut dessen, was sie in Wirklichkeit peinigt, ihr Mütchen kühlen, so daß der politischen Herrschaft am Ende nur die Aufgabe bleibt, im Anschluß an die Ausschreitungen und die dadurch erreichte Abfuhr den sozialen Frieden neu in Kraft zu setzen und den gebeutelten Popanz wieder unter ihre ebenso drückenden wie schützenden Fittiche zu nehmen. Zu dieser politischen Entlastungsfunktion, die der zum Antisemitismus verschobene und in periodischen Judenverfolgungen sich Luft machende ökonomische Protest des mittelalterlichen Kleinproduzenten erfüllt, kommt noch der persönliche Vorteil und private Bonus hinzu, den solcher Antisemitismus der feudalen Macht verschafft. Egal, ob sie bloß durch die formellen Kriterien der Kontingenz und Isoliertheit ihrer sozialen Position mit dem auf abstrakten Geldhandel reduzierten Marktprinzip assoziiert werden oder ob diese formelle Assoziation durch sozialen Druck und politische Steuerung empirische Realität gewinnt, – so oder so sind die Juden in ihrer ebenso isolierten wie peripheren und ebenso angefeindeten wie rechtlosen Lage von der Protektion der politischen Herrschaft abhängig und insofern aber auch deren Erpressungen schutzlos ausgesetzt, ihr auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Sei's daß die feudale Macht sich an den Ausschreitungen gegen die Juden offiziell beteiligt und dabei ihr Schäfchen ins Trockene bringt, sei's daß sie die Juden ihrem Schutz unterstellt, sie vor Ausschreitungen schützt und sich dies entsprechend honorieren läßt, – im einen wie im anderen Fall ist sie der Hauptnutznießer der Judenverfolgungen und kann den zum Wertprinzipträger aufgebauten Popanz nach Belieben ausbeuten, ohne daß dieser sich der Zudringlichkeiten seiner Schutzherren entziehen, geschweige denn erwehren könnte. Ironischerweise sind es die kirchlichen Repräsentanten der feudalen Macht, die Bischöfe, die Wahrer jener gesellschaftlichen Identität, von der die Juden ausgeschlossen sind, die dieses Instrument der protektionistischen Ausbeutung am gezieltesten einsetzen und am perfektesten handhaben.

Durch das ganze Mittelalter hindurch funktioniert dieser an den Juden exekutierte Verschiebungs- und Abfuhrmechanismus, der es den vom handelskapitalen Wertprinzip heimgesuchten Kleinproduzenten erlaubt, von Zeit zu Zeit ihrer Animosität gegen die neuen ökonomischen Verhältnisse in der Weise Luft zu machen, daß nicht nur das handelskapitale Wertprinzip selbst und die es stützende feudale Macht von allen Ausbrüchen unberührt bleiben, sondern daß, mehr noch, die letztere imstande ist, aus der Situation der als Sündenbock für das Wertprinzip herhaltenden Juden permanent persönlichen Vorteil zu ziehen. So teuer ist der bischöflichen und fürstlichen feudalen Macht dieser persönliche Vorteil, den die Juden ihr bringen, im Verein mit der Südenbockfunktion, die sie für sie erfüllen, daß sie sich beeilt, sie als Burgjuden unter ihre drückenden Fittiche zu nehmen, um sie jederzeit unter Kontrolle und bei Bedarf zur Verfügung zu haben. Für den Fall nämlich zur Verfügung zu haben, daß wieder einmal die mittels marktförmigem Wertprinzip funktionierende Expropriation der Produzenten bei den letzteren so verheerende Auswirkungen zeitigt, daß deren Bedürfnis nach politischem Protest und ökonomischem Widerstand unbezwinglich wird. Ist es so weit, dann sind die Burgjuden an der Reihe und werden von ihren fürstlichen, bischöflichen oder auch patrizischen Schutz- und Zwingherren mehr oder minder kontrolliert "eingesetzt", um dieses Bedürfnis der Kleinproduzenten in einer den letzteren genehmen, weil gleichermaßen ihrer Konfliktscheu und ihrem illusorisch radikalen Befreiungsanspruch Rechnung tragenden Form zu befriedigen.

Sind so aber allen Beteiligten, der politisch herrschenden Oberschicht und den ökonomisch profitierenden Marktrepräsentanten ebenso wie der politisch geknechteten und ökonomisch ausgebeuteten Unterschicht, die Juden ein genehmer Popanz und Sündenbock, so ist nicht verwunderlich, daß dieser Antisemitismus mit seinen wellenförmig wiederkehrenden Gewaltausbrüchen, seinen periodisch sich wiederholenden Ausschreitungen und Verfolgungen, das ganze Mittelalter hindurch in Kraft bleibt und als ein unverzichtbarer Faktor aller damaligen politischen Strategien und sozialen Auseinandersetzungen, kurz, als integrierender Bestandteil der "Kultur" jener Zeit firmiert. Und nicht nur das Mittelalter hindurch hält dieser Antisemitismus an, auch die Renaissance und Gegenreformation überdauert er und bleibt, soweit man der Rolle und dem Schicksal der literarisch gewordenen Figur des Württemberger Juden Süß-Oppenheimer Repräsentativität für jene Zeit zuerkennen kann, bis tief ins 18. Jahrhundert hinein bestehen. Unverändert müssen, wie es scheint, die Juden als Prügelknaben für die Abreaktion von Ressentiments herhalten, die eine von der politischen Herrschaft protegierte oder sogar beförderte, marktförmig betriebene Ausbeutung in den Ausgebeuteten erregt und die als erklärt politischen Zorn direkt gegen das Marktsystem selbst, geschweige denn gegen die es schützende politische Macht zu richten, die Betroffenen weder den Mut noch die Ehrlichkeit beziehungsweise auch den Wirklichkeitssinn aufbringen. Unverändert müssen die Juden als Blitzableiter für politisch-ökonomisch erzeugte, gesellschaftliche Spannungen dienen, nur daß jetzt, entsprechend der mittlerweile vollzogenen Ersetzung feudaler Burgen und Bischofssitze durch absolutistische Fürstenhöfe, an die Stelle des für Geldhandel und Wucher verantwortlich gemachten Burgjuden alter Zeit der für fiskalische und monopolistische Machenschaften zur Verantwortung gezogene Hofjude neuer Prägung getreten ist.

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