4. Das Bürgertum an der Macht und die Emanzipation der Juden
Als diese vom Kapital selbst funktionalisierte, manipulative Figur hört der Hofjude aber in dem Augenblick auf, eine Rolle zu spielen, wie die zu manipulierende Instanz, der absolutistische Fürst, seine Bedeutung für die Kapitalentwicklung einbüßt. Bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts ist das Kapital gefestigt genug und fühlt sich hinlänglich in der neuen Stellung einer über die Produktionssphäre gesellschaftlich verfügenden, industriekapitalistischen Macht etabliert, um die merkantilistischen Hebammendienste, den ökonomischen Vorschub und den politischen Flankenschutz, die ihm die absolutistische Fürstenmacht geleistet hatte, entbehrlich zu finden. Es ist selbständig genug, um in den Gegenleistungen, die es für solche Hilfestellung erbringen, um in den beträchtlichen direkten und indirekten Finanzmitteln, die es für den fürstlichen Etat, für die Hofhaltung und die Kriegsführung des Fürsten, aufbringen muß, unnütze Ausgaben, tote Kosten zu erkennen. Das Kapital ist selbstbewußt genug, um den absolutistischen Fürsten abzudanken und durch eine politische Macht eigener Provenienz, eine aus der eigenen gesellschaftlichen Repräsentanz, dem Dritten Stand, sich rekrutierende und weniger aufwendige Staatsverwaltung zu ersetzen. In Frankreich, in eben dem Land, in dem es zum Zwecke seiner industriekapitalistischen Karriere paradigmatisch mit der absolutistischen Fürstenmacht paktiert hat, läßt es nun ebenso paradigmatisch seine gesellschaftlichen Vertreter gegen die Fürstenmacht revoltieren oder vielmehr Revolution machen, insofern es ja deren erklärte Absicht ist, die Fürstenmacht abzuschaffen und durch eine kapitalspezifische politische Ordnung zu ersetzen. Der Mohr von Gottes Gnaden hat seine Schuldigkeit getan, er kann gehen – und am besten, damit er bestimmt nicht zurückkehrt, mit dem Kopf unter dem Arm! Und mit dem fürstlichen Mohren kann auch sein angeschwärztes Faktotum, der Hofjude, gehen. Wie die Figur des wucherischen, raffgierigen Finanzjuden mit der Institution der Fürstenmacht im Mittelalter entsteht, so vergeht sie nun mit eben dieser Institution Ende des 18. Jahrhunderts. Weder in der existentialisiert-panischen, symptomatischen Bedeutung, die sie im mittelalterlichen Burgjuden hervorkehrt, noch in der funktionalisiert-zynischen, indikatorischen Rolle, die sie als frühbürgerlicher Hofjude übernimmt, beweist diese Figur nach der revolutionären Beseitigung der als fürstliche Macht politischen Institution, für die sie ersatzbildnerisch oder stellvertretend einstand, noch einen Sinn.Der Dritte Stand kann mit ihr nichts mehr anfangen, weil er keine Rücksicht mehr auf jenen fürstlichen Alliierten des Kapitals nehmen muß, der, sosehr er in specie seines fiskalpolitischen Mißbrauchs der Kapitalfunktion über die Stränge der ihm zugedachten Aufgabe schlagen mochte, doch jedenfalls in genere seines absolutistischen Amtes für die merkantilistische Entwicklung jener Kapitalfunktion gebraucht wurde. Nun, nachdem die Kapitalfunktion entwickelt genug ist, um die fürstliche Stütze entbehren zu können, der deshalb der revolutionäre Laufpaß gegeben wird, treten Beeinträchtigungen der Kapitalfunktion und Störungen ihres Entwicklungsgangs nicht mehr im Kontext ständisch-diplomatischer Verwicklungen auf, hinter denen die Gefahr eines fundamentalen Interessenkonflikts und eines bürgerkriegsähnlichen gesellschaftlichen Zusammenbruchs lauert, wenn es nicht gelingt, sie auf diplomatische Weise, und das heißt auf der Ebene stellvertretenden, "symbolischen" Handelns aus der Welt zu schaffen. Sie sind vielmehr Folge politisch-ökonomischer Dissense, die sich allemal auf dem Hintergrund einer fundamentalen Interessenidentität abspielen und deren Beseitigung deshalb nur Aufgabe praktischer politischer Verhandlung und faktischen ökonomischen Vergleichs sein kann. Weil die Bourgeoisie, in die der Dritte Stand sich revolutionär verwandelt, den Nachfahren der feudalen Herrschaft, das absolutistisch fremdbürtige Staatswesen, außer Kraft setzt, um selber die politische Macht zu übernehmen und einen Staat eigener Provenienz und Verantwortlichkeit zu etablieren, ist nun auch der Schutz und die Förderung des ihr eigenen ökonomischen Anliegens, des Kapitals, ausschließlich Sache dieser von ihr etablierten Staatsmacht, um die sie sich fraktionenförmig streiten und mit der sie sich parteilich auseinandersetzen mag, auf die sie aber jedenfalls nicht mehr jene ständisch-diplomatische Rücksicht nehmen muß, die sie dem amphibolischen Bundesgenossen aus einer anderen Welt, dem absolutistischen Souverän aus Gründen der Vergangenheit schuldete. Indem sie den als repräsentativ-höfischer Souverän figurierenden Leviathan von Gottes oder der alten Ordnung Gnaden abdankt und durch einen als Kreatur der bürgerlichen Klasse firmierenden repräsentativ-parlamentarischen Verwalter und öffentlichen Geschäftsträger ablöst, muß die Bourgeoisie den Staat nicht mehr als autokratischen Machthaber und als fremdbürtige Respektsperson gelten lassen. Folglich kann sie getrost auf jene in der Gestalt des Hofjuden paradigmatischen Stellvertretungs- und Blitzableiterfiguren verzichten, deren es bei Allianzen und Auseinandersetzungen zwischen heteronomen, nicht durch ein substantielles Interesse, sondern bloß durch gemeinsamen Vorteil verbundenen Mächten um der Vermeidung irreparabler Entzweiungen willen stets bedurfte.
Und ebensowenig wie der zur Bourgeoisie avancierende Dritte Stand können die zunehmend zu Lohnarbeitern und abstrakten gesellschaftlichen Arbeitskräften deklassierten vormaligen Kleinproduzentenschichten noch etwas mit der Figur des Juden anfangen. Für die mittelalterlichen Kleinproduzenten war der Burgjude und aller gegen ihn sich richtende volkstümliche Affekt bloße Chiffre ihres zum faulen Kompromiß verhaltenen Widerstands gegen das neue ökonomische Prinzip des Markts, der symptomatische Ausdruck ihres aus reeller Ohnmacht und traditioneller Scheu gemischten Unvermögens, es beim Kampf gegen dies neue ökonomische Prinzip auf eine direkte Konfrontation mit der politischen Macht, der feudalen Herrschaft, ankommen zu lassen, unter deren Schutz und Schirm das neue Prinzip sich entfaltete. Angesichts der ebenso furchteinflößend-militärischen Gewalt wie achtunggebietend-legitimistischen Autorität jener feudalen Herrschaft, die der Karriere des Handelskapitals die erforderliche politisch-ideologische Rückendeckung verlieh, zogen es die ihr ausgelieferten und zum Opfer gebrachten Kleinproduzenten vor, ihr wirtschaftliches Unheil und ihr gesellschaftliches Unglück einem Substitut oder vielmehr Alibi des qua Handelskapital eigentlich Schuldigen anzulasten, nämlich eben jener in der Reduktion der Marktwirtschaft auf Geldhandel bestehenden und im Burgjuden zur Anschauung gebrachten ökonomischen Ersatzfigur, die ihrer systematischen Stellung nach peripher und ihrer funktionellen Bedeutung nach aufgesetzt genug war, um es der politischen Macht zu erlauben, manipulativ mit ihr umzuspringen und sie je nach Umständen und Bedarf sei's unter ihre Fittiche zu nehmen und auszubeuten, sei's fallenzulassen und dem Volkszorn preiszugeben. Die Kleinproduzenten zogen es dergestalt ebensosehr aus Konfliktscheu wie aus Autoritätsglauben vor, ihren Protest gegen die von der alten politischen Macht protegierte neue ökonomische Ordnung in Form einer sozialpsychologisch wirksamen Ersatzhandlung, einer symptomatischen Abreaktion zu artikulieren. Jetzt aber, da das ökonomisch erstarkte und zur zentralen gesellschaftlichen Kraft avancierte Kapital jener alten politischen Macht in ihrer finalen Form, dem Absolutismus, den Laufpaß gegeben oder vielmehr auf der Guillotine kurzen Prozeß mit ihr gemacht hat und an ihre Stelle eine aus der eigenen gesellschaftlichen Repräsentanz, dem Dritten Stand, sich rekrutierende politische Führung, einen staatlichen Erfüllungsgehilfen eigener Provenienz und Fasson, treten läßt, erweisen sich diese zur Alibifigur und zum Handlungsersatz treibenden Motive der Konfliktscheu und der Autoritätsgebundenheit als gleichermaßen hinfällig.
Zum ersten geht der neue, kapitalgesetzte, durchs Kapital eingesetzte Staat nämlich jener relativ eigenständigen und ex cathedra ihres historisch vorausgesetzten Seins originär politisch sich präsentierenden Position verlustig, die der feudale beziehungsweise absolutistische Fürst allemal noch behauptet und kraft deren er bei den unteren Schichten Anspruch auf eine traditionelle Autorität erhebt, die einer anderen Quelle als dem aktuell gegebenen Mechanismus gesellschaftlicher Reproduktion entspringt und deshalb auch in einem gewissen Maß von den marktrechtlichen oder merkantilistischen Verwicklungen des Fürsten in politisch-ökonomische Akkumulations- und manufakturkapitalistische Expropriationsstrategien unabhängig bleibt. Einem Staat von Gnaden des Kapitals, dem bürokratischen Funktionär einer politisch-ökonomisch interessierten gesellschaftlichen Klasse, bezeigen die Volksschichten nicht mehr die Achtung, die sie dem Fürsten von Gottes Gnaden, dem autokratischen Vertreter einer historisch-politisch tradierten Ordnung, entgegenbringen: jene Achtung, die Menschen den als substantielle Voraussetzung erscheinenden gemeinschaftlichen Stiftungen ihrer Vorfahren zollen, während sie sie den als funktionelle Setzung firmierenden eigenen gesellschaftlichen Schöpfungen verweigern.
Und wie zum ersten die arbeitenden Klassen im Blick auf den neuen kapitalgesetzten, bürgerlichen Staat die Autoritätsgebundenheit als Beweggrund für antisemitische Verschiebungsleistungen einbüßen, so gehen sie zum zweiten auch der Konfliktscheu verlustig. Nur als Motiv für Ersatzhandlungen verlieren sie, wohlgemerkt, die Konfliktscheu, und nicht etwa als einen natürlichen Bestimmungsgrund ihres politischen Handelns. Schließlich wird bloß deshalb, weil der Staat jetzt durchs Kapital gesetzt ist und aus der kapitaleigenen gesellschaftlichen Klasse sich rekrutiert, seine bürokratisch-politische Gewalt und militärisch-polizeiliche Macht nicht geringer. Eher ist das genaue Gegenteil der Fall: Dank der mit der Kapitalkarriere einhergehenden Produktivkraftentfaltung und technologischen Entwicklung übertrifft die ordnungsmächtige Durchsetzungskraft des bürgerlichen Staats die seines absolutistischen Vorgängers erheblich und ist zudem in ständiger Zunahme begriffen. In der Tat haben die im Zuge der gleichen Entwicklung zur lohnarbeitenden Masse deklassierten Kleinproduzentenschichten eher mehr Grund als weniger, die Auseinandersetzung mit diesem Staat zu scheuen und dem Konflikt mit ihm aus dem Wege zu gehen. Nicht den geringsten Grund aber haben sie mehr, ihre Konfliktscheu zu verschieben und nämlich ihren sozialen Protest und Widerstand im Versuch, der direkten Auseinandersetzung mit dem Staat auszuweichen, als antisemitische Symptomhandlung oder Abreaktion zu artikulieren. So wahr der bürgerliche Staat seine Existenz nunmehr dem Kapital verdankt und nichts anderes denn der politische Funktionär der ökonomischen Instanz Kapital ist, so wahr ist die bürokratische Gewalt und polizeiliche Macht, mit der er dem möglichen sozialen Protest und politischen Widerstand begegnet, einzig und allein die ihm vom Kapital verliehene, einzig und allein die ins Politische gewendete ökonomische Macht und Gewalt des Kapitals selbst. Der Konfrontation mit der Staatsmacht auszuweichen, bedeutet jetzt, dem Konflikt mit dem Kapital selbst aus dem Weg zu gehen. Genau in diesem Punkt unterscheidet sich die neue nachrevolutionäre von der alten feudalen beziehungsweise absolutistischen Situation. Dort war der Staat eine durch die historische Tradition gegebene originär politische Macht und insofern eine von dem neuen marktentsprungenen ökonomischen Prinzip, das er protegierte und mit dem er im Bund stand, differierende Instanz. Und dieser Differenz wegen konnte die Versuchung entstehen und erschien es überhaupt sinnvoll, den Protest und Widerstand gegen das neue Marktprinzip mit Konfliktscheu und Verträglichkeit gegenüber dem Staat zu verbinden. Nur weil bei aller Kooperationsbereitschaft und Dienstfertigkeit im Blick auf das neue Kapitalprinzip die feudale Macht sich jedenfalls noch als ebenso eigeninteressierte wie eigenständige politische Kraft behauptete, konnten die ökonomisch bedrängten Kleinproduzenten auf den Gedanken kommen, das sie bedrängende Kapitalprinzip bekämpfen und gleichzeitig die Staatsmacht aus dem Streit heraushalten zu können. Nur weil die institutionelle Relation zwischen Politik und Ökonomie, Staat und Markt noch ebenso dynamisch unentschieden wie systematisch unvermittelt war, konnten die Kleinproduzenten hoffen, bei ihrer Auseinandersetzung mit dem Markt den Staat zur Neutralität verhalten, wenn nicht als heimlichen oder gar offenen Bundesgenossen gewinnen zu können. Aber damit war nun auch die Konstellation geschaffen, die zur symptomatischen Ersatzhandlung antisemitischen Zuschnitts verleitete oder geradezu einlud. Konfrontiert mit einer feudalen Macht, die an sich ihren ökonomischen Protegé, den im Entstehen begriffenen kapitalen Markt, gegen soziale Angriffe mit allen Mitteln zu schützen bereitstand, aber zugleich durch die "unökonomisch" politische Eigenständigkeit dieser feudalen Macht noch zu der (im Sinne traditioneller Autoritätsgebundenheit) doppelt willkommenen Hoffnung verführte, durch entsprechendes Wohlverhalten die Herrschaft aus dem Konflikt mit dem kapitalen Markt heraushalten zu können, erlagen die mittelalterlichen Kleinproduzenten der Versuchung, der Verwirklichung dieser Hoffnung den Realismus des Konflikts zum Opfer zu bringen und den ökonomischen Gegner Kapital sich um des lieben politischen Friedens willen zu jenem Pseudos des wucherischen Finanzjuden kaschieren und in jenes systematisch abseitige personale Alibi verschlagen zu lassen, das es der ebenfalls nicht auf Konfrontation erpichten beziehungsweise sogar im Eigennutz engagierten Feudalmacht sodann erlaubte, den solcherart ins Ersatzhandeln verschobenen sozialen Ausbruch der Kleinproduzenten als eine veritable Abreaktion passieren zu lassen oder gar tatkräftig zu unterstützen. Kurz, die Kleinproduzenten des Mittelalters und der frühen Neuzeit ließen sich durch die eitle Hoffnung auf ein mögliches Arrangement oder gar Bündnis mit der Feudalherrschaft dazu bestimmen, die ökonomisch gebotene Auseinandersetzung mit dem neuen Marktprinzip in der höchstens und nur sozialpsychologisch wirksamen Form eines reinen Ablenkungsmanövers zu führen.
Aber die für dieses Ablenkungsmanöver maßgebende eitle Hoffnung auf ein mögliches Arrangement mit dem Staatswesen ist mit der in der revolutionären Hauptsache durchgesetzten Reduktion des Staats auf einen bourgeoisen Kapitalagenten gerade in aller Form verschwunden. So gewiß die Staatsmacht in personaler nicht weniger als in funktionaler Hinsicht deckungsgleich wird mit der politischen Macht des ökonomischen Prinzips Kapital, so gewiß ist die Auseinandersetzung der zu proletarischen Lohnarbeitern deklassierten Kleinproduzenten mit dem Kapitalprinzip gleichbedeutend mit dem Kampf gegen die Staatsmacht selbst. Dem Kapital entgegentreten und gleichzeitig dem Konflikt mit dem Staat aus dem Weg gehen zu wollen, das erscheint angesichts der personellen Verschränkung und funktionellen Abhängigkeit beider geradeso sinnlos wie der Versuch, einer Funktion zu Leibe rücken zu wollen, ohne ihrem Träger, dem Funktionär selbst, zu nahe zu treten. Wollen die zum Proletariat deklassierten Kleinproduzenten der als Kapital auf die Produktionssphäre übergreifenden marktentsprungenen Wertmasse und ihrer in der Ausbeutung der lebendigen Arbeit bestehenden marktbezogenen Verwertungsstrategie Widerstand leisten, so impliziert dies unmittelbar den Widerstand gegen das die ökonomische Substanz repräsentierende politische Subjekt, gegen den als Profos und Agent des Kapitals operierenden bürgerlichen Staat. Und dieser Widerstand gegen die Verwertungsstrategie der zum Kapital totalisierten ökonomischen Macht ist keine Frage des bloßen Wollens mehr, sondern entwickelt sich mehr und mehr zu einer Überlebensfrage, zu einer Sache schierer Notwendigkeit. In dem Maß nämlich, wie die markterzeugte Wertmasse im Zuge ihrer Verwandlung aus Handels- in Industriekapital die Kleinproduzenten auf Lohnarbeiter reduziert und das heißt, aus Warenerzeugern, die einen Teil des Werts der von ihnen erzeugten Waren auf dem Markt den Kapitaleignern als deren Anteil überlassen müssen, zu regelrechten Waren werden läßt, die mitsamt ihrer besonderen Gebrauchseigenschaft Arbeitskraft gegen das Äquivalent eines Teils des Werts der von ihnen erzeugten Waren von den Kapitaleignern auf dem Markt gekauft werden können, kommt es zu einer beispiellosen Steigerung der ökonomischen Ausbeutungsrate und einer zunehmenden Verschlechterung der sozialen Lage der zur proletarischen Klasse deklassierten arbeitenden Bevölkerung. Als eine Ware, die auf dem Markt verkauft und gekauft wird, ist wie jede andere Ware der Produktionsfaktor Arbeitskraft dem Gesetz von Angebot und Nachfrage unterworfen. Das heißt, ihr Preis bemißt sich im reziproken Verhältnis daran, wie zahlreich sie angeboten wird und wie stark die Nachfrage nach ihr ist. Und dieses Verhältnis fällt praktisch während des ganzen industriekapitalistischen Entwicklungsprozesses ebensosehr zuungunsten der Anbieter der Ware Arbeitskraft wie zugunsten der Nachfragenden aus. Wie groß nämlich auch immer im Zuge dieses expansiven Manufakturierungs- und Industrialisierungsprozesses die Nachfrage nach Arbeitskräften sein mag, der Prozeß selbst sorgt dafür, daß im durch Krieg, Hungersnot oder Seuchen "unverzerrten" Normalfall das Angebot die Nachfrage immer aufs neue übersteigt. Dank der technischen und prozeduralen Revolutionierung der Arbeitsvorgänge und Produktionsverfahren, von denen die Manufakturierung beziehungsweise Industrialisierung begleitet ist, und vermöge der permanenten Produktivitätssteigerung, die diese Revolutionierung der Produktion zur Folge hat, werden ständig neue Gruppen vorindustrieller Kleinproduzenten auskonkurriert, um ihre traditionelle Lebensgrundlage gebracht und auf eben das Niveau einer von aller selbständigen Subsistenz abgeschnittenen und mittellosen gesellschaftlichen Existenz heruntergedrückt, das sie zwingt, sich in eigener Person zu Markte zu tragen und sich dort als die Ware Arbeitskraft, als Lohnarbeiter, feilzubieten. Und mit dieser ökonomischen Expropriation werden sie dank der flankierenden Maßnahmen des absolutistisch-merkantilistischen beziehungsweise nach der Revolution bürgerlichen Staats gleichzeitig politisch und gesetzgeberisch um ihre traditionellen berufsständischen Organisationsformen, korporativen Bindungen, sozialen Sicherungen und gewohnheitsrechtlichen Lebensweisen gebracht und finden sich den rein ökonomischen Marktmechanismen schutzlos preisgegeben und auf Gedeih und Verderb unterworfen. Die Folge ist einerseits ein tendenziell fortlaufender Preisverfall der Ware Arbeitskraft, hervorgerufen durch deren Überangebot, und andererseits eine tendenziell zunehmende Ausbeutungsrate dank der durch den Konkurrenzdruck erzeugten Bereitschaft der Arbeitskraft, sich gegenüber ihrem Käufer, dem Kapital, zu immer ungünstigeren Arbeitskonditionen bereitzufinden. Dies beides, sinkender Lohn und steigende Ausbeutung, resultiert bei den zu Lohnarbeitern deklassierten ehemaligen Kleinproduzenten in einem fortschreitenden Prozeß ökonomischer Verarmung, physischer Verausgabung und psychischer Verelendung. Während sie eine immer größere Produktivität entfalten und immer mehr gesellschaftlichen Reichtum produzieren, erhalten sie relativ immer weniger Lohn für ihre Arbeit und sind um dieses tendenziell sinkenden Lohns willen zu immer größeren physischen und psychischen Arbeitsleistungen gezwungen. Diesen Trend zur Pauperisierung und Verelendung verstärken sie selber noch dadurch, daß sie auf ihre Not und Armut mit dem quasibiologischen Mechanismus einer als Alterssicherung intendierten vermehrten Fortpflanzung reagieren, womit sich das Quantum der auf dem Markt angebotenen Arbeitskraft noch vergrößert und sich der preissenkende Konkurrenzdruck, den die Arbeitskräfte aufeinander ausüben, weiter erhöht.
Wie bei jeder anderen Ware ist auch bei der Ware Arbeitskraft das Sinken des Preises kein unendlicher Prozeß. Vielmehr erreicht es irgendwann eine objektive Grenze, die durch den Wert der Ware markiert ist. Wird diese Grenze unterschritten, so bedeutet dies das Ende der Ware als Ware; wenn die Ware keinen ihren Produktionskosten äquivalenten Wert, ganz zu schweigen von einem Mehrwert, mehr realisiert, verliert sie für ihren Besitzer den Sinn, wird wertlos und wandert, soweit ihr Besitzer sie nicht selber als Gebrauchswert verwenden kann, auf den Abfallhaufen. Bei der Ware Arbeitskraft ist, wie bekannt, dieser den Fall ihres Preises objektiv begrenzende Wert als der Wert der für ihre Reproduktion erforderlichen Lebensmittel definiert. Und die Unterschreitung dieses Werts durch den Preis, den Lohn, bezahlt der Verkäufer der Ware, der Arbeiter, in letzter Instanz mit dem Zugrundegehen, dem Tod. Der Abfallhaufen, auf dem die wertlos gewordene Ware Arbeitskraft landet, ist wegen der mystischen Personalunion dieser Ware mit ihrem Besitzer das Armengrab auf dem Friedhof. Stünde die durch das Reproduktionserfordernis markierte objektive Grenze ein für allemal fest, wäre sie eine fixe anthropologische Gegebenheit, die Ende des 18. und im Fortgang des 19. Jahrhunderts durch die Industrialisierung hervorgerufene Notlage der arbeitenden Klasse hätte sich in der Tat rasch und unaufhaltsam zuspitzen und die unter den Wert ihrer Arbeitskraft gedrückten Lohnarbeiter vor die kruzifikatorische Wahl zwischen biologischem Tod und sozialer Auflehnung stellen müssen. Was indes dem Expropriations- und Ausbeutungsprozeß dieser Jahrhunderte eine quälende Langwierigkeit verleiht und was ihn zu einer nicht enden wollenden Tortur werden läßt, ist die Tatsache, daß jene objektive Grenze in beträchlichem Maß eine Sache historisch-gesellschaftlicher Konvention und Gewohnheit ist. Was ein Mensch für seinen Lebensunterhalt braucht, wie sich seine Reproduktion qualitativ und quantitativ definiert, hängt in großem Umfang davon ab, was er traditionell zu brauchen gewohnt ist und wie ausgebildet beziehungsweise differenziert nach gesellschaftlicher Übereinkunft seine Bedürfnisse sind. So real deshalb das Gespenst dieser existentiellen Grenze immer wieder auftaucht und so zielstrebig die industrielle Entwicklung ihr immer wieder katabolisch entgegenstürzt, so flexibel erweist sich diese Grenze aber auch und so sehr tendiert sie dazu, sich dem jeweils erreichten faktischen Stand entsprechend weiter nach unten zu verschieben. Und ähnliches wie von den Reproduktionsbedingungen der Arbeitskraft gilt von ihrer arbeitsprozessualen Ausbeutbarkeit: Auch physische Belastbarkeit ist über weite Strecken eine Sache habitueller Normen und kultureller Konventionen, und deshalb stellt sich auch hier der industrielle Entwicklungsprozeß als ein langwieriger Vorgang dar, der darauf hinzielt, die äußerste und nun wirklich unüberschreitbare Grenze physisch-psychischer Beanspruchung herauszuprozessieren.
Aber wie langatmig und mühsam dieser Weg in die Verarmung und Verelendung sich empirisch auch immer darstellen mag, seine Richtung ist jedenfalls eindeutig. Im Verfolg dieser Richtung stellt er die Lohnarbeiter mehr und mehr vor die offenkundige Notwendigkeit, sich gegen die politisch-ökonomischen Bedingungen, die ihn weisen, zur Wehr zu setzen. So wahr der soziale Ruin und biologische Tod tendenziell der ganzen, die Industrialisierung tragenden, proletarischen Klasse das ist, was diese als kapitalistische Industrialisierung unter der Ägide des bürgerlichen Staats firmierenden Bedingungen als sich erkennbar abzeichnende letzte Konsequenz zeitigen, so wahr ist für diese Klasse der ökonomische Widerstand gegen die kapitale Macht und die politische Auflehnung gegen den bürgerlichen Staat keine Frage einer bloßen Willensentscheidung, sondern Sache schierer Überlebensnotwendigkeit.
Genau dieses existentielle Muß kommt nun als quantitativ-dynamischer Beweggrund zum qualitativ-funktionellen Bestimmungsmoment hinzu und bewirkt, daß sozialpsychologische Ersatzleistungen wie die um die Figur des Finanzjuden zentrierte aus dem Handlungsrepertoire des Proletariers der zweiten Hälfte des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts definitiv ausgeschlossen sind. Nicht also nur qualitativ deshalb, weil der in einen bürgerlichen Kapitalagenten verwandelte Staat für die arbeitende Klasse allen Anschein einer im Kampf gegen das ausbeuterische Kapitalprinzip appellations- oder bündnisfähigen dritten Macht oder eigenständigen Instanz verloren hat, sondern auch und zugleich quantitativ deshalb, weil der politisch-soziale Kampf gegen das auf dem Boden "seines" Staats frei sich entfaltende Kapitalprinzip zu einem schieren Überlebensgebot für das Proletariat geworden ist, verliert das letztere jede Möglichkeit, sich mit einer bloß sozialpsychologisch wirksamen Abreaktion des ökonomischen Konflikts an der Popanzfigur des zum Hauptstörfaktor hypostasierten, wucherischen Juden zufriedenzugeben. Was den Kleinproduzenten des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit diese Abreaktionsform noch gestattete, war neben der relativen Eigenständigkeit des als feudale Macht perennierenden Staats eben auch und vor allem die Tatsache, daß ihre Klassenlage oder ökonomische Situation bei allem Ausbeutungs- und Deklassierungsdruck, dem das handelskapitale Marktprinzip sie im wie immer massierten Einzelfall bereits aussetzte, im allgemeinen doch aber erträglich und haltbar genug blieb, um ihnen das Ausweichen in soziale Ersatzhandlungen überhaupt zu erlauben. Wo der Existenzdruck für die ganze Klasse so groß wird wie im 19. Jahrhundert, entfällt dieser soziale Spielraum, und es bleibt den bedrängten Lohnarbeitern schon aus reiner Selbsterhaltung gar nichts anderes übrig, als unter Verzicht auf alle nach dem Muster des traditionellen Antisemitismus gestrickten, ersatzbildnerischen Proteste mit der politischen Kreatur ihres ökonomischen Peinigers als solcher den Kampf aufzunehmen.
Für die Juden bedeutet diese veränderte Situation eine markante soziale Entlastung. Weil weder die mit dem Staat als reinem Kapitalagenten konfrontierte proletarische noch die in den Staat als eigene Schöpfung sich werfende bourgeoise Klasse mit der kapitalen Ersatzfigur des Juden noch etwas anfangen kann, finden sich die Juden in West- und Mitteleuropa das erste Mal seit mittelalterlichen Zeiten von ihrer Sündenbock- und Blitzableiterrolle dispensiert und in die verheißungsvolle Unauffälligkeit und Neutralität einer einzig und nur in ihrer Eigenschaft als Religionsgemeinschaft spezifischen gesellschaftlichen Gruppe unter anderen entlassen. Durch einen Staat, der auf ihre sozialstrategische Entfunktionalisierung mit Toleranzedikten reagiert, von den schlimmsten gesellschaftlichen Diskriminierungen, ökonomischen Benachteiligungen und politischen Einschränkungen befreit, sehen sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein normales ziviles Dasein, eine anerkannt staatsbürgerliche Existenz in greifbare Nähe rücken und fangen an, sich ökonomisch und politisch, sozial und kulturell zu emanzipieren. Indes, nur von kurzer Dauer ist diese den west- und mitteleuropäischen Juden vergönnte Atempause, dieser ihnen gewährte Urlaub von der Fron, als Übertragungsobjekt für gesellschaftliche Verschiebungsleistungen herhalten zu müssen, diese ihnen eingeräumte Chance zu einer im Rahmen der gängigen bürgerlichen Subjekt- und Selbstbestimmungsansprüche sich bewegenden, freien gesellschaftlichen Entfaltung. Je mehr es ins 19. Jahrhundert hineingeht, um so klarer tritt der bloße Intermezzo-Charakter dieser Emanzipationsphase zutage, um so deutlicher wird, daß der Antisemitismus aus der Versenkung, in der er etliche Jahrzehnte lang halbwegs verschwunden war, wieder auftaucht, um als sozialstrategischer Mechanismus, als ersatzbildnerische Funktion erneut in Kraft zu treten. Noch kaum recht in ihrem emanzipierten Zustand heimisch geworden, finden sich seit ungefähr der Mitte des 19. Jahrhunderts die Juden abermals als Projektionsebene für soziale Ressentiments in die Pflicht und als Prügelknaben für eine verschobene politische Aggression in Haft genommen. In Kraft gesetzt wird dieser neue Antisemitismus allerdings nicht durch die proletarische Klasse, die enterbten Nachkommen der mittelalterlichen Kleinproduzenten, und auch nicht durch das liberale Bürgertum, die Erben des Dritten Stands unter dem Absolutismus, sondern durch die Instanz, die sich bislang noch gar nicht – oder wenn, dann jedenfalls nicht aus innerer Überzeugung, sondern höchstens und nur aus Opportunismus und taktischem Kalkül – in dieser Hinsicht hervorgetan hat: nämlich den Staat. Der Staat selbst und die ihm institutionell beziehungsweise funktionell am stärksten verbundenen Gruppen: Beamte, Lehrer, Ideologen, Militärs sind es, die den neuen Antisemitismus aus der Taufe heben und die Figur des den gesellschaftlichen Zusammenhang störenden, dem Gemeinwesen Schaden zufügenden Juden als Projektionsmedium eines verschobenen Protests, einer symptomatischen Denunziation wiederbeleben.
Wogegen aber protestieren der Staat und die staatstragenden Kräfte eigentlich, wem gilt ihre Denunziation? Wer ist es, der sich hinter dem vom Staat und seinen Helfershelfern wiederbelebten Projektionsmedium und Ersatzobjekt Jude diesmal verbirgt? Doch wohl nicht die alten, durch die Figur des Juden traditionell vertretenen und kaschierten Mächte: die ökonomische Macht des mittels Markt sich entfaltenden kapitalen Prinzips und die politische Macht des das kapitale Prinzip gleichermaßen stützenden und nutzenden Staates selbst! Schließlich käme in letzterem Fall der Antisemitismus des Staates einer symptomatischen Anzeige gegen sich höchstpersönlich, seine eigene Existenz gleich, in ersterem Fall hingegen einem verschobenen Aufbegehren gegen seine ökonomische Substanz, sein innerstes Wesen. Das eine ist so unwahrscheinlich wie das andere. Wenn aber nicht dagegen, gegen wen oder was sonst mag sich der an der Figur des Juden ersatzweise artikulierte staatliche Zorn dann richten? Haben wir nicht festgestellt, daß der Staat mit der bürgerlichen Revolution die Fasson einer relativ eigenständigen politischen Institution eingebüßt und sich in eine wesentlich von der gesellschaftlichen Klasse des Kapitals, dem Dritten Stand, getragene und gebildete Instanz, eben in den bürgerlichen Staat, verwandelt hat? Und haben wir nicht der nunmehr staatstragenden bourgeoisen Klasse attestiert, daß sie für politisch-ökonomische Ersatzobjekte wie das um die Figur des Juden zentrierte keine Verwendung mehr hat, eben weil sie die politische Macht, den Staat, jetzt in eigene Regie übernommen hat und deshalb Richtungs- und Verteilungskämpfe als ganz und gar interne Streitigkeiten in der direkten politisch-fraktionellen Auseinandersetzung austragen kann, statt sie als Konflikt mit dem in seiner absolutistischen Fassung noch ebenso eigenmächtigen wie mächtigen Bundesgenossen Staat in indirekte symbolisch-referentielle Ersatzkonfrontationen übersetzen zu müssen? Wenn aber die als Träger des Staats firmierende bürgerliche Klasse keine Verwendung für den Antisemitismus mehr hat, wie und mit welcher Zielrichtung sollte dann der als reiner Funktionär dieser Klasse figurierende bürgerliche Staat noch Verwendung dafür haben können? In der Tat ein unlösbares Rätsel, ein undenkbares Paradox! Unauflöslich rätselhaft jedenfalls, solange wir annehmen, daß wirklich eine bruchlos funktionelle Kontinuität zwischen bürgerlicher Klasse und bürgerlichem Staat besteht! Undenkbar paradox, solange wir unterstellen, daß der als Kapitalagent eingesetzte nachrevolutionäre Staat wirklich nur demonstratives Sprachrohr und effektiv verlängerter Arm der qua bürgerliche Klasse gesellschaftlichen Repräsentanz des Kapitals und weiter nichts ist als das!