Anhang Der revolutionäre Staat: Das Paradox der bürgerlichen Gesellschaft
Es braucht nicht eben viel Sensibilität, höchstens vielleicht mittlerweile einen Hauch von Zivilcourage, um wahrzunehmen, daß das wesentliche Merkmal der Demokratie, in der wir leben, die zutiefst kontradiktorische Bestimmtheit ist, in der sie sich – mit systematisch anmutender Konsequenz – ihrem eigenen Begriff und Ideal zuwider entfaltet. Beziehungsweise erfordert es schon ein gerüttelt Maß sei's an ökonomischer Involviertheit, sei's an professioneller Bestechlichkeit, sei's an beidem (inklusive jener extremen politischen Anspruchslosigkeit, die speziell den deutschen Bürger seine historischen Erfahrungen gelehrt haben), um den eklatanten Selbstwiderspruch, der die Entwicklung und Darstellung unserer sogenannten freiheitlich-demokratischen Grundordnung durchgängig beherrscht und stigmatisiert, sei's unverfroren überhaupt außer Acht zu lassen, sei's in eine bloß graduelle Differenz, eine aus empirisch-natürlicher Unvollkommenheit resultierende Abweichung von der idealischen Norm umzulügen. In der Tat hätte es der Notstandsgesetze und der Berufsverbote kaum noch bedurft, um die Richtung deutlich werden zu lassen, in die – im taktisch einzelnen ebenso unentschlossen wie im strategisch allgemeinen unaufhaltsam – die Bundesrepublik Deutschland von Anfang ihres kürzlichen Bestehens an ihre verfassungsmäßige Ordnung zu exegetisieren und auszubilden tendiert hat: jene Richtung nämlich, in der verfassungsmäßige Ordnung – nach Maßgabe der in diesem Terminus beschlossenen Heteronomisierung des Verfassungsbegriffs durch die Ordnungskategorie – gleichbedeutend wird mit a) der Ersetzung konstitutionell demokratischer Vollmacht durch institutionell bürokratische Gewalt, b) der Zerstörung gemeinsinnig ziviler Freiheit durch informationstechnisch totalitäre Kontrolle und c) der Verdrängung öffentlichkeitsspezifisch politischer Diskussion durch reklameförmig terroristische Manipulation.
Aber kann und muß deshalb schon von Faschismus gesprochen werden? Ist nicht eine Entwicklung wie die für unsere derzeitige bundesrepublikanische Gesellschaft charakteristische noch allemal wesentlich verschieden oder jedenfalls himmelweit entfernt von jener besonderen aufbruchsemphatischen "Bewegung", die als expressis verbis faschistische zuerst das Nachkriegsitalien der zwanziger Jahre heimgesucht und dann in dem zwölf Jahre dauernden nationalsozialistischen Deutschen Reich gleichermaßen ihre weltgeschichtlich erweiterte Fortsetzung und ihr apokalyptisch überstürztes Ende gefunden hat? Was haben der zunehmend autoritäre Duktus, das mehr und mehr repressive Vorgehen, der haltlos zynische Gestus der Tribunen, Zensoren und Auguren des gegenwärtigen politischen Systems – über den oberflächlichen Schein von Analogie, den das rhetorische Mittel eines abstrakten Parallelismus zu erzeugen vermag, hinaus – konkret gemein mit dem reaktionären Impetus, der mörderischen Aggressivität und dem demagogischen Verfahren der von Anfang ihrer totalitären Ermächtigung an nichts aIs die physisch und psychisch nackteste Gewalt brauchenden, übenden und predigenden Verwalter des vergangenen faschistischen Staatsapparates? Und was verbindet aIso spezifizierbar die autoritären Maßnahmen, die repressiven Veranstaltungen und die zynischen Machenschaften, auf die das bundesrepublikanische Staatswesen in wachsendem Maß rekurriert, mit der "beispiellosen Barbarei", dem "unaussprechlichen Unheil" und dem "entsetzlichen Wahnsinn", für die das "unvorstellbare Schreckensregiment" jenes "grauenvollsten Abschnitts" und "dunkelsten Kapitels" deutscher Geschichte die Verantwortung trägt? Auf jeden Fall verbindet – wenn auch vielleicht weniger konkret aIs symptomatisch und weniger spezifisch aIs markant – die beiden Verhältnisse eines: das Ohnmachts- und zugleich Fremdheitsgefühl, mit der die betroffene Gesellschaft auf die eine wie auf die andere politische Entwicklung reagiert.
Wie einen dämonologisch überwältigenden Schicksalsschlag, ein ebenso unabwendbares wie unbegreifliches Strafgericht erleben- wenn anders Wendungen wie die frei aus dem Gehör zitierten obigen aIs typische Reaktionen gelten können – die höheren Stände des deutschen Volkes – will heißen: die Schichten der deutschen Gesellschaft, die auf Grund ihrer sozialen Position bzw. ihrer Bildung das politische Publikum stellen und aus denen sich die bürgerliche Öffentlichkeit rekrutiert – das Tun und Treiben des unter dem Titel eines nationalsozialistischen explizit faschistischen Staats. Und dies nicht erst post festum, nicht erst seit Ausbruch der bundesrepublikanischen Ära, obzwar in der Tat der in den obigen Formulierungen unbedingt vorherrschende Distanzierungslaut und penetrant ertönende Entsetzensschrei in der Mehrzahl der Fälle eine der Instauration der Bundesrepublik geschuldete Neuerwerbung sein dürfte. So wahr indes solch mittlerweile entschiedene Distanzierung und solch nunmehr obligates Entsetzen nur die unmittelbare Kehrseite, die in der Form einer einfachen Umkehrung reine Wiederholung dessen darstellt, was in der affirmativen Gestalt unwillkürlicher Faszination vor und besinnungsloser Identifizierung mit dem als göttliche Fügung und Gnadengeschenk sich ihnen offerierenden faschistischen Staat die gleichen Personen und Schichten zu Lebzeiten des nationalsozialistischen Regimes anwandelte, so wahr ist, wovon beide Attitüden mit der in Wahrheit kapitalen Uniformität ihrer scheinbar diametralen Entgegensetzung zeugen, ein und dieselbe, unverbrüchlich kontinuierte Verhaltensstruktur. Ob im Sinne einer göttlichen Fügung oder in der Bedeutung eines teuflischen Schicksals, ob in der Gestalt eines Gnadengeschenks oder in der Form einer verderbenbringenden Heimsuchung, so oder so und vorher wie nachher drängt sich der bürgerlichen Öffentlichkeit der deutschen Gesellschaft der faschistische Staat in der Monstrosität und immer gleichen Verhältnislosigkeit eines als wortwörtliches factum brutum ebenso überwältigenden wie fremden und ebenso unvorhersehbaren wie unwiderstehlichen Ereignisses auf.
Und ähnlich bzw. im Prinzip haargenau gleich scheint es nun also dieser bürgerlichen Öffentlichkeit auch mit dem Nachfolger des faschistischen Staats, dem Staatswesen der Bundesrepublik Deutschland, zu ergehen. Wiewohl denkbar fern der ekstatischen Faszination und dem stürmischen Aufbruchsaffekt früherer Tage und ganz und gar befangen statt dessen in der monoton leichten Verstimmung sei's einer bloß stoischen Begriffsstutzigkeit, sei's einer mehr noch zynischen Indifferenz, scheinen die Gefühle, die das bundesrepublikanisch erneuerte Staatswesen beim politischen Publikum erregt, – ihrer unterhalb aller Phänomenologie sich durchhaltenden kategorialen Struktur nach – noch immer die alten, aus Sensationen schrankenloser Befremdung und haltloser Ohnmacht unverändert gemischten, die schon das nationalsozialistische Regime provozierte. Noch immer ist, was als von Staats wegen betriebenes und sanktioniertes politisches Geschehen sich der bürgerlichen Öffentlichkeit präsentiert, für die letztere mit der ganzen Hypothek einer in ihrer Genese verhängnisvoll undurchschauten Fremdbürtigkeit belastet und mit allen Schikanen einer in ihrer Dynamik niederschmetternd unkontrollierbaren Eigenmächtigkeit ausgestattet. Und noch immer also – und mit deutlich zunehmender Penetranz – gilt sämtlichen, das Spektrum der bundesrepublikanischen bürgerlichen Öffentlichkeit bildenden politischen Gruppierungen der Staat selbst unterschiedslos als jener fremdkörperhafte Pfahl im Fleisch des corpus civile, jener ebenso ungeheure wie exzentrische status praeternaturalis der gesellschaftlichen Totalität, jener unwiderstehliche Popanz und Leviathan aus den entfremdet eigenen Stücken der bürgerlichen Gesellschaft, der hinter den wechselnden Masken sei's einer faszinierend institutionalisierten Herrschaftsregie, sei's einer schreckenerregend organisierten Gewaltmaschinerie, sei's eines demoralisierend objektivierten Machtapparats allemal sich verbirgt und dessen stereotypem Charakter und eigentümlicher Wirkung die sämtlichen Gruppierungen gemeinsame Rede vom Verwaltungsstaat und die in dieser Rede enthaltene These vom Triumph des subordinat Etatistischen über das maßgebend Konstitutionelle oder der statistisch-bürokratischen Zuständigkeit über die statutarisch-politische Kompetenz ebensosehr einen Namen zu geben wie Rechnung zu tragen bemüht ist.
In der Tat kommen, wie in der generellen Tendenz, den Staat als einen kolossalen und besorgniserregenden Fremdkörper in der Gesellschaft wahrzunehmen, so auch in der speziellen Bereitschaft, diese fremdkörperhafte Existenz des Staatswesens aufs engste mit dem Überhandnehmen einer nicht mehr der politischen Gesetzgebung und Kontrolle unterliegenden Verordnungs- und Verwaltungspraxis zu assoziieren, nachgerade eigentlich alle im Rahmen der bürgerlichen Öffentlichkeit sich haltenden politischen Gruppierungen von der äußersten, sei's abend-, sei's vaterländisch reaktionär gesonnenen Rechten bis zur äußersten, sei's menschen-, sei's umweltfreundlich alternativ gestimmten Linken überein. Kein frondierender Kreuzritter, kein aufrechter Liberaler, kein renitenter Bürgerrechtler, der nicht in dieser höchst konformen Weise und mit dieser immer gleichen Tendenz gegen das staatliche Unwesen zu Felde und vom Leder zöge. Und zwar unabhängig davon und ebenso ungeachtet wie unbeschadet dessen, daß in einer Vielzahl von Fällen die gleiche Person, die so an der düpierenden Fremdbürtigkeit und einschüchternden Eigenmächtigkeit des kolossalen Staatskörpers Anstoß nimmt, bei anderer Gelegenheit und an anderer Stelle voll und ganz an den beunruhigenden Machenschaften dieses corpus alienum und monströsen Wechselbalgs beteiligt ist und an seinen öffentlichkeitsfeindlichen Zielsetzungen und antidemokratischen Ordnungsvorstellungen ebenso enragiert Anteil nimmt, wie deren Durchsetzung und Verwirklichung sich aktivistisch angelegen sein läßt.
Mag solche Mitwirkung am Staatsbetrieb noch so eindeutig affirmativ und noch so rückhaltlos einvernehmlich ausfallen; – in dem Augenblick, in dem der sei's berufene und beamtenrechtlich besoldete, sei's gewählte und spesenförmig dotierte Würdenträger und Offizial seine professionelle Beschäftigung mit den Staatsgeschäften – aus welchen Gründen auch immer – aufgibt bzw. seine habituelle Beteiligung am staatlichen Hochamt – wie auch immer motiviert – einstellt, um in die Reihen jener bürgerlichen Öffentlichkeit zurückzutreten, in der das freiheitlich-demokratische Staatswesen gleichermaßen seine sachliche Basis und seinen personalen Fundus hat, – in exakt diesem Augenblick des Ausscheidens aus dem Staatsdienst geht stereotyp und zwanghaft mit dem statthabenden praktischen Funktionsverlust eine an Schizophrenie gemahnende theoretische Konversion des ganzen Bewußtseins einher. Eine Bewußtseinskonversion, unter deren Einfluß das, was eben noch verpflichtendes corpus und zum Wohle der Gesellschaft regulatorisch maßgebendes Organ war, plötzlich die Züge eines abstoßenden Fremdkörpers und eines auf Kosten der Gesellschaft hypertrophisch raumgreifenden Karzinoms hervorkehrt und aus deren Perspektive also die bis dahin selbstredend aus politischer Einsicht erwachsene – konkrete Institution des gemeinen Wesens sich unvermittelt zu dem – nunmehr fraglos bürokratischer Willkür entsprungenen – partikularen Unwesen einer abstrakten Institution verflüchtigt zeigt. Demnach eine Bewußtseinskonversion, in deren Konsequenz beim Konvertiten jenes Fremdheits- und Ohnmachtsgefühl gegenüber dem Staat sich einstellt, das als zentrales Charakteristikum und als hinter aller diversifizierten Phänomenologie unbeirrt perennierendes Strukturmerkmal des modernen bürgerlichen Staatsverhältnisses überhaupt erscheint und das deshalb mit symptomatologischer Unfehlbarkeit dies jedenfalls anzeigt, daß der von ihm Befallene den Status einer zivilen Privatperson wiedergewonnen hat und in den Schoß jener unbestimmten Menge ziviler Privatpersonen zurückgekehrt ist, die sich zum spezifischen Maß einer bürgerlichen Öffentlichkeit zu summieren beansprucht.
Daß dieses – mit den demokratiespezifischen politischen Funktionen kritischen Protests und demonstrativen Dissenses ganz und gar unverwechselbare – unendliche Fremdheits- und abgründige Ohnmachtsgefühl, das angesichts des modernen Staatswesens egal ob nationalsozialistischer Prägung oder freiheitlich-demokratischer Ordnung die bürgerliche Öffentlichkeit ebenso reflexhaft stereotyp wie strukturell gleichartig ergreift, für die letztere nicht bloß subjektiv die Bedeutung einer existentiellen politischen Bedrohung gewinnen, sondern vor allem auch objektiv den Charakter eines veritablen logischen Skandals annehmen muß, liegt auf der Hand. Schließlich ist es ja eben jener – ihr sich plötzlich entfremdende und ihrem Einfluß sich unversehens entziehende – Staat, den unter dem fast schon synonym gemeinten Eponym eines bürgerlichen die bürgerliche Öffentlichkeit mit dem Fug und Recht der habituellen Machtverhältnisse und traditionellen Kompetenzverteilung gewohnt ist, nicht bloß als ihren persönlichen Funktionär, d. h. als vornehmlichen Repräsentanten ihrer besonderen Interessen und Intentionen mit Beschlag zu belegen, sondern darüber hinaus auch als ihre eigene Kreatur, d. h. als in der Hauptsache das Ergebnis ihrer spezifischen Willensbildung in Anspruch zu nehmen. Sie, die bürgerliche Öffentlichkeit, ist es ja, aus deren Reihen die das personale Korps des Staatswesens bildenden amtlichen Bediensteten und politischen Bevollmächtigten sich fast ausschließlich rekrutieren. Und sie, die bürgerliche Öffentlichkeit, scheint es ja auch, die den institutionellen Charakter und die politischen Ziele des Staates nach Maßgabe der durch sie vertretenen Interessen und von ihr verfolgten Intentionen fast exklusiv bestimmt und vor deren kritischem Tribunal der letztere sich stets noch zu legitimieren bzw. deren kriterieller Kontrolle er sich allemal zu unterwerfen hat. Dies in Rechnung gestellt, kann jene von Staats wegen der bürgerlichen Öffentlichkeit widerfahrende Entfremdung und Entmächtigung eigentlich gar nicht verfehlen, auf die letztere, wenn nicht überhaupt die Suggestion eines veritablen Selbstverlusts auszuüben, so jedenfalls doch den Eindruck eines kapitalen Selbstwiderspruchs zu machen. So gewiß bürgerliche Öffentlichkeit und bürgerlicher Staat traditionellerweise nach dem Modell des komplementären Verhältnisses von Organ und Funktion bzw. von bestimmender Konstitution und ausführender Institution einander zugeordnet scheinen, so gewiß muß die fundamentale Verfremdung und radikale Verselbständigung, in der dieser sich jener vielmehr präsentiert, bei letzterer eben den – wie auch immer durch ekstatische Identifikation oder zynische Indifferenz phänomenologisch verschleierten – Schock hervorrufen, mit dem ein Organ auf den Verlust der Kontrolle über seine Funktion reagiert bzw. dem ein autokratischer Institutionalismus jede Konstitution unvermeidlich aussetzt.
Das aber ist nun in der Tat ein Schock, dem im Interesse gleichermaßen ihrer historischen Kontinuität und ihrer faktischen Identität die Betroffenen geradezu gezwungen sind auszuweichen. Eher als jenem factum brutum der allem Anschein nach aus eigener Kraft seiner bürgerlichen Konstitution sich entfremdenden und gewissermaßen aus eigenem Ermessen gegen sein bürgerliches Organ sich verwahrenden staatlichen Institution und Zentralfunktion sich zu stellen, nehmen sie, die Angehörigen der bürgerlichen Öffentlichkeit, zu den aberwitzigsten Verschwörungstheorien und den abenteuerlichsten gegenseitigen Verdächtigungen ihre Zuflucht. So kommt es zu dem einigermaßen komischen Schauspiel, daß im Bemühen um eine rationale Erklärung und vielmehr rationalisierende Reduktion des schockierenden Faktums die Repräsentanten der verschiedenen politischen Richtungen innerhalb der bürgerlichen Öffentlichkeit mit Fleiß und jener vollkommenen Übereinstimmung im Wettstreit, die discordia concors heißt, einander wechselseitig für die skandalöse Tatsache zur Rechenschaft ziehen und schließlich voll und ganz verantwortlich machen. Was die konservativen und ultramontanen Gruppen des Spektrums lauthals und umstandslos zur einfachen Konsequenz und direkten Wirkung der in die technokratische Unfreiheit einer dirigistischen Despotie führenden sozialistischen Experimente ihrer sozialliberalen politischen Gegner erklären, das legen umgekehrt und mit genau der gleichen Bündigkeit diese jenen als das vorhersehbare Ergebnis und stringente Resultat ihrer in die autokratische Unterdrückung einer falangistischen Diktatur führenden kapitalistischen Machenschaften zur Last. Und worin die an der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung durch Konservation des status quo interessierten vermögenden, etablierten Kreise der bürgerlichen Öffentlichkeit eine unmittelbare Antwort und unwillkürliche Reaktion des gemeinen Wesens auf den alles zerstörenden Anarchismus und die alles in Frage stellende Freiheitssucht ihrer in der eigenen, bürgerlichen Klasse sich umtreibenden politischen Widersacher, der vielwollend engagierten, linksliberal-außerparlamentarischen Bürgerrechtsopposition, erblicken, darin erkennt diese, auf die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung durch eine Revision statt dessen des status quo dringende klassenimmanente Opposition nicht minder deutlich und nicht weniger umstandslos die dem gemeinen Wesen aufgezwungene Dezision und aufgedrungene Willkür eben jener als die vermögenden etablierten und vom status quo profitierenden Kreise.
Mag bei solch wechselseitigen Anschuldigungen auch etliches à conto der Denunziation und einer wider besseres Wissen angestrebten Diskreditierung des politischen Gegenspielers gehen; – Grundlage und Bedingung der Möglichkeit auch und gerade dieser sekundären Funktionalisierung und taktischen Verwendung des Skandals bleibt jedenfalls das hier interessierende objektive Dilemma der bürgerlichen Öffentlichkeit, sich von seiten des gemeinen Wesens, will heißen: von Staats wegen, mit Tatsachen, Entwicklungen und Tendenzen konfrontiert zu finden, für die sie weder aus Gründen der existentiell-funktionalen Verselbständigung und Eigenmächtigkeit, in der ihr der Staat entgegentritt die Verantwortung im mindesten übernehmen, noch aber auch – auf Grund der materiell-realen Beziehungen und Kollaborationen, durch die er ihr dessenungeachtet verbunden bleibt – die Verantwortung überhaupt ablehnen kann. In der Tat ist genau dies das Dilemma, in das ihr in Entfremdung und Ohnmacht resultierendes gestörtes Verhältnis zum Staat die bürgerliche Öffentlichkeit stürzt: daß sich etwas objektiv-politisch ganz und gar ihrer Verantwortlichkeit entzieht, wofür sie doch aber subjektiv-praktisch nach wie vor verantwortlich bleibt. Und zwar verantwortlich nicht bloß deshalb bleibt, weil, wie gesagt, sie es ist, aus deren Reihen die verselbständigte Funktion und zur Eigenmacht losgelassene Institution des bürgerlichen Staats das corpus ihrer gewählten Chargen und beamteten Diener nach wie vor – und um den Preis notfalls einer förmlichen Bewußtseinsspaltung bei den Betroffenen – rekrutiert. Sondern verantwortlich auch vor allem deshalb bleibt, weil jene Verselbständigung der Staatsfunktion ja denkbar weit entfernt davon ist, einen der formalen Absage an die Richtlinienkompetenz und kriterielle Kontrolle der bürgerlichen Öffentlichkeit entsprechenden inhaltlichen Bruch mit den Grundorientierungen und substantiellen Interessen der durch die bürgerliche Öffentlichkeit repräsentierten Klasse darzustellen, und im genauen Gegenteil das zur Eigenmacht avancierte Staatswesen eine ebenso unheimliche wie bemerkenswerte Neigung an den Tag legt, der augenscheinlichen Geringschätzung und Mißachtung, die es den Interessenvertretern der bürgerlichen Klasse bezeigt, eine kaum weniger evidente Zuvorkommenheit und Eilfertigkeit bei der Wahrung der Interessen der bürgerlichen Klasse selbst korrespondieren zu lassen.
So auffällig ist diese kontradiktorische Tendenz des autokratisch entfesselten Staats, eben das Bürgertum, dessen Subjektcharakter er mit Füßen tritt und zugrunde richtet, zugleich in seinem substantiellen Bestand zu respektieren und nach Kräften sogar zu fördern, daß angesichts dessen in der Tat der von kommunistischer Seite oft geäußerte Verdacht sich aufdrängen muß, es handele sich bei jenem beispiellosen politischen Skandal, jener abgrundtiefen Funktions- und Vertrauenskrise zwischen bürgerlicher Öffentlichkeit und bürgerlichem Staat insgesamt nur um ein abgekartetes Spiel; – ein Täuschungsmanöver, provoziert durch die Kräfte, die an der als bürgerlicher Staat manifesten Usurpation und Privatisierung des gemeinen Wesens durch die herrschende Klasse Anstoß nehmen und solcher Usurpation durch die Strategie eines revolutionären Klassenkampfs Widerstand leisten, und darauf berechnet, durch das in und an aller Öffentlichkeit statuierte Exempel bzw. zelebrierte Idol eines in leviathanischer Eigenständigkeit etablierten Staats nicht bloß den Usurpationsversuch scheinbar zu entkräften und die de facto unveränderte Kollaboration des Staatswesens mit der bürgerlichen Klasse nach Möglichkeit zu verschleiern, sondern zugleich und vornehmlich auch eine durch ihre ideologische Camouflage ausgezeichnete strategische Ausgangsbasis für den gesammelten Einsatz der Staatsmacht gegen die an solch unverbrüchlicher Kollaboration Anstoß nehmenden feindlichen Kräfte selber zu liefern. Mit dem Verdacht eines durch die bürgerliche Klasse höchstpersönlich inszenierten und auf die Sicherung ihrer politisch-ökonomischen Herrschaft abgestellten Schwindelunternehmens scheint sich nun allerdings ganz und gar nicht jenes an Stupefaktion und Traumatisierung grenzende Fremdheits- und Ohnmachtsgefühl zu vertragen, das als unmittelbare Reaktion auf das factum brutum des verselbständigten Staats die als personifizierte bürgerliche Klasse figurierende bürgerliche Öffentlichkeit befällt und durch sämtliche Schattierungen des sie bildenden Gruppenspektrums hindurch stereotyp beherrscht. Solange wir jenes Gefühl als ein maßgebendes Moment ernst nehmen und nicht Grund finden, sei's seine subjektive Ehrlichkeit, sei's seine exemplarische Verbindlichkeit anzuzweifeln, muß es uns in der Tat als gravierender Einwand gegen jede, auf der Behauptung einer unmittelbaren Interessengemeinschaft zwischen Klasse und Staat basierende Verschwörungstheorie gelten bzw. muß jeder Erklärungsversuch, der die durch es markierte dilemmatische Situation hinlänglich in Rechnung zu stellen versäumt, uns problematisch bleiben.
Der durch jenes Fremdheits- und Ohnmachtsgefühl angezeigte dilemmatische Zustand, in dem die die bürgerliche Klasse in persona erscheinen lassende bürgerliche Öffentlichkeit sich präsentiert, ist es also, was als ein vordringlich erklärungsbedürftiges Phänomen der auf die bündige Demaskierung eines konspirativen Verhältnisses gemünzten These von der in actu des autokratischen Staats verfolgten bürgerlichen Herrschaftssicherungsstrategie entgegensteht. Und er zugleich ist damit aber auch das, was umgekehrt für die Notwendigkeit einsteht, dem zu ihm Anlaß gebenden und ihm korrespondierenden spezifischen Staatsverhältnis jenen inhaltlich ebenso diskreten wie der Form nach abnormen Charakter zuzugestehen, auf den die Bezeichnung "Faschismus" gemünzt ist. Gäbe es das besagte Fremdheits- und Ohnmachtsgefühl der als bürgerliche Öffentlichkeit personifizierten Bourgeoisie gegenüber dem autokratischen Staat nicht und bliebe also der Verdacht eines unter der Tarnkappe und im Alibi des Staatsapparats zielstrebig geplanten und umstandslos durchgeführten, bourgeoisen Täuschungsmanövers unwidersprochen, es bestünde nicht der mindeste Anlaß zur Einführung dieses, einen qualitativen Sprung in der Klassifizierung oder Wechsel des politischen Paradigmas signalisierenden, neuen Prädikats "faschistisch". So gewiß Entwicklungen und Tendenzen des Staatswesens wie die im Blick auf die Bundesrepublik Deutschland eingangs erwähnten ohne weitere als kriminalistisch-entlarvungstechnische Umstände sich als durch die bürgerliche Klasse nach wie vor selbstherrlich inszenierte und eigenmächtig kontrollierte Veranstaltung durchschauen ließen, so gewiß bedürfte es zur Klassifizierung solcher Entwicklungen und Tendenzen keiner anderen als der ebenso gängigen wie wohldefinierten Kategorie "reaktionär", d. h. jenes terminus technicus, der solche Entwicklungen und Tendenzen in die nachgerade eindrucksvolle Tradition der von der bürgerlichen Klasse im Gegenzug gegen Gefährdungen ihrer politisch-ökonomischen Herrschaft verfolgten und eben deshalb generell als die Reaktion firmierenden diversen, direkten Abwehrstrategien einzuordnen diente. Und aber auch umgekehrt: Wäre besagtes Fremdheits- und Ohnmachtsgefühl wirklich und unzweideutig der Reflex der Erfahrung einer essentiell fremden und kompromißlos anderen Macht und würde es nicht vielmehr durch die das subjektive Zeugnis regelrecht Lügen strafende objektive Erfahrung einer mit Rücksicht auf die Interessen der bürgerlichen Klasse auch und gerade durch die fremde Macht praktizierten Meistbegünstigungsklausel allererst zu dem, als was es sich darstellt: zum dilemmatischen Gefühl einer wesentlich funktionalen Entfremdung und pointiert personalen Entmächtigung, es gäbe ohne Zweifel genauso wenig Grund, etwas so Ausgefallenes und Apartes wie den Begriff Faschismus zu bemühen. So gewiß eine solche Erfahrung essentieller Fremdheit und kompromißloser Andersartigkeit sich eigentlich nur im Zusammenhang mit einem sei's analytisch als Klassenkampf, sei's phänomenologisch als Bürgerkrieg bestimmbaren radikalen Angriff auf die bourgeoise Klassenherrschaft als solche und in ihrer politisch-ökonomischen Totalität erwarten ließe, so gewiß ließe nun auch von einem eben diese Erfahrung vermittelnden Staatswesen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sich annehmen, daß seine Aktivitäten, wie in den Zusammenhang grundlegender gesellschaftlicher Umwälzungen gestellt, so denn durch die für dergleichen Umwälzungen gebräuchliche Kategorie "revolutionär" höchst angemessen und zureichend charakterisiert wären.
Hier wie dort bestünde also ohne den eigentümlichen dilemmatischen Zustand, in den die zur autokratischen Verselbständigung und bürokratischen Eigenmächtigkeit tendierende Entwicklung des bürgerlichen Staats die bürgerliche Öffentlichkeit versetzt, nicht der mindeste Grund, bei der Kennzeichnung dieser Entwicklung und des in ihr begriffenen Staats auf die beiden bewährten alternativen Grundklassifikationen zugunsten einer dritten und als förmliches tertium non datur politologischer Begriffsbildung die bisherige klare Alternative höchstens und nur zu verunklaren kapazitierten neuen Bestimmung zu verzichten. Von Faschismus und faschistisch kann und darf demnach im Zusammenhang mit dem modernen autokratisch-bürokratischen Staat sei's totalitärer, sei's demokratischer Verfassung überhaupt nur deshalb die Rede sein, weil – das Verhältnis synthetisch-einräumend ausgedrückt! – bei aller Fremdartigkeit und Eigenmächtigkeit, in der dieser moderne Staat der bürgerlichen Öffentlichkeit sich in Bezug auf seine politischen Entwicklungen und Tendenzen bezeigt, er doch aber zugleich der bürgerlichen Klasse als solcher mit Rücksicht auf ihre ökonomischen Interessen und Intentionen ein unverkennbares Wohlwollen und Verständnis bewahrt; oder weil – die Sache umgekehrt analytisch-einschränkend formuliert! – bei aller Kontinuität und Ausdauer, die er bei der Vertretung der ökonomischen Interessen und Intentionen der bürgerlichen Klasse beweist, er doch aber zugleich keinen Anstand nimmt, mit ihm als bürgerlichem den Garaus machender Radikalität der Determiniertheit und Berechenbarkeit eines durch die bürgerliche Öffentlichkeit eingesetzten und kontrollierten Funktionärs sich zu entziehen; und weil also – das ganze noch einmal zusammengefaßt! – das politische Tun dieses modernen autokratisch-bürokratischen Staats weder einfach ein in geheimer Kollaboration mit der herrschenden Klasse durchgesetztes reaktionäres, noch etwa gar ein in offenem Konflikt mit der herrschenden Klasse praktiziertes revolutionäres ist, sondern vielmehr in amphibolischer Abgründigkeit sich der herrschenden Klasse als das im substantiell und kontinuierlich eigenen Interesse unverändert gelegene Tun eines zugleich funktionell und wesentlich anderen als des bürgerlichen Staats vorstellt.
Wir schlagen also vor, die Kategorie Faschismus erstens und im allgemeinen nur im Zusammenhang mit der Institution des Staats zu verwenden, sowie zweitens und im besonderen ausschließlich zur Kennzeichnung jener der Moderne geläufigen staatlichen Aktivitäten zu gebrauchen, die die das Staatswesen traditionellerweise tragende Klasse in das beschriebene und als fundamentale politische Krise charakterisierte Dilemma stürzen, weil sie mehr in pauschaler Unterbrechung als in spezifischer Abänderung der gewohnten funktionalen Identität des bürgerlichen Staats mit der bürgerlichen Klasse sich der letzteren als das im effektiv und kontinuierlich eigenen Interesse noch immer gelegene Tun eines doch aber mittlerweile qualitativ und wesentlich anderen präsentieren. Es läßt sich allerdings unschwer erkennen, daß ein so definiertes Verständnis von dem, was Faschismus sei, auf die Moderne stricto sensu, d.h. auf den äußerstenfalls ab Ende des 1. Weltkriegs zu datierenden Zeitraum einer integral zeitgenössischen Präsenz, schlechterdings nicht zu beschränken ist, weil es das Prädikat faschistisch mit historischen Sachverhalten in Zusammenhang zu bringen erlaubt, deren chronologischer Ort dieses vielmehr als eine für die gesamte Epoche hoch- und spätbürgerlicher Geschichte, mithin für den ganzen Zeitraum der letzten, gut hundertfünfzig Jahre einschlägige Bestimmung ausweist. Daß eine solche, als Konsequenz des vorgeschlagenen Faschismus-Verständnisses erscheinende haltlose historische Amplifikation für das letztere nicht gerade Reklame zu machen geeignet ist und daß sie vielmehr, wie einerseits als ein Indiz für das Unvermögen der jenem Verständnis entspringenden Kategorialität, des Faschismus als eines stricto sensu zeitgenössischen Phänomens und Problems habhaft zu werden, so andererseits auch als ein Symptom für die zwischen Fundamentalismus und Oberflächlichkeit schwankende Pauschalität jenes Verständnisses selber sich aufdrängen muß, ist nicht zu bestreiten. Solange indes jenes Verständnis uns nicht unmittelbar und für sich genommen Anlaß bietet, an seinem Verstand als an der spezifischen Urteilskraft der aus ihm resultierenden Begriffsbildung zu zweifeln, solange es selbst uns noch irgend den Eindruck einer unter Beweis gestellten Spezifität und nachprüfenswerten Sachhaltigkeit macht, darf nichts und schon gar nicht eine so vage symptomatische Anzeige uns hindern, es in die Länge und Breite der von ihm eröffneten historischen Perspektive mit ihm zu versuchen. Statt diese zugegebenermaßen exorbitante historische Perspektive sogleich für prinzipiell unverträglich mit dem Interesse an einem der beispiellosen Modernität des Phänomens gerecht werdenden Faschismusbegriff zu erklären, müssen wir vielmehr die Geduld aufbringen, auf eine im Resultat des Durchgangs durch sie sich möglicherweise ergebende, spezifisch differente Modernisierung oder exemplarische Aktualisierung des Begriffs zu setzen.
Dabei wird nun allerdings die geforderte Geduld auf eine denkbar harte Probe gestellt! Nicht nämlich bloß, daß das vorgeschlagene Faschismus-Verständnis einen Begriff von der Sache liefert, der auch bereits auf Verhältnisse und Konstellationen zutrifft, die, fern jeder Modernität, noch entschieden solche des 19. Jahrhunderts sind und also noch ganz und gar der Epoche hochbürgerlicher Geschichte zugehören; mehr noch und vor allem scheint der Begriff, den es liefert, ausgerechnet auf jene besondere Konstellation gemünzt und d. h. zur Beschreibung ausgerechnet jener paradigmatischen Situation wie geschaffen, die den äußersten Anfang, sozusagen das transzendentale Nonplusultra der ganzen Epoche bildet und in der Tat für die letztere insgesamt so etwas darstellt wie die Stunde ihrer Geburt, ihren definitiven Konstitutionsakt. Wie eigens abgezielt auf die Charakterisierung des napoleonischen Staats und d. h. eben des Staatswesens, das die mit der französischen Revolution angestrebte politische Machtergreifung durch die Bourgeoisie endgültig besiegelt und ins Detail des Rechtssystems und der gesellschaftlichen Ordnung hinein Wirklichkeit werden läßt, scheint dies Verständnis vom Faschismus als dem im eigenen Interesse der bürgerlichen Klasse gelegenen Tun eines anderen als bürgerlichen Staats. Jener Staat, der das factum brutum der der bürgerlichen Klasse zugefallenen ökonomischen Machtausübung durch das fait accompli ihrer nun auch politischen Machtübernahme innen- wie außenpolitisch besiegelt, scheint von solchem Faschismus-Verständnis bis in den Kern seiner widersprüchlichen Konstruktion betroffen. Einer Konstruktion, deren als unheilbares Mißverhältnis zwischen zivilem Organ und politischer Funktion eklatanter Widerspruch nämlich eben darin besteht, daß sie zum Zweck der Herstellung einer nach allen Kriterien ökonomischer Liberalität und politischer Diskursivität bürgerlichen Gesellschaft auf ein staatliches Mittel rekurriert, das nach allen Regeln der ihm eigentümlichen militärischen Spontaneität und bürokratischen Totalität dem erklärten Zweck, dem es dient, Hohn spricht. Denn so sehr der in der Figur des cäsaristischen Nationalhelden oder imperialen Volkstribuns verkörperte napoleonische Staat pro forma die Bestimmung hat, den Interessen und Intentionen der Bourgeoisie Vorschub zu leisten und zum politischen Durchbruch zu verhelfen, so sehr scheint er pro materia seiner aparten Gestalt und eigenmächtigen Konstitution diese formelle Zielsetzung Lügen zu strafen.
Nicht zwar von Anfang an, aber in wachsendem Maß kommt den politischen Theoretikern des 19. Jahrhunderts jene in statu nascendi einer in politischer ebenso wie in ökonomischer Hinsicht bürgerlichen Gesellschaft erstmals auftretende strukturelle Diskrepanz zwischen zivilem Organ und politischer Funktion oder zwischen bürgerlichem Zweck und staatlichem Mittel zu Bewußtsein. Was den unmittelbaren Zeitgenossen des ersten Napoleon noch durch die blendend faktischen ökonomischen und politischen Aussichten, die sein Staat der Bourgeoisie eröffnet, verdeckt bleibt, das wird in dem Maß, wie einerseits die eröffnete Perspektive zur offenen Routine wird und andererseits das napoleonische Syndrom sich im Verlauf des Jahrhunderts prononciert wiederholt, als ein die bürgerliche Gesellschaft als solche tangierender struktureller Widerspruch sichtbar. Dabei schwankt die theoretische Wahrnehmung dieses in actu der Staatsfunktion eklatanten Selbstwiderspruchs der bürgerlichen Gesellschaft zwischen den Extremen einerseits der Carlyleschen Lehre vom Auftritt des heroischen Staats und andererseits der Marxschen Kritik am Eintritt des brumairischen Satyrspiels.
Wie kein anderer ist Sören Kierkegaard sensibel für diesen, von ihrer Geburtsstunde her datierenden und in actu des Staatswesens immer erneut sich manifestierenden Selbstwiderspruch der bürgerlichen Gesellschaft gewesen. Unter seinen politisch theoretisierenden Zeitgenossen hat er, der politisch theologisierende Querulant, als einziger ein Gespür für das nicht bloß Eklatante und Spektakuläre, sondern vielmehr Skandalöse und geradezu Paradoxe dieses Selbstwiderspruchs bewiesen. D. h. er allein ist dessen inne geworden, daß es sich bei diesem in actu der Staatsfunktion wiederkehrenden Selbstwiderspruch, formell zumindest, nicht etwa bloß um eine symptomatische Inkonsequenz und kompromittierende Diskrepanz zwischen Sein und Sollen, sondern vielmehr um eine konstitutive Inkompatibilität und systematische Disjunktion zwischen Erscheinung und Wesen der bürgerlichen Gesellschaft, eben um das Paradox der letzteren, handelt. Es lohnt sich, Kierkegaards Ausführungen zum Paradox, die das organisierende Zentrum seiner unschwer als zeitgeschichtlicher Beitrag und aktuelle politische Theorie erkennbaren, gesamten christologischen Spekulation bilden, ein wenig genauer zu betrachten.1
Seinen Begriff von der Bourgeoisie im Normalzustand klassenspezifischer Identität entwickelt Kierkegaard in dem Bild, das er von Sokrates und dessen eigentümlicher Wahrheitsbeziehung entwirft. Wahrheit ist dem Bürger Sokrates ein unmittelbar persönlicher, unabdingbar privater Wert, Prinzip und Resultat eines ebenso kriteriell abstrakten wie wesentlich autonomen, bürgerlichen Selbstverhältnisses. Die äußere Realität, Außenwelt überhaupt, spielt im Prozeß sokratischer Wahrheitsfindung nur ex negativo eine Rolle, d. h. nur insoweit, als sie, kontingenter und gleichgültiger Ausgangspunkt für den Prozeß, in dessen Verlauf sich negieren, entmaterialisieren, abstrahieren, ins Gegenteil ihrer selbst, das scheinenthobene Wesen, konvertieren läßt. In der Tat ist es, Kierkegaard zufolge, die eigentümliche Ökonomie der sokratisch-bürgerlichen Wahrheit, daß sie in den äußeren Erscheinungen und außenweltlichen Verkörperungen überhaupt nur auftritt, um sich aus ihnen in sich selber wieder zurückzuziehen, und daß dieser ihr Regreß, wie einerseits ihr Erscheinen als bloße Entäußerung, als höchstens eine formelle Vermittlung, als bestenfalls auch schon den Anstoß zur Umkehr decouvriert, so andererseits sie selbst als den Inhalt eines anamnestischen Rekurses, d. h. als das in integrum seines wesentlichen Seins einfach nur restitutierte A und O des ganzen Prozesses deutlich werden läßt. Und in diese kriteriell ausschließende Selbstbeziehung der sokratischen Wahrheit, in diese wesentlich geschlossene Gesellschaft des seiner Wahrheit lebenden Sokrates, in der die Welt der äußeren Sinne nichts bedeutet, für die die Welt der Verkörperungen kaum zählt, vor der der Erscheinungswelt einzig und nur die Funktion bleibt, ihre eigene Bedeutungslosigkeit mit demonstrativer Gründlichkeit unter Beweis zu stellen und sich als vernachlässigenswertes Moment mit dialektischer Umständlichkeit zum Verschwinden zu bringen, – in diese selbstgenügsame Wahrheitssphäre sieht nun also Kierkegaard das Paradox einer im Gegenteil schlechterdings zählenden Erscheinung, das Paradox des vielmehr alles bedeutenden "Augenblicks" einbrechen. Das Paradox jenes Kairos, jenes äußerlich erscheinend heroischen, in der Zeit erscheinend historischen, napoleonischen Christus oder christologischen Napoleon, der für die sokratisch-bürgerliche Wahrheit deshalb "entscheidende Bedeutung" erlangt, weil er sich als ihre conditio sine qua non, ihre schlechthinnige "Bedingung" zu erkennen gibt.
Fürwahr paradox, daß der exoterisch eintretende historische "Augenblick" "Bedingung" der esoterisch vorausgesetzten ewigen Wahrheit soll sein können! Fürwahr paradox, daß eben die Erfahrungswelt, der in ihrer phänomenalen Unmittelbarkeit und Mannigfaltigkeit für die als kriterielle Selbstbeziehung bestimmte Ökonomie der sokratischen Wahrheit keine andere Bedeutung als die eines verschwindend unerheblichen Faktums, eines flüchtigen Durchgangsmoments zukommen soll, jetzt plötzlich in ihrer personalen Zuspitzung und Verdichtung zum "Augenblick" für die gleiche Ökonomie der Wahrheit die "entscheidende Bedeutung" eines unabdingbar grundlegenden Faktors, eines existentiellen Ausgangspunkts soll reklamieren können! Und fürwahr also paradox, daß das, was in der einen Gestalt nicht einmal die kooperative Rolle eines zum Etat der Wahrheit gehörenden, weil wesentlich beitragenden Ökonomikums spielen darf, jetzt plötzlich in seiner neuen Form die dominierende Funktion eines den Etat der Wahrheit bildenden, weil die Wahrheit absolut bedingenden Politikums soll ausüben können! So paradox fürwahr, daß die im gewohnten, essentiell autonomen und kriteriell exklusiven Wahrheitsverhältnis Befangenen in der Tat nun gar nicht umhin können, dies umwerfend neue Phänomen eines "Augenblicks der Wahrheit" so wahrzunehmen, wie Kierkegaard es beschreibt: als Anstoß erregendes Ereignis, als Inbegriff eines Skandals, als Ärgernis schlechthin. Und zwar muß für die Vertreter jener sokratischen Ökonomie der Wahrheit dieser empirische "Augenblick der Wahrheit" um so gewisser ein Ärgernis sein, als die hyperbolische Karriere, die die Erscheinungs- und äußere Erfahrungswelt im Parsprototo des "Augenblicks" offenbar gemacht hat und die sie aus einem nicht einmal als ökonomische Bedingung etwas bedeutenden formellen Umschlagspunkt der Wahrheit zu einem nunmehr als politische Bedingung alles entscheidenden existentiellen Ausgangspunkt der Wahrheit hat avancieren lassen, dem Karrieristen selbst, dem historisch-phänomenalen "Augenblick", beileibe nicht anzusehen ist. Nicht bloß, daß die augenblickshafte Erscheinung, deren kriteriell grundlegendem Urteil die sokratischen Bürger ihr Wesen, ihre Wahrheit unterwerfen sollen, bereits in genere ihres ontologischen Erscheinungscharakters eine absolute Inkompetenz für die ihr übertragene Funktion demonstriert, sie kehrt mehr noch in specie ihres empiriologischen Erscheinungsmodus eine vollständige Unfähigkeit hervor, diese ihre Inkompetenz wenigstens durch einen Anschein von Kompetenz zu kompensieren. Was da als der "Augenblick" erscheint, ist nicht allein bloße, mit dem Wesen auch nur zu konkurrieren, geschweige denn ins Gericht zu gehen, qua definitionem unfähige Erscheinung, sondern es ist mehr noch eine Erscheinung, die auch als solche zu wünschen übrig läßt, unauffällig alltägliche, feldgrau uniforme Erscheinung, Erscheinung von der unscheinbarsten Sorte, der traurigsten Gestalt, dem knechtischsten Ansehen.
So beredt und wortgewaltig Kierkegaard den Eintritt des – Ärgernis nicht bloß erregenden, sondern das schlechthinnige Ärgernis seienden – paradoxen "Augenblicks" in die Sphäre der selbstgenügsam ewigen Wahrheit zu schildern versteht, so wortkarg und verschwiegen bleibt er mit Rücksicht auf das naheliegende Problem des objektiven Grunds, der historischen Notwendigkeit dieses Eintritts. Umso mehr läßt ihn die Frage nach den theoretischen Konsequenzen und praktischen Resultaten dieses Eintritts seine Redseligkeit wiedergewinnen. Folgt man den Kierkegaardschen Ausführungen, so ist die theoretische Konsequenz des Eintritts des "Augenblicks" eine umwälzend epistemologische Revision der Wahrheit als sokratisch unmittelbar solcher, das praktische Resultat eine alles neu machend empiriologische Konversion der Wahrheit als durch den "Augenblick" nunmehr bedingter. So wie der "Augenblick" vor seiner Machtergreifung den Wahrheitsvertretern als angesichts ihrer eigenen Wahrheit unvertretbare Zumutung und unverständliches Ärgernis vorkommen muß, so muß demnach nach dieser Machtergreifung ihre eigene Wahrheit ihnen selbst als ein unhaltbarer Zustand und als die unverzeihlichste Sünde erscheinen. Was ante portas des drohenden "Augenblicks" noch als die gediegene Selbstgenügsamkeit, der ewig innere Wert, die durchsichtige Kontinuität der sich zu sich verhaltenden Wahrheit passieren kann, das muß intra muros des herrschenden "Augenblicks" als im genauen Gegenteil die eitle Selbstzufriedenheit, die unendlich hohle Nichtigkeit, das verblendete Kontinuum einer sich in sich verzehrenden Unwahrheit deutlich werden. Und wie denn der "Augenblick" die Wahrheit theoretisch in den gründlichen Konkurs der Verdammnis und der Sünde treibt, so soll er ihr zugleich praktisch die Bedingung für eine nicht minder gründliche Wiederauferstehung und Erneuerung darbieten. Durch die einfache Dazwischenkunft des "Augenblicks" ist, wie Kierkegaard emphatisch konstatiert, alles an der Wahrheit verändert, sie selber mitsamt der durch sie bestimmten Sphäre in toto und mit konversionshafter Rückhaltlosigkeit neu geworden. Dabei tut, daß dies total Neue an der Wahrheit aller Qualifikation entbehrt und sich – in der Kierkegaardschen Darstellung jedenfalls – allemal auf das schiere Existential des intervenierenden "Augenblicks" in abstracto, der zur Wahrheit hinzugetretenen "Bedingung" als solcher reduziert, der Emphase durchaus keinen Abbruch. Unbeirrt hält Kierkegaard daran fest, daß es der die Erscheinungssphäre zur paradoxen "Bedingung der Wahrheit" konzentrierende "Augenblick" sei, der der zu und in ihm konvertierenden Wahrheit uno actu seiner selbst die Augen über ihre – ihr zur Verdammnis gereichende – sündhafte Passivität und verblendete Indifferenz öffne und die Erfahrung einer – sie dennoch zu rechtfertigen geeigneten – gnadenreichen Aktivierung und offenbaren Erfüllung erschließe.
Spätestens an diesem Punkt aber muß nun der längst fällige Widerspruch gegen diese Kierkegaardsche Version der Wahrheit laut werden, – eine Version, die unter dem Wahrheitsbegriff und der durch ihn repräsentierten gesellschaftlichen Realität sich augenscheinlich nichts anderes vorzustellen vermag als entweder ein in der Apathie absoluter Gleichgültigkeit gegen den Augenblick der Erscheinung verhaltenes autistisches Subjekt oder – im konversionshaft schroffen Gegenteil ein zur Pathologie totaler Selbstpreisgabe vor der Erscheinung des "Augenblicks" fortgerissenes willenloses Objekt. Spätestens hier muß der schroffe Gegensatz bemerklich werden, in den mit dieser seiner Wahrheitsthese Kierkegaard zu den autorisierten Wahrheitstheoretikern seiner Zeit und den hinter ihnen stehenden Praktikern der Wahrheit, ihren ökonomischen Vertretern, tritt. Spätestens hier muß unübersehbar werden, daß mit seiner an den Anfang gestellten sokratischen Wahrheitsfigur Kierkegaard am Ende eine für die Wahrheit seiner Tage wenig einschlägige Darstellung gewählt hat. Und spätestens hier muß in der Tat der Verdacht sich aufdrängen, daß mit dieser seiner in archaisierender Konstruktion dem armen Sokrates untergeschobenen Wahrheitsversion Kierkegaard geradezu den Zweck verfolgt, Wahrheitstheorien, die, wie vornehmlich die Hegelsche, ihm einen zeitgemäßeren und realistischeren Wahrheitsbegriff hätten liefern können, von vorneherein auszuschließen bzw. zu unterlaufen. Daß, des Gegensatzes seiner Theorie zur herrschenden Theorie seiner Zeit sich bewußt und aus der theoretischen Not eine Tugend machend, Kierkegaard immer wieder ebenso abstrakt wie lauthals beteuert, jener vermeintliche Gegensatz sei eitel Schein, das Ergebnis trügerischer Prätentionen, und der herrschende Hegel bei näherem Hinsehen nichts weiter als eine kolorierte Ausgabe des Sokrates Kierkegaardscher Schwarzweißmalerei, reicht mitnichten aus, diesen Verdacht zu entkräften.
In der Tat ist der Wahrheitstheoretiker Hegel weit entfernt davon, Wahrheit als etwas zu begreifen, das in Ansehung der äußeren Welt und Erscheinungssphäre sich vor die kruzifikatorische Alternative gestellt sähe, entweder als das indifferente Subjekt einer exklusiven Selbstbefriedigung firmieren zu dürfen, oder aber als das widerstandslose Objekt einer aggressiven Manipulation figurieren zu müssen. Anders als für den Kierkegaardschen Sokrates ist Wahrheit für Hegel kein vor und jenseits aller Erscheinung fix und fertig subsistierender Sachverhalt, sondern ein mit und in der Erscheinung unablässig prozessierendes Verhältnis der letzteren selbst. So gewiß das ökonomische Grundprinzip der Gesellschaft, an der als an der seinen Hegel sich abarbeitet, nicht das der – Erscheinungen negierenden – Schatzbildung, sondern das der – Erscheinungen ausbeutenden – Kapitalisierung ist, so gewiß ist die Ökonomie des Hegelschen Wahrheitsbegriffs, der eben jenes Grundprinzip theoretisiert, keine des sokratisch in sich bleibenden, sondern eine des sich verwertenden Werts. Und so gewiß die Wahrheit Hegels als mittels und kraft der Erscheinungen sich verwertender Wert konzipiert ist, so gewiß ist die Methode der Wahrheitsfindung nicht Erinnerung, die meditativ abstrahierende Anamnesis, sondern Erfahrung, die integrativ vermittelnde Synthesis. Wie einerseits als die formelle Voraussetzung und das Investitionsprinzip des Durchgangs durch die Erscheinungssphäre, so stellt sich Wahrheit andererseits als das materiale Resultat und Aufhebungsprodukt eben dieses Durchgangs dar. Und weit entfernt davon, ein sokratisch bloßer, verschwindend unerheblicher Durchgangspunkt für die Wahrheit zu bleiben, erweist sich demnach die Erscheinung selbst als eine Vermittlungsinstanz, die für die Wahrheit eine ebenso dauerhafte wie grundlegende Bedeutung erlangt, ist die Erscheinungssphäre in der Gesamtheit ihrer in Absicht der Wahrheit produktiven Momente Grund des Reichtums an Wahrheit und Quelle ihrer Vermehrung. Wie aber zum einen die von der Wahrheit als Vermittlungsinstanz reklamierte Erscheinungssphäre im Prozeß der Wahrheit den ebenso affirmativen wie tragenden Part eines schöpferischen Grunds und materialen Produzenten der letzteren übernimmt, so gewinnt nun zum anderen die auf diesem Wege realisierte und als das Wesen reaffirmierte Wahrheit für die Erscheinungssphäre selbst die ebenso zentrale wie kriterielle Funktion eines transzendentalen Konstitutivs und demiurgischen Intendanten. Jenen Mehrwert an Wahrheit, den im Zuge der Erfahrungsarbeit Hegel die Erscheinung quasi selbsttätig hervorbringen sieht, sieht er zugleich im Moment der gemachten Erfahrung auf die Erscheinung mit der Konsequenz einer permanenten Revision und Neubewertung der letzteren quasi selbstmächtig zurückschlagen. Eben den quantitativ unendlichen Fortschritt, in dessen Dienst die Erscheinung in den produktiven Grund der als ihr mehrwertiges Wesen sich realisierenden Wahrheit umfunktioniert wird, sieht Hegel immer erneut in einen endlich qualitativen Sprung umschlagen, kraft dessen die Erscheinung selber eine dem jeweils letzten Stand beim Fortschritt der Wahrheit angemessene, total veränderte Gestalt annimmt und vollkommen neue Fasson gewinnt.
Schwerlich läßt sich demnach der im Hegelschen Erfahrungsbegriff kulminierenden, herrschenden Wahrheitstheorie der ersten Jahrzehnte des I9. Jahrhunderts der Vorwurf machen, sie tendiere dazu, Wahrheit in dem von Kierkegaard verfügten Sinn sokratisch zu verstehen und d. h., teils im allgemeinen das ebenso aktive wie konkrete Austauschverhältnis, in dem die Wahrheit nachgerade mit der Erscheinungssphäre begriffen ist, zu übersehen, teils im besonderen den für die Wahrheit selber ebenso grundlegenden wie für die Erscheinung konstitutiven Prozeßcharakter dieses ihres Verhältnisses zur Erscheinungssphäre zu ignorieren. Ganz entsprechend dem im gesamtgesellschaftlichen Maßstab sich durchsetzenden, neuen ökonomischen Prinzip, das der Wahrheitsbegriff zu reflektieren dient, wird Wahrheit vom Hegelschen Erfahrungsbegriff als jene kapitale Instanz realisiert, die mit der Konsequenz eines quasi selbstregulierenden Systems nicht bloß die Erscheinungssphäre in ein beständiges Wertschöpfungsinstrument, in das Produktionsorgan eines kontinuierlichen Mehr an Wahrheit, umzufunktionieren versteht, sondern die nun auch mehr noch kraft dieses, der Erscheinung entspringenden Mehrwerts an Wahrheit die Erscheinungssphäre selbst permanent zu revolutionieren und modo discreto nämlich eines im Akt des Erscheinens qualitativen Sprungs immer erneut im Blick auf die durch sie veränderte Wahrheit zu verändern und umzuwälzen vermag.
Und aus diesem, vom zeitgenössischen Erfahrungsbegriff triumphierend konstatierten, aktiven Umgang und konkreten Austausch mit der Erscheinungssphäre will nun also Kierkegaard das Wahrheitswesen unvermittelt herausgerissen und restlos ausgeschlossen sehen. Aus diesem mit der Erscheinung gepflogenen Intimverkehr will Kierkegaard plötzlich die Wahrheit gleichwie aus einem phantasmagorischen Traum erwacht und – mit der Perspektive höchstens noch einer ihr durch die toto coelo fremde Erscheinung drohenden gewalttätigen Heimsuchung und paradoxen Konversion – auf sich selbst als auf die unveräußerlich ewige Grundposition sokratisch rudimentärster Selbstbescheidung zurückgeworfen wissen. Wie kommt Kierkegaard zu dieser ebenso radikalen wie jähen Neueinschätzung des Wahrheitsbegriffs im besonderen und der Erfahrungssituation im allgemeinen? Wie anders als durch Erfahrung! Durch jene gesamtgesellschaftlich einschneidende Erfahrung nämlich, die um die Mitte des Jahrhunderts mit wachsender Penetranz sich aufdrängt und die in dem Maß, wie sie auf nichts geringeres als auf eine bevorstehende Veränderung des politisch-ökonomischen Grundprinzips der Gesellschaft, ihres kapitalen Wesens, hindeutet, natürlich auch und ebensosehr eine Revision des dies kapitale Wesen und seine Wirksamkeit reflektierenden Wahrheits- und Erfahrungsbegriffs signalisieren muß: die Erfahrung, daß – um in den bisherigen theoretischen Figuren und Reflexionstermini weiterzureden! – der zuvor skizzierte Prozeß einer in und mit der Erscheinungssphäre tatkräftig praktizierten und systematisch organisierten Wahrheitsfindung im Begriff steht, sich von seinem eigenen Urheber, Betreiber und Nutznießer, eben der immer erneut und stets erweitert aus ihm sich reproduzierenden Wahrheit, zu emanzipieren und in das gelöste Verhältnis einer aller weiteren Rücksicht ledigen Selbstfindungsaktion nur und ausschließlich der Erscheinung als solcher aufzuheben.
Offenbar in der Konsequenz des mit kategorialer Sprunghaftigkeit beständigen Umwälzungs- und Umgestaltungsprozesses, den sie zum Zweck ihrer ununterbrochenen Wiederanpassung an den jeweils neuesten Stand einer durch sie vermittelten Wahrheitsfindung durchläuft, steht plötzlich die Erscheinungssphäre im Begriff eines Sprungs, der als ein im strengen Sinn qualitativer deshalb sich suggeriert, weil mit ihm die Erscheinung ausgerechnet nun jenem Prinzip zu entspringen und jenes Kriterium außer Kraft zu setzen verspricht, das ihr bis dahin als das Prinzip und Kriterium auch und gerade dieser ihrer Sprungkraft galt. Jenes Prinzip zu durchbrechen, geschweige denn zu überwinden, konnte die Erscheinung so lange weder hoffen, noch überhaupt bestrebt sein, wie es ihr als das aus all ihrem Erscheinen unverbrüchlich resultierende Grundverhältnis, der ihre sämtlichen Sprünge in Progression als eine unwillkürliche Reflexionsbewegung identifizierende Ur-Sprung, der wesenhaft bezweckte Verstand ihres wesentlich vermittelnden Daseins, kurz, als die verhältnismäßig einfache Wahrheit ihrer unverhältnismäßig mannigfaltigen Wirklichkeit sich zu supponieren und einzuprägen imstande war. Inzwischen hat aber diese progressive Sprunghaftigkeit, in die sich die Erscheinung zu dem offiziell einzigen Zweck, dem jeweils letzten Entwicklungsstand und den jeweils neuesten Erfordernissen jenes aus ihr resultierenden Ursprungs Rechnung zu tragen, hineingetrieben findet, sie insgeheim in einen Zustand versetzt, der die bisherige Zweck-Mittel-Relation sei's umzukehren, sei's überhaupt aufzulösen geeignet ist. Als im Prozeß jener Wahrheitsfindung in heimlicher Reflexion-in-sich an ihr selber verwesentlichte und sich bewahrheitende gewinnt die Erscheinungssphäre eine Fasson, die sie aus dem permanent-systematischen Mittel eines differenten Zwecks in einen Selbstzweck verwandelt zeigt, dem der bisherige Zweck höchstens und nur noch als ein kursorisch-historisches Mittel dieser seiner Entwicklung zum Selbstzweck zu gelten vermag, – eine Fasson, von der her gesehen die ebenso zwangsläufige wie unwillkürliche Reflexionsbewegung, die den Fortschritt der Erscheinung als im Ursprung und Grundverhältnis der Wahrheit verhaltenen definiert, sich nunmehr als ein ebenso überflüssiger wie hinderlicher Reflex, ein durch die Wirklichkeit der Erscheinung gänzlich überholter Zwangsmechanismus herausstellt. Und also kehrt sich eben der Erfahrungsprozeß, den die Wahrheit in der Erscheinung anstrengt und kraft der Erscheinung führt, am Ende gegen seinen Initiator und Nutznießer selbst und schickt sich auf der Grundlage der im Dienste der Wahrheit klug gewordenen und in ihrer eigenen Wirklichkeit entfalteten Erscheinung an, in einen sei's negativ der Wahrheit selber gemachten, sei's disjunktiv frei von der Wahrheit als solcher kontinuierten Erfahrungsprozeß sui generis umzuschlagen.
Es ist dieser allem Anschein nach bevorstehende Umschlag des Prozesses der erscheinenden Wahrheit in den der Wahrheit gemachten Prozeß der wirklichen Erscheinung, diese allem Anschein nach drohende Außerkraftsetzung und Auflösung der kapitalen Wahrheit durch die produktive Erscheinung, was der Kierkegaardsche "Augenblick" antizipiert. Als Konzentrat und Parsprototo der Erscheinungssphäre nimmt der "Augenblick" das vorweg, was die Erscheinung im ganzen und anundfürsich zu tun sich anschickt. Allerdings ist diese Antizipation mit Rücksicht auf das Ereignis, das sie vorwegnimmt, alles andere als originalgetreu, alles andere als eine quasi vorgezogene Reproduktion. Gleichermaßen in topischer, dynamischer und systematischer Hinsicht ist bei näherem Zusehen das, was der "Augenblick" tut, ebensosehr Revision wie Vorwegnahme dessen, was die Erscheinung in toto zu tun im Begriff scheint.
Topisch verwandelt der "Augenblick" die Außerkraftsetzung der kapitalen Wahrheit durch die revolutionäre Erscheinung aus einem prozeßimmanenten Resultat in einen prozeßtranszendenten Eingriff. Eben die revolutionäre Auflösung, die dem System der Wahrheit in stricto sensu innerer Konsequenz, aus seiner eigenen Logik und Ökonomie heraus, bevorsteht, läßt demgegenüber der "Augenblick" aus uneinholbar äußerer Kontingenz, aus einer toto coelo fremden Willkür und Politik sich ereignen. Unmittelbares Ergebnis ebensosehr wie unentbehrliche Voraussetzung dieser qua "Augenblick" vollzogenen Evakuierung der revolutionären Erscheinung aus ihrer sprengkräftig geschichtlichen Immanenz in eine heilsgeschichtlich apokalyptische Transzendenz ist eine theoretische Leugnung oder vielmehr amnestische Liquidation jenes in und mit der Erscheinung geführten historischen Erfahrungsprozesses überhaupt und entfalteten empirischen Wahrheitssystems als solchen und also eben die bei Kierkegaard auffällige, symptomatisch radikale Entmischung des ganzen Verhältnisses, die, wie sie einerseits die Erscheinung als wesentliche Bedingung im System der Wahrheit – wider alle zeitgenössische Vernunft – dogmatisch ausschließt, so andererseits die Wahrheit selbst als das unbedingte Wesen eines ausschließlichen Selbsterfahrungsprozesses – wider allen zeitgeschichtlichen Augenschein – "sokratisch" behauptet.
Dynamisch wirkt sich die Konzentration und Verdichtung der Erscheinungssphäre zum "Augenblick" im Sinne einer Heroisierung und Irrationalisierung der der Erscheinung als revolutionäre Kraft eigentümlichen qualitativen Sprunghaftigkeit aus. An die Stelle der solidarischen Welt der sich von der Wahrheit emanzipierenden produktiven Körper tritt der singularische Kosmos eines sich gegen die Wahrheit inthronisierenden schöpferischen corpus mysticum. Was unmittelbar die Bedeutung einer als bewußter politischer Akt durchgesetzten Selbstorganisation und Selbstbestimmung der vom vorgeblichen Verstand ihres Daseins sich befreienden und der Realität ihrer phänomenalen Mannigfaltigkeit lebenden, erscheinenden Vielen hat, gewinnt im "Augenblick" den unergründlich "tieferen" Sinn einer als gemeinschaftliche Instinkthandlung zelebrierten Identifikation und Vereinigung eben dieser erscheinenden Vielen mit einem als die intuitive Einheit ihrer Mannigfaltigkeit und als ihr wahres Selbst sich offenbarenden Einzelnen. Indem stellvertretend für die Erscheinung in ihrer Gesamtheit der "Augenblick" das revolutionäre Ereignis exekutiert, erhält dies Ereignis zugleich mit der exoterischen Bedeutung einer Emanzipation der Erscheinung von der als obsoleter Demiurg und idolatrisches Wesen durch sie entlarvten Wahrheit den esoterischen Sinn einer Konversion der Erscheinung in dem als Fülle der Zeit und absolutes Maß ihr erscheinenden "Augenblick" selbst.
Systematisch schließlich resultiert die Substitution der revolutionär ausbrechenden Erscheinung durch den apokalyptisch hereinbrechenden "Augenblick" in einer völligen Neubestimmung und förmlichen Umkehrung der revolutionären Funktion als solcher. Zwar ist es noch immer und formell unverändert ihre Außerkraftsetzung, was der kapitalen Wahrheit im erscheinenden "Augenblick" blüht, – aber Außerkraftsetzung nun nicht etwa mehr um ihrer im Angesicht der neuen Erscheinung überfälligen endgültigen Auflösung, sondern, ganz im Gegenteil, um einer sub specie des "Augenblicks" selbst ihr ohne alle Ironie blühenden entschiedenen Neubegründung willen. Was in genere der revolutionären Erscheinung noch resultative Überwindung der Wahrheit und vernichtendes Urteil über sie scheint, verwandelt sich in specie des apokalyptischen "Augenblicks" in eine absolute "Bedingung" der Wahrheit und erhält die "entscheidende Bedeutung" eines als neuer Anfang grundlegenden Plädoyers für sie. Aus jener im ganzen Erscheinungsumfang solidarischen Reflexion-in-sich, die der Wahrheit als ein Abgrund sich präsentiert, der sie omni modo zu verschlingen droht, wird im "Augenblick" ein wider die Wahrheit gereckter Speer, der die Wunde, die er ihr schlägt, gleich auch auf seine Weise wieder zu heilen verspricht. Und aus jenem völligen Konkurs, der die kapitale Wahrheit als eine durch ihren eigenen Produktionsprozeß zugrunde gerichtete in aller Öffentlichkeit zu liquidieren sich anschickt, wird so die totale Konversion, die ihr als einer im Augenblick ihres Zugrundegehens ebensowohl von Grund auf erneuerten in aller Offizialität wiederaufzuerstehen erlaubt.
Dieser in systematischer Hinsicht durchschlagende Funktionswechsel läßt nun aber vollends zur Gewißheit werden, was bereits unter topischen und dynamischen Gesichtspunkten als Verdacht sich aufdrängen muß: daß es sich nämlich bei der Kierkegaardschen Figur des "Augenblicks" um eine theoretische Verarbeitung dessen handelt, was just zu jener Zeit in der gesellschaftlichen Praxis und politischen Technik als das Phänomen der Konterrevolution Schule ebensosehr wie Furore zu machen beginnt. Gesellschaftspolitisch beim Wort genommen, reflektiert der Kierkegaardsche "Augenblick der Wahrheit" die Stunde des wider die akute Gefahr eines immanenten Umsturzes der bürgerlichen Gesellschaft quasi von außen und aus allem Anschein nach eigener Machtvollkommenheit initiativ werdenden Staats, den eine mögliche proletarische Revolution ebensosehr durchkreuzenden wie antizipierenden, konterrevolutionären coup d'etat. D. h. Kierkegaards Kairos steht für jenen, in der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaften des I9. und 20. Jahrhunderts permanent drohenden und stereotyp wiederkehrenden politischen Ausnahme- und Belagerungszustand, der immer dann eintritt, wenn den Vertretern der Kierkegaardschen Wahrheit, der herrschenden bürgerlichen Klasse, eine als proletarischer Klassenkampf im entferntesten identifizierbare allgemeine Erhebung ins Haus steht, und der immer darauf hinausläuft, daß an die Stelle der politisch-ökonomisch umfassenden Aktivitäten einer revolutionären Levée en masse die nicht minder revolutionär sich gerierenden, politisch-militärisch zugespitzten Operationen eines Staats in persona treten. Diese im Handstreich, der der Staatsstreich ist, effektuierte Stellvertretung der in genere revolutionären Massen durch den in specie quasi-revolutionären Staat ist in der Tat ein Akt nicht weniger der Substitution als der Antizipation und nicht weniger der Umfunktionierung als der Ersetzung. Substituiert wird der proletarische "qualitative Sprung" und sozialistische Vormarsch durch einen militärischen Aufmarsch und imperialistischen "Panthersprung". Und umfunktioniert wird die revolutionäre Entscheidung gegen die bürgerliche Gesellschaft in eben die totalitäre Dezision, die sich im Namen einer alle bürgerliche Gesellschaft übergreifenden völkischen Gemeinschaft auch und gerade wider jene revolutionäre Entscheidung entscheidet.
Lehrt demnach ein Rekurs auf die Geschichte des 19. Jahrhunderts Kierkegaards "Augenblick" als konterrevolutionäre Figur ideologiekritisch recht verstehen, so kann allerdings auch umgekehrt eine genauere Betrachtung des Kierkegaardschen "Augenblicks" selbst helfen, die gesellschaftspolitischen Implikationen und Konsequenzen dieses als die Konterrevolution figurierenden historischen Phänomens geschichtsphilosophisch besser zu begreifen. Auch die Konterrevolution – dies vor allem läßt die Kierkegaardsche "Augenblicks"-Konstruktion deutlich werden – ist und bleibt eine Art Revolution, ist und bleibt ein dem, was sie antizipatorisch zu verhindern dient, wenn schon nicht realiter vergleichbares, so jedenfalls doch formaliter kongeniales Ereignis. Wenn zwar der konterrevolutionäre coup d'etat, als der der "Augenblick" sich unschwer geschichtlich entziffern läßt, die bürgerliche Wahrheit aus der höchsten revolutionären Not realiter errettet, so doch nur, wie Kierkegaard anhand der "Augenblicks"-Figur deutlich werden läßt – auf Kosten einer formaliter weitestgehenden, geradezu mimikryhaften Angleichung des staatlichen Nothelfers an den die Not bereitenden revolutionären Gegenspieler und also auch nur um den Preis eines Verhaltens, das die bürgerliche Wahrheit, unbeschadet ihrer realiter schließlichen Salvierung, formaliter erst einmal kaum weniger in Frage stellt und in Mitleidenschaft zieht als das ihr drohende revolutionäre Strafgericht selbst. Dabei findet diese eigentümliche Assimilation und Mimesis, die den konterrevolutionären Nothelfer in der Larve des revolutionären Gegners zu erscheinen und als dessen regelrechtes Vexierbild aufzutreten zwingt, ihren allgemeinen Ausdruck in der unaufhaltsamen Personalisierung, zu der das als Nothelfer bestellte Staatswesen in Erfüllung der ihm übertragenen salvatorischen Aufgabe sich bereitfinden muß. Nur als die persona, die Maske des revolutionären Proletariats, d. h. nur indem er an die Stelle der solidarischen Massen politischer Subjekte das singularische corpus eines heroischen Individuums treten läßt, und also nur durch jene existentiale Personalisierung und irrationale Subjektivierung, die der christologische "Augenblick" Kierkegaards festhält, kann der Staat offenbar hoffen, die revolutionären Subjekte in das Bockshorn der von ihm inszenierten konterrevolutionären Konversion zu jagen. Und wie die von Staats wegen geübte Mimikry ihren allgemeinen Ausdruck in jener Personalisierung findet, so findet sie nun zugleich ihre besondere Zuspitzung in einer mit der Personalisierung einhergehenden Deklassierung. Nicht genug damit, daß der nothelferische Staat als Revolutionär in persona auftreten und in Gestalt eines umwerfend heroischen Individuums die vexierbildliche Rolle eben der umstürzlerisch politischen Subjekte spielen muß, die er substituiert, – er muß auch mehr noch in Kauf nehmen, daß der Beelzebub, den er darstellt, die kleinbürgerlich-unterklassigen Züge jenes Luzifer annimmt, den er verdrängt. Ob es sich um den kleinen Leutnant aus dem halbkolonialen Korsika, ob um den kleinen Weltkriegsgefreiten aus dem provinziellen Österreich handelt, stets weist die umwerfende Personifikation und heroische Individualität, in die der Staat sich kleidet, jene feldgrau uniforme Unscheinbarkeit, jene massenhafte Alltäglichkeit, kurz, jene Knechtsgestalt auf, die am "Augenblick", der der Christus ist, Kierkegaard unermüdlich herausstreicht und die das Übermenschlich-Heroische ebensowohl als ein Kleinbürgerlich-Proletarisches, den unwiderstehlichen Auftritt des großen Individuums ebensowohl als den unaufhaltsamen Aufstieg des kleinen Mannes, des sprichwörtlichen Mannes von der Straße, erscheinen lassen muß.2
Tatsächlich scheint es genau diese, in actu des konterrevolutionären Notprogramms den staatlichen Nothelfer unaufhaltsam ereilende Kombination aus heroischer Personalisierung und sozialer Deklassierung, was, zur göttlichen Knechtsgestalt des Kairos theologisiert, den Wahrheitsvertretern Kierkegaardscher Prägung objektiv als überwältigendes Paradox entgegentritt und subjektiv zum schlechthinnigen Ärgernis wird. Daß, um der ökonomischen Exekution durch das aufrührerische Volk, die kleinen Leute, zu entrinnen, die "ewige" Wahrheit des Bürgers sich ausgerechnet auf Gedeih und Verderb einem als ihre schlechthinnige "Bedingung" sich aufspielenden Vexierbild des sie bedrohenden Aufruhrs, einem unaufhaltsamen Parvenü und impertinenten kleinen Mann von der Straße, in die erdrückenden Arme werfen muß, – wie könnte dies offenkundige Paradox verfehlen, den Wahrheitvertretern ein Ärgernis zu sein? Und daß die vom "Augenblick" bereits hinlänglich geblendeten Wahrheitsvertreter a la Kierkegaard die revolutionäre Gefahr, an deren Stelle der "Augenblick" für sie eintritt, schon gar nicht mehr als solche wahrzunehmen vermögen, – wie könnte dies etwas anderes bewirken als nur noch einmal eine Verstärkung jenes paradoxon Charakters des "Augenblicks" und Vergrößerung des eben in ihm bestehenden Ärgernisses? Was einem Bürger, der die seiner Wahrheit drohende originäre Gefahr im Auge behielte, noch als die Ironie eines widrigen Schicksals schmerzlich plausibel sein könnte, das muß dem Bürger, der nurmehr der abstrakten Gefährlichkeit des die ursprüngliche Gefahr bannenden Rettungsmittels ins Auge blickt, zum gänzlich unbegreiflichen Schicksalsschlag werden. Wie paradox der von Staats wegen als der Retter erscheinende kleinbürgerlich-proletarische "Augenblick der Wahrheit" den Bürger Kierkegaardschen Zuschnitts tatsächlich anmutet und wie fremdartig er ihm vorkommt, läßt nicht zuletzt das Sündenbewußtsein deutlich werden, das er ihm einflößt. Wenn das die ganze gewohnte Wahrheit in Frage stellende fundamentale Gefühl der Sündhaftigkeit, das angesichts des "Augenblicks" den Wahrheitsvertreter befällt, kein bloßer Zynismus ist, so ist dies vor dem "Augenblick" erzeugte Sündenbewußtsein eine moralisch abgeschwächte und symbolisch gewendete Form eben der Subsistenzangst, die das durch seine konterrevolutionäre persona, sein staatliches Vexierbild, verdrängte revolutionäre Subjekt selbst den Wahrheitsvertretern zu machen geeignet ist. Angesichts des quasi-revolutionären "Augenblicks" befällt die Wahrheitsvertreter statt der lähmend ausweglosen Angst vor realer Auflösung das irritierend trostlose Gefühl moralischer Vernichtung und tritt für sie an die Stelle des ihrer Wahrheit drohenden materialen Exitus und effektiven Endes die – wenn schon nicht für die Wahrheit als solche, so doch für alles, was an ihr hängt – kaum weniger bedrohliche Verheißung einer alles an der Wahrheit anders und neu machenden förmlichen Konversion und existentialen Wiedergeburt.
Daß die durch Personalisierung und Deklassierung markierte quasirevolutionäre Gestalt, die der Staat in der Stunde höchster bürgerlicher Not annimmt, die Bedingung seiner konterrevolutionären, die revolutionäre Gefahr zu bannen bestimmten, nothelferischen Wirksamkeit ist, scheint klar und durch die historischen Ereignisse hinlänglich bewährt. Auch wenn es diesem Vexierbild eines revolutionären Staats nicht gelingt, das revolutionäre Proletariat in den Bann seiner Mimikry zu schlagen und also in das Bockshorn seiner völkisch totalisierten Ersatzleistungen zu jagen, – dem Proletariat den Schneid seiner bestimmten politisch-ökonomischen Intention abzukaufen und es mithin in seinem revolutionären Elan erlahmen bzw. erstarren zu lassen, scheint solches Vexierbild allemal gut genug. Aber wie Bedingung der Wirksamkeit einer konterrevolutionären Strategie, so ist es eben auch die Ursache jenes vor dem Staat die Bürger befallenden Entfremdungs- und Entmachtungsgefühls, das Kierkegaard in der Figur der aus Sündenbewußtsein und Ärgernis gemischten Gefühle, die vor dem Paradox des "Augenblicks" den Wahrheitsvertreter befallen, mit faszinierter Eindringlichkeit beschreibt. Und wie nun aber diese, mit Kierkegaards Hilfe phänomenologisch spezifizierbaren, ungut gemischten Gefühle offenbar die gleichen sind, die wir als typische bürgerliche Reaktionen auf das von uns als faschistisches charakterisierte Staatswesen kennengelernt haben, so ist offenbar auch das diese Gefühle erregende Phänomen selbst, wie wir es gegen die Kierkegaardsche Lesart entziffert haben, nichts anderes als der gesellschaftstheoretisch bzw. klassenanalytisch näher bestimmte Begriff eben jenes von uns als faschistisches charakterisierten Staatswesens.
Der konterrevolutionäre Staat, so wie wir ihn auf den vorangegangenen Seiten aus dem Kierkegaardschen "Augenblick der Wahrheit" charakterologisch ebensosehr wie seiner Funktion nach rekonstruiert haben, ist der im Sinne unserer früheren Definition faschistische Staat. Faschismus ist, seiner Funktion nach, das politische Mittel, dessen die Bourgeoisie sich bedient, um ihre ökonomische Macht gegen alle revolutionäre Gefahr zu behaupten. Aber gleichzeitig ist Faschismus auch, seinem Charakter nach, der politische Preis, den die Bourgeoisie gewissermaßen in persona entrichtet. Jene quasi- oder pseudorevolutionäre Maske, die unter dem Eindruck der revolutionären Gefahr die bürgerliche Gesellschaft sich von Staats wegen aufsetzen läßt, geht zu Lasten und auf Kosten der der bürgerlichen Klasse eigenen Personalität, der bürgerlichen Öffentlichkeit. Indem die bürgerliche Klasse, um die Gefahr der proletarischen Revolution zu bannen, das Pseudos des heroischen Aufbruchs als auch eine Art Revolution sich in Szene setzen und vielmehr in Staat werfen läßt, akzeptiert sie dies Pseudos des "Augenblicks" als die exogene "Bedingung" ihrer endogenen "Wahrheit", delegiert sie, um der Erhaltung ihrer ökonomischen Macht willen, an dies staatliche Pseudos eben die politische Herrschaft, die sie gerade erst sich anschickt, als die ihre zu realisieren.
Delegation der politischen Herrschaft um der Erhaltung der ökonomischen Macht willen – das ist die faschistische Devise, der die bürgerliche Klasse seit Beginn ihrer Etablierung als gesellschaftlich herrschende Klasse folgt. Nolens volens aber folgt die Klasse dieser Devise auf Kosten und zum Schaden ihrer eigenen gesellschaftlich-politischen Repräsentanten, die ja im Gegenteil gerade im Begriff stehen, des Staats sich zu bemächtigen, um, wie den letzteren in ihrem widerspruchsvollen Sinne demokratisch-republikanisch umzugestalten, so die erstere im nicht minder widersprüchlichen Sinne ihrer Klasse protektionistisch-liberalistisch auszuüben. Durch die stillschweigende Entäußerung der politischen Herrschaft an eine als heroisches Individuum und Vexierbild des Klassenfeinds sich ebenso fremdbürtig wie neuartig präsentierende Staatsmacht fällt die Klasse diesen ihren eigenen gesellschaftlichen Repräsentanten in den Rücken, verschlägt sie ihnen materialiter eben die Funktion, mit deren Wahrnehmung sie sie formaliter betraut hat. Die Klasse als Subjekt salviert sich um den Preis des Subjektcharakters; die Person erhält sich auf Kosten ihrer Personalität. Gesellschaftlich desavouiert und politisch entmachtet, findet sich die Gesamtheit der Repräsentanten der bürgerlichen Klasse, die bürgerliche Öffentlichkeit, in jenem abgrundtiefen Dilemma wieder, das uns Kierkegaard als das "Paradox des Augenblicks" vorgeführt hat und das wir als das paradigmatisch faschistische glaubten ausmachen zu können: Sie findet sich von Staats wegen mit einem Tun konfrontiert, das sie als das im ökonomischen Interesse der Klasse, die sie vertritt, durchaus noch gelegene Tun einer mit dem politischen Repräsentationsanspruch, den sie erhebt, schlechterdings unvereinbaren, fremdbürtigen und neuartigen, unbürgerlichen politischen Herrschaftsinstanz realisieren muß.
Keine Frage, daß dieser faschistische Mechanismus einer von der bürgerlichen Klasse um der Erhaltung ihrer ökonomischen Macht willen hinter dem Rücken der bürgerlichen Öffentlichkeit vollzogenen Delegation der politischen Herrschaft an den ins Vexierbild des Klassengegners verwandelten konterrevolutionären Staat so alt ist wie die gesellschaftliche Vorherrschaft der bürgerlichen Klasse selbst und nicht weniger eine Struktureigenschaft der durch solche Vorherrschaft bestimmten bürgerlichen Gesellschaft bildet als die revolutionäre Gefahr, gegen die er aufgeboten wird. Keine Frage aber auch, daß während des ganzen 19. Jahrhunderts dieser faschistische Mechanismus, soweit er überhaupt schon vor Ort praktiziert wird und nicht vielmehr als bloß intellektueller Kult und ideologischer Programmpunkt oder aber als auf das koloniale Experimentierfeld verschobenes und beschränktes imperialistisches Probehandeln erscheint3, als Abwehrmechanismus relativ eindeutig definiert bleibt. Als gegen eine akute revolutionäre Gefahr zum Einsatz gebrachtes Apotropäon und reaktionsbildnerisches Gegenmittel bleibt, theoretisch jedenfalls, der pseudorevolutionär faschistische Staatsstreich die prononcierte Ausnahme von der nach Möglichkeit rasch zu etablierenden Regel des durch die bürgerliche Öffentlichkeit konstituierten bürgerlichen Staats4. Das ändert sich erst im 20. Jahrhundert. Und zwar ändert es sich in dem Maß, wie das von der bürgerlichen Klasse in Gestalt des heroischen Staats als analogischer Gegenzauber inszenierte revolutionäre Vexierbild tatsächlich nun für die Revolution selbst den Charakter einer Attrappe und Larve, eines äußerstenfalls erstarren machenden konterrevolutionären Pseudos zu verlieren und die Bedeutung stattdessen einer Attraktion und Chance, einer jedenfalls in Bewegung bringenden erzrevolutionären Wirklichkeit zu gewinnen beginnt. Unter dem Druck nämlich dieses als quasi-revolutionäre Ersatzleistung sich ihnen ständig bannkräftig oktroyierenden faschistischen Abwehrmechanismus und unter dem Eindruck der diesem Abwehrmechanismus bei aller Abstraktheit eigentümlichen mimetischen Qualität und bei allem Formalismus unbestreitbaren analogischen Signifikanz fangen Teile der potentiell oder aktuell revolutionären Klassen an, die Ersatzleistung als reguläre Funktion zu akzeptieren, in der verräterisch heteronomisierenden Hohlform einen verheißungsvoll autonomen Darstellungsmodus zu erkennen und also, kurz, eben diesen sie konfrontierenden konterrevolutionären Abwehrmechanismus selbst als ihre originäre Hervorbringung, ihren natürlichen Ausdruck sich anzueignen. Was die bürgerliche Klasse ihnen oft und lange genug als den ihre revolutionären Impulse in Bann schlagenden Basilisken aufgedrängt hat, beginnen sie nun als die ihre revolutionären Impulse verkörpernde Mänade mit Leben zu erfüllen und sich spontan selber zuzuziehen.
Indem so aber der faschistische Staat, statt als ein von der bürgerlichen Klasse gegen die revolutionäre Gefahr auf den Plan gerufener larvierter Nothelfer, vielmehr als der höchstpersönliche Ausdruck einer selbsttätigen Umsetzung von Revolution in Konterrevolution aufzutreten anfängt, verändert das seine Position in der gesellschaftlichen Kräftekonstellation entscheidend. In dem Maß, wie er aus einer gegen die Revolution eingesetzten heterogenen Reaktionsbildung in eine durch die Revolution selber quasi spontan gewählte Aktionsform sich verkehrt und also verspricht, die revolutionären Massen nicht mehr bloß zu desorientieren und mit dem Ziel der Zerstörung der ihnen eigenen intentionalen Bestimmtheit in Schach zu halten, sondern vielmehr aus eigenen Stücken zu organisieren und im Dienste seines kapitalen Auftraggebers tatkräftig zu mobilisieren, – in eben dem Maß wird der faschistische Staat zu einer unter den gegebenen Umständen unwiderstehlichen politischen Macht, die nichts geringeres in Aussicht stellt als eine von Staats wegen kurzgeschlossene unheilige Allianz, einen im Staat kristallisierenden unheimlichen Burgfrieden zwischen Kapital und Arbeit, d. h. zwischen den widerstreitenden Extremen des bürgerlichen Interesses und der proletarischen Revolution. Als in mysteriöser coincidentia oppositorum ebensosehr der Repräsentant der Revolution wie der Agent des Kapitals verspricht der faschistische Staat das auf Dauer und unwiderruflich Wirklichkeit werden zu lassen, was der konterrevolutionäre Staat des I9. Jahrhunderts noch nur erst ebenso symbolisch wie kursorisch zu simulieren vermochte: die Redintegration des Proletariats in den Konstitutionsrahmen des bürgerlichen Interesses, das Umschlagen der Negativität in eine "Bedingung" der "Wahrheit", die sie eben noch negierte, die Umwandlung der Revolution in ein Antriebsaggregat des Kapitals.
Wie sollte die bürgerliche Klasse dieser ihr im faschistischen Staat sich eröffnenden blendenden Aussicht widerstehen können? Aber in diese reizvolle Perspektive sich zu schicken, bedeutet nun in der Tat für die bürgerliche Klasse den endgültigen Verzicht auf die ihr eigene Personalität, ihre persönliche Repräsentation, die bürgerliche Öffentlichkeit. Zu dieser nämlich tritt die neue politische Macht, der als Vertreter aller Klassen agierende und in eben diesem Sinne totalitäre faschistische Staat in ein definitives und umfassendes Konkurrenzverhältnis. Solange der faschistische Staat der politische Notstand, die Ausnahme von der Regel bürgerlicher politischer Herrschaft ist, bleibt das Verhältnis zwischen den beiden eines der Delegation und der zeitweiligen Ablösung. Jetzt aber, da der faschistische Staat der bürgerlichen Klasse eine im Sinne ihres ökonomischen Machterhaltungsinteresses ebenso "konstruktive" wie dauerhafte Lösung des Problems politischer Herrschaft anzubieten vermag, wird das Verhältnis eines der Relegation und kategorischen Ausschließung. Im Blick auf den vom totalitär faschistischen Staat in Aussicht gestellten unverbrüchlich tausendjährigen Burgfrieden und kurzgeschlossen ewigen Sozialkontrakt erweist sich die traditionelle Personalvertretung der Bourgeoisie, die bürgerliche Öffentlichkeit, als ausgesprochener Hemmschuh und ersichtlicher Störfaktor. Mit ihrem bornierten Festhalten am Prinzip einer durch sie repräsentierten parlamentarischen Demokratie und ihrem auf dies Prinzip sich gründenden, de jure ebenso unveräußerlichen wie de facto jederzeit suspendierbaren, politischen Herrschaftsanspruch steht sie der heroischen Machtergreifung des faschistischen Einheitsstifters in gewisser Weise nicht weniger im Wege als die die revolutionäre Intention verteidigende organisierte Linke. Und nicht weniger als den "alles entwertenden Kommunismus" der letzteren trifft deshalb auch den "alles zersetzenden Liberalismus" der ersteren der Zorn und die Rache des neuen politischen Herren.
Die bürgerliche Klasse als Klasse ficht diese "Ausschaltung" und Ersetzung der Institution der bürgerlichen Öffentlichkeit durch das als politischer Normalzustand durchgesetzte Institut des totalitären faschistischen Staats mit seiner ebenso massenorganisatorisch erweiterten gesellschaftlichen Basis wie führerkultlich zugespitzten völkischen Exekutive nicht weiter an. Schließlich dient der politische Gesichts- und Personalitätsverlust, den sie erleidet, ihrem eigenen ökonomischen Interesse. Und mag auch diese Form der Interessenwahrung einer reductio ad absurdum verzweifelt nahe kommen, – wie wenig das die Klasse als solche beschwert, beweist nicht zuletzt die Mehrzahl der politischen Klassenvertreter selbst, die, ihre Dysfunktionalisierung bereitwillig antizipierend, noch vor der tatsächlichen Zerschlagung ihrer Institution diese im Stich lassen, um sich der kommenden Staatsform als politischer Funktionär bzw. ideologischer Sachbearbeiter zur Verfügung zu stellen.
Daß die neue Staatsform eines totalitären Faschismus gerade in Italien, Spanien und vor allem Deutschland sich durchzusetzen vermag, hat dabei seinen Grund auch und nicht zuletzt in der desolaten Verfassung, in der die bürgerliche Öffentlichkeit, die politische Repräsentanz der Bourgeoisien dieser Länder sich befindet, und in der dementsprechend geringen Mühe, die ihre "Ausschaltung" erfordert. In Deutschland hat es bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung eine eigenständige politische Repräsentanz der bürgerlichen Klasse nur in Ansätzen und weitgehend auf die Jahre der Weimarer Republik beschränkt gegeben. Politische Herrschaft ist deshalb auch bis zum Ende des I. Weltkriegs in Deutschland nie durch die bürgerliche Klasse in Person ausgeübt worden, sondern stets das Privileg einer aus relativ eigenständiger Position heraus mit der bürgerlichen Klasse kontrahierenden militärisch-aristokratischen Staatsbürokratie geblieben. Angesichts dieser von Anfang an vergleichsweise autogenen und bürgerunabhängigen Stellung der Staatsmacht kann auch von einer durch die bürgerliche Klasse zu vollziehenden Delegation politischer Herrschaft im Falle des kaiserlichen Deutschlands stricto sensu gar nicht die Rede sein. Und zugleich kann auf der Basis der formalen Gemeinsamkeit einer hier wie dort hervorstechenden Unmittelbarkeit und Selbstherrlichkeit der Staatsmacht, wie einerseits die Machtergreifung durch den faschistischen Staat als Fortsetzung einer durch die Weimarer Republik künstlich unterbrochenen, bewährten Tradition, als planer Akt politischer Kontinuität, so andererseits die "Ausschaltung" der bürgerlichen Öffentlichkeit als Rückkehr zur bürgerlichen Gesellschaft deutscher Prägung, als conditio sine qua non einer Wiederherstellung der guten alten, politischen Stabilität sich suggerieren.5
Und was ist nun mit der Bundesrepublik? Sie ist der von den westlichen Siegermächten leibhaftig wiederhergestellte status quo, Musterbild einer in allen entscheidenden Stücken restaurierten repräsentativrepublikanischen bzw. parlamentarisch-demokratischen bürgerlichen Gesellschaft. Nichts Wesentliches fehlt an ihr: nicht die bürgerliche Klasse mit der durch sie bestimmten ökonomischen Struktur und ausgeübten ökonomischen Macht; nicht die bürgerliche Öffentlichkeit mit ihrem Anspruch auf die repräsentativ-parlamentarisch ausgeübte politische Herrschaft; und nicht der bürgerliche Staat mitsamt der als Struktureigentümlichkeit in ihm enthaltenen salvatorischen Klausel seiner not- und gegebenenfalls konterrevolutionären Verselbständigung und faschistischen Selbstermächtigung. Alles also ist, mit der tatkräftigen Hilfe der westlichen Siegermächte, so gutbürgerlich wie zuvor, oder vielmehr wie nie in Deutschland zuvor, wiedereingerichtet. Und dennoch hat sich durch die Erfahrung des nationalsozialistischen Paradigmas unwiderruflich und mit unabsehbaren Folgen etwas verändert. Verändert hat sich das Verhältnis des bürgerlichen Staats zu dieser seiner, für den Fall einer revolutionären Gefahr struktureigentümlich vorgesehenen konterrevolutionären Selbstumwandlung und faschistischen Machtergreifung. Solange der bürgerliche Staat diese Selbstumwandlung noch als ein stricto sensu konterrevolutionäres Tun, einen – aller Mimikry ungeachtet – eindeutig gegen die Revolution gerichteten coup d'etat begreifen konnte, konnte er einer möglichen revolutionären Gefahr noch mit ebensoviel Gefaßtheit wie Wachsamkeit entgegensehen. Denn was der bürgerlichen Öffentlichkeit, der rechtmäßigen Erzeugerin und bevollmächtigten Erhalterin des bürgerlichen Staats, dadurch drohte, war bloß eine vorübergehende Delegation ihrer politischen Herrschaft, eine Versetzung in den einstweiligen Ruhestand. Nun aber, da der bürgerliche Staat diese seine Selbstumwandlung als veritable revolutionäre Staatsaktion, als spontane Transformation revolutionär bestimmter Intentionalität in die abstrakte Energie der faschistischen Staatsbewegung kennen und fürchten gelernt hat, muß er die Eventualität einer revolutionären Gefahr scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Denn was der bürgerlichen Öffentlichkeit dabei droht, ist, wie gesehen, nichts geringeres als ihre definitive Entmachtung und unwiderrufliche Liquidation. Um die bürgerliche Öffentlichkeit, seinen formellen Schöpfer, vor diesem, ihr von seiner, ihres Geschöpfes, Seite drohenden Schicksal zu bewahren, darf der bürgerliche Staat sich nicht mehr damit begnügen, auf eine revolutionäre Gefahr gegebenenfalls vorbereitet zu sein, sondern muß er mit allen Kräften bemüht sein, das Eintreten einer revolutionären Gefahr auf jeden Fall zu vermeiden. Weil theoretisch jeder revolutionäre Anlaß zum Auslöser und Antrieb seiner eigenen, als selbsttätige Umwandlung von Revolution in Faschismus funktionierenden Erhebung zum kurzschlüssig totalitären Volksgemeinschaftsstifter werden kann, versetzt sich der bürgerliche Staat praktisch, statt in einen Zustand beständiger Abwehrbereitschaft, vielmehr in einen permanenten Alarmzustand, d. h. in einen Zustand nicht sowohl der Abwehr wirklicher revolutionärer Gefahren, sondern der Vermeidung möglicher revolutionärer Versuchungen. Und eben hierin, im Versuch, seiner quasi automatischen Faschisierung durch ein universales Berührungsverbot, eine pauschale Vermeidungsstrategie, eine gegen jegliche revolutionäre Intention oder revolutionsähnliche Energie verhängte totale Kontaktsperre zuvorzukommen und zu entrinnen, faschisiert sich der bundesrepublikanische Staat. Eben hierin, im Versuch, sich nicht "provozieren" zu lassen, der Versuchung zur Totalisierung aus dem Wege zu gehen, totalisiert sich der bundesrepublikanische Staat, nimmt er jenen autoritären, repressiven und zynischen Charakter an, den wir zu Anfang unserer Überlegungen an ihm konstatierten und der ihn als ein in aller Form faschistisches Staatswesen auszuweisen bestimmt ist. Faschistisch wohlgemerkt nur erst in aller Form, nicht etwa auch schon dem Inhalt nach. Inhaltlich führt der bundesrepublikanische Staat im Gegenteil jenen unerbittlichen, unermüdlichen Kampf gegen seine eigene Faschisierung, in dessen Verlauf und um dessentwillen er sich überhaupt nur in aller Form faschisiert. Inhaltlich führt er jenen paranoischen Kampf, in dessen Konsequenz er, statt gegen seine eigene, strukturspezifisch objektive Tendenz zur Totalisierung, gegen die Totalität möglicher, diese seine Tendenz zu verstärken oder zu realisieren geeigneter, äußerer Anlässe und auslösender Reize zu Felde zieht; – jenen paranoischen Kampf, bei dem ihm das Fehlen eines ernstzunehmenden sichtbaren Gegners nur immer Beweis für den unsichtbar wachsenden Ernst der Lage und Ansporn zu verschärften ordnungspolitischen Maßnahmen, verstärkten polizeilichen Anstrengungen und vermehrtem bürokratischem Aufwand sein kann; – jenen paranoischen Kampf, dessen prinzipiell unabschließbare Front sich durch konspirative Wohnungen, die Freiburger Innenstadt, die Sicherheitstrakte der Gefängnisse erstreckt. Aber paranoisch ist auch hier nicht etwa gleichbedeutend mit unrealistisch. Mag der äußere Gegner fehlen, – der innere Gegner, der der bundesrepublikanische Staat in persona ist und den er durch eine gegen die Außenwelt gewendete umfassende Vermeidungsstrategie, eine gegen alles, was ihn reizen und verführen könnte, gerichtete aggressive Berührungsangst in Schach zu halten sucht, ist furchtbar genug! Der bürgerliche Staat der Bundesrepublik Deutschland kennt sich, er weiß, wozu er fähig ist.
Zuerst erschienen in: Ilse Bindseil / Ulrich Enderwitz (Hrsg.), Notizbuch 4. Faschismus, Literatur und bürgerlicher Staat, Berlin 1981, S.27-
Fußnoten
- ... betrachten. 1
- Zum Folgenden vergleiche die von Martina Schmitz-Weiss am Fachbereich II der Freien Universität Berlin vorgelegte Dissertation "Sören Kierkegaard – Die politische Dimension des Augenblicks".
- ... muß. 2
- Daß von Carlyle bis zu Ortega und Jaspers diese revolutionäre Maske ebensowohl als die Physiognomie des Adels gehandelt wird, darf nicht überraschen. Abgesehen davon, daß zur Ostentation einer zwischen revolutionärem und bürgerlichem Staat sich behauptenden qualitativen, weil klassenspezifischen Differenz in abstracto jede nicht-bürgerliche Klasse gleich gut taugt, ist auch klar, daß eine auf die Kollaboration mit dem neuen nothelferischen Zuchtmeister gleichermaßen erpichte und angewiesene bürgerliche Öffentlichkeit nur zu geneigt ist, das den letzteren durchherrschende neue "Menschentum" unter Tilgung seiner penetrant paradoxen Züge in ein dem bürgerlichen Selbstbewußtsein weniger abträgliches idealistisches Gegenbild umzuformulieren, sozusagen den inneren Adel neuer Werktätigkeit als die restaurierte Werkheiligkeit alten Adels dingfest zu machen. Diese Tendenz muß – im Sinne gleichermaßen eines Abwehr- und Anpassungsverhaltens – umso stärker werden, je unübersehbarer der vexierbildlich revolutionäre Staat Wirklichkeit wird und als das leibhaftige Paradox hervortritt.
- ... erscheint 3
- Daß es fast ausschließlich Frankreich ist, in dem im I9. Jahrhundert der faschistische Mechanismus "vor Ort praktiziert" wird, dürfte seinen Grund darin haben daß in dieser Zeit Frankreich (abgesehen vom Sonderfall USA) das einzige Land ist, in dem die politisch-ökonomische Vorherrschaft der Bourgeoisie nicht mehr durch eine dauerhaft etablierte konstitutionelle bzw. ständestaatliche Monarchie sei's abgesichert, sei's beschränkt ist.
- ... Staats 4
- Das hindert allerdings nicht, daß in praxi bereits im I9. Jahrhundert das im 20. Jahrhundert vollends akut werdende Problem der Beendigung der faschistischen Herrschaft manifest wird. Es erscheint nachgerade fast als Regel, daß diese Beendigung nur durch Krieg, durch eine internationale Anstrengung anderer, bürgerlich gebliebener (bzw. sozialistisch gewordener) Staaten sich erreichen läßt.
- ... suggerieren.5
- Dies umso leichter, als, besonders in seiner letzten Phase, das Kaiserreich selber bereits anfängt, dem Zeitgeist Rechnung zu tragen und unter dem monarchischen Deckmantel fortschrittlich faschistische Attitüden auszubilden und hervorzukehren.