Vorwort: Antisemitismus als Krisensymptom der politisch-ökonomischen Geschichte Europas

Der Antisemitismus ist eine historische Dauererscheinung. Er ist es in der allgemeinen Form des Antimonotheismus, mit dem der staatszentrierte Polytheismus des römischen Reichs oder des alten China nicht nur den Juden, sondern ebensosehr auch anderen Ausbildungen des gesetzesorientierten Glaubens an einen überstaatlich universellen Gott begegnet. Und er ist es in der besonderen Fassung des gegen die jüdische Glaubensgemeinschaft gerichteten Affekts, mit dem das Christentum oder auch der Islam bekunden, daß sie ihre ambivalente Herkunft aus der jüdischen Religion dieser nicht vergessen und vergeben können. In beiden Fällen ist der Antijudaismus ein Faktum der Religionsgeschichte, das sowohl indirekt dadurch, daß es nolens volens einen historischen Konflikt zwischen den in den jeweiligen Religionen verhandelten Gesellschaftsbegriffen und Vergesellschaftungsweisen ausdrückt, als auch direkt durch die Art, wie es das Verhältnis der Glaubensgemeinschaften zueinander bestimmt und von diesem seinerseits bestimmt wird, als Faktum der sozialen wie der kulturellen, der ökonomischen wie der politischen Geschichte firmiert. Von diesem sozial- und religionsgeschichtlich relevanten Faktum Antijudaismus soll hier aber nicht weiter die Rede sein. Reden wollen wir vielmehr vom Antisemitismus der europäischen Tradition, wie ihn die Judenverfolgungen des Mittelalters und der aufkommenden Neuzeit bezeugen und wie er nach einer die zweite Hälfte des 18. und die erste des 19. Jahrhunderts umfassenden Phase scheinbarer Abschwächung, wo nicht gar Auflösung, zu Beginn der Moderne wiederauflebt und in der systematischen Judenvernichtung durch den deutschen Faschismus im 20. Jahrhundert eine ebenso plötzliche wie entsetzliche Virulenz beweist. Aber kann denn der Antisemitismus vom Antijudaismus einfach so unterschieden werden? Schließt denn der eine den anderen aus? Läßt sich überhaupt der eine zur Sprache bringen, ohne daß der andere zwangsläufig aufs Tapet kommt? Sind denn die europäischen Judenpogrome der letzten acht Jahrhunderte bis hin zu ihrem schrecklichen Kulminationspunkt in der nationalsozialistischen Judenvernichtung etwa keine Frucht des jahrhundertealten Antijudaismus des christlichen Abendlands? Stehen sie nicht in der Tradition des ressentimentgeladenen Verhältnisses der christlichen Kirchen zu der jüdischen Glaubensgemeinschaft? Haben Pogrom und Vernichtung ihre historischen Wurzeln etwa nicht in der durch Diskriminierung und Diffamierung, Aussonderung und Absonderung, Instrumentalisierung und Erpressung gekennzeichneten spannungsreichen Beziehung zuerst der heidnischen und dann mehr noch der christianisierten römischen Welt zu den Juden?

Tatsächlich stehen die Judenverfolgungen im spätmittelalterlichen und neuzeitlichen Europa und die systematische Vernichtung der Juden durch den deutschen Faschismus in keinem motivationalen Kontinuum oder gar konditionalen Zusammenhang mit dem historischen Antijudaismus religiöser und kulturgeschichtlicher Provenienz. Sie resultieren vielmehr aus einem stillschweigenden Bruch damit; oder, genauer gesagt, Pogrome und Massenmord folgen aus der Umfunktionierung des Antijudaismus in ein Artikulationsmittel für soziale Spannungen, die mit dem Verhältnis der betreffenden Gesellschaften zu den Juden unmittelbar nichts zu tun haben. Es ist die zentrale These dieses Essays, daß im markanten Unterschied zum politisch-religiösen Sinn des Antijudaismus historischer Prägung der Antisemitismus europäischer Tradition eine wesentlich politisch-ökonomische Bedeutung hat und, statt wie der erstere Probleme zu thematisieren, die sich auf generelle Unterschiede der historisch-kulturellen Identität und der gesellschaftlich-politischen Perspektive von Nicht-Juden und Juden beziehen, vielmehr Konflikte zum Ausdruck bringt, die ganz und gar in der spezifischen Entwicklung neuer ökonomischer Machtverhältnisse beziehungsweise sozialer Klassengegensätze der nicht-jüdischen Gesellschaften selber gründen. Außerdem geht es darum, die fundamentale Veränderung herauszuarbeiten, die die wesentlich politisch-ökonomische Motivation und Konditionierung des europäischen Antisemitismus im 20. Jahrhundert erfährt, um so die von Bürokratie und Wahnsinn gleichermaßen geprägte massenmörderische Wendung zu erklären, die der deutsche Faschismus, der Nationalsozialismus, dem Antisemitismus gibt. Diese tiefgreifende motivationale und konditionale Veränderung, die der Antisemitismus in der gesellschaftlichen Atmosphäre des Faschismus durchmacht, soll gegen den Anschein bruchloser Kontinuität zur Geltung gebracht werden, den diese Atmosphäre selbst zu erzeugen tendiert. Stereotyp und lautstark genug suggerieren die Faschisten selbst und ihre Wegbereiter mit der Begründung, die sie ihrem Antisemitismus geben, eine solch bruchlose Kontinuität. Soweit sie den Juden rassische Andersartigkeit, liberalistische Libertinage, zersetzende Intellektualität und dergleichen mehr vorwerfen, gilt dies zwar nicht. Denn da sind die modernen Antisemiten vergleichsweise "originell" und erheben Anschuldigungen, die in der Vergangenheit so nicht gegen die Juden erhoben wurden, die vielmehr erst gegen Ende des letzten Jahrhunderts und im Zusammenhang mit ihrer sozialen Emanzipation in Gebrauch kommen und deren Zielrichtung und Bedeutung deshalb strikt in der Gegenwart gesucht und aus ihr heraus verstanden werden müssen. Wohl aber scheinen sie auf eine offenkundige und in der Tat jahrhundertealte europäische Kontinuität bauen zu können, wenn sie die Juden beschuldigen, Vertreter eines auf marktwirtschaftlichem Boden gedeihenden Schmarotzertums und Repräsentanten einer in den Mechanismen der Geldwirtschaft gründenden Ausbeutungspraxis zu sein.

Worin unterscheidet sich der den Juden jahrhundertelang gemachte Vorwurf, beutelschneiderische Zinsnehmer und blutsaugerische Wucherer zu sein, von der durch den modernen Faschismus erhobenen Beschuldigung, sie seien Vertreter einer den Gewerbefleiß, die Kraft der Industrie, die gesellschaftliche Arbeit ausbeutenden und ausblutenden parasitären Herrschaft des Handels, Macht des Geldes, privatgesellschaftlichen Verwertung, kurz, sie stünden in einem geradezu manichäisch universalen Konflikt von heroisch "schaffendem" und dämonisch "raffendem" Kapital auf der Seite des letzteren und fungierten als Sachwalter seiner zerstörerischen Interessen? Und die historische Kontinuität scheint dadurch noch an Gewicht zu gewinnen, daß ja auch und gerade im modernen Faschismus diese ökonomischen Beschuldigungen eindeutig das Zentrum der Judenfeindlichkeit bilden und den organisierenden Kern aller antisemitischen Polemik und Agitation darzustellen scheinen, der die übrigen Vorwürfe zu bloßen Zusatzargumenten herunterstuft.

Nun dürfte aus der These, daß der europäische Antisemitismus nicht Problemen entspringt, die die europäischen Gesellschaften mit ihren Juden haben, sondern von Anfang an Ausdrucks- und Projektionsmittel interner Konflikte der betreffenden Gesellschaften selber ist, zumindest so viel auf Anhieb erhellen, daß es nicht darum gehen kann, die Differenz zwischen dem traditionellen europäischen Antisemitismus und der nationalsozialistischen Judenverfolgung in irgendeinem unterschiedlichen Realitätsgehalt der im einen und im anderen Fall gegen die Juden erhobenen ökonomischen Anschuldigungen zu suchen oder gar darin zu sehen, daß sie im einen Fall als relativ wirklichkeitsbezogen, im anderen hingegen als schlechthin irreale Projektion zu gelten hätten. Die Frage nach der empirischen Sachhaltigkeit oder Gegenstandslosigkeit dieser Anschuldigungen kann in den vorliegenden Überlegungen zur Bedeutung und Funktion des Antisemitismus einfach deshalb gar keine Rolle spielen, weil sie entgegen der auf den ersten Blick von ihr ausgehenden Suggestion reflexiver Distanz und aufklärerischer Kritik bei näherem Zusehen vielmehr ganz und gar dem der Reflexion und Aufklärung bedürftigen Phänomen selber angehört und integrierender Bestandteil seines Mechanismus ist. Mit anderen Worten, diese Frage gehört als typisches Symptom zur Pathologie des Antisemitismus selbst und ist als Argumentationsfigur Bestandteil des klassischen Repertoires antisemitischer Selbstbehauptung. Im Zuge dieser Selbstbehauptung des Antisemitismus fällt der Realitätsfrage eine wichtige Aufgabe zu, und entsprechend häufig kommt sie aufs Tapet: die Aufgabe nämlich, dafür zu sorgen, daß sich das antisemitische Verdikt das falschmünzerische Gepräge einer auf Empirie zumindest bezogenen, wo nicht gar auf ihr basierenden Sachäußerung geben kann und nicht in seiner wahren Gestalt des auf Empirie bloß sekundär projizierten und mit Erfahrung bloß akzidentiell assoziierten Symptomausdrucks erkennbar wird. Wann immer sei's der Antisemit selbst, sei's sein zur heimlichen oder unbewußten Kollaboration sich hergebender Gesprächspartner die Frage nach dem faktischen Gehalt und der empirischen Haltbarkeit antisemitischer Urteile aufwerfen, dient dies primär und wesentlich der Verschleierung der für die Urteilsbildung des Antisemitismus insgesamt charakteristischen Vorurteilsstruktur. Sie lenkt von der Tatsache ab, daß antisemitische Urteile per definitionem ihrer Vorurteilsstruktur nicht Reaktionen auf eine äußere, reale Erfahrung sind, sondern Projektionen eines inneren, intentionalen Konflikts, nicht empirisches Produkt eines Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesses, sondern symptomatischer Ausdruck eines Zwiespalts und Widerstands im wahrnehmenden und erkennenden Subjekt selbst.

Selbstverständlich geht dieser intentionale Konflikt, dem der Antisemitismus entspringt, seinerseits auf Erfahrung zurück, und natürlich ist dieser innere Zwiespalt und Widerstand, der in antisemitischen Urteilen seinen Ausdruck findet, Resultat äußerer Empirie. Woher sonst, wenn nicht aus den Problemen und Zwängen, mit denen ihre Außenwelt die Betroffenen konfrontiert, sollte deren intentionaler Konflikt herrühren, woraus sonst ihr innerer Widerstand sich speisen, wenn nicht aus den Dilemmata und Widersprüchen, in die ihre reale Umgebung sie verwickelt. Der entscheidende Punkt aber ist der, daß die widersprüchliche Empirie, der der Antisemitismus entspringt und in der er sein Substrat hat, eine durchaus andere ist als jene, auf die er sich bezieht und die er als seinen Gegenstand behauptet. Der entscheidende Punkt ist, daß sich der Antisemitismus kraft seiner Vorurteilsstruktur einer symptomatischen Verschiebungsleistung verdankt, die an die Stelle der Wirklichkeit, auf die er mit seinen Urteilen primär reagiert, eine Ersatz- und Alibirealität treten läßt, auf die er seine Urteile sekundär projiziert. Der entscheidende Punkt ist, daß der Antisemitismus das Resultat eines regelrechten Objektwechsels darstellt, den das Erfahrungssubjekt unter dem Zwang des intentionalen Konflikts und inneren Zwiespalts, in den die empirische Realität es stürzt, vollzieht, einer Gegenstandsvertauschung, die in eben dem Maß, wie sie dazu dient, jene konfliktträchtige und zwiespalterregende Realität hinter einem Substitut, einer Ersatzwirklichkeit verschwinden zu lassen, diese Ersatzwirklichkeit wiederum auf die Funktion einer reinen Verschleierungsveranstaltung und Deckadresse reduziert.

Daß dem erklärten Objekt und Opfer des Antisemitismus so eine im wesentlichen symptomatische Bedeutung, und das heißt die Rolle einer unter Konfliktdruck und Ambivalenzbedingungen erzeugten Ersatz- und Alibirealität zugesprochen wird, legt es natürlich nahe, Zweifel an der "Reinheit" der von ihm übernommenen Verschleierungs- und Irreführungsfunktion anzumelden. Schließlich ist es das konstitutive Merkmal der Symptombildung und gehört zum Wesen eines jeden Symptoms, daß die Verschiebungs-, Verdichtungs-, Entstellungs-, kurz, Substitutionsleistung, die es verkörpert, nur zustandekommen kann, weil zwischen Substituiertem und Substitut, weil zwischen der Sache selbst und dem, was an ihre Stelle tritt, irgendeine Form von Kontiguität, Affinität, Ähnlichkeit oder Interrelation existiert. Muß also nicht, wenn das Objekt des Antisemitismus im wesentlichen als ein Symptom beschrieben wird, wie in allen anderen Symptombildungsfällen ein die Verschleierungsabsicht zugleich Lügen strafender innerer Zusammenhang, eine die Alibifunktion ebensosehr kompromittierende heimliche Komplizenschaft zwischen Substituiertem und Substitut aufspürbar sein? Muß nicht auch hier wie in allen anderen derartigen Fällen das Substitut Merkmale und Bestimmungen aufweisen, die zureichende Gründe für seine substitutive Funktion, will heißen kriterielle Bedingungen für seine spezifische Eignung bilden, ein wirksames Quidproquo für jene andere Realität abzugeben, die wegen ihrer konfliktträchtigen Widersprüchlichkeit oder Zwiespalt erregenden Doppeldeutigkeit durch solche Ersetzung eskamotiert werden soll? Wäre das substitutive Objekt als Alibi für die substituierte Realität überhaupt akzeptabel und durchsetzbar, ließe es sich mit ihr überhaupt verwechseln und gegen sie eintauschen, wenn es nicht mit ihr verwandtschaftliche Beziehungen unterhielte und charakteristische Züge und Eigenschaften mit ihr teilte? Und müßten schließlich nicht die Auffindung dieser verwandtschaftlichen Beziehungen und die Ausforschung dieser gemeinsamen Eigenschaften gerade deshalb Priorität beanspruchen, weil dadurch die unverhoffte Möglichkeit sich eröffnete, das Alibi und substitutive Objekt in geradezu paradoxer Verkehrung seiner Funktion zur Identifizierung und Offenlegung eben jener anderen Realität zu nutzen, die es doch eigentlich nur zu kaschieren dient und mit der nach Kräften hinterm Berg zu halten seine unmittelbare und einzige Aufgabe scheint?

Indes, auch in diese zweite Falle, die der Antisemitismus für den Aufklärer bereithält und mit der er die Aufklärung von ihrem forschen Bemühen um das Sein hinter dem Schein abzubringen und in das unendliche Geschäft einer vorgängigen Beantwortung der Frage nach dem Sein des Scheins zu verstricken droht, – auch in diese zweite Falle wollen wir uns zu tappen weigern. Wie die oben abgelehnte Frage nach dem Realitätsgehalt der dem Urteilsgegenstand Jude vom Antisemitismus beigegelegten Prädikate, so gehört auch die jetzt abzuweisende Forschungsrichtung, bei der es nurmehr darum geht, welche empirischen Eigenschaften des Urteilsgegenstands Jude es dem Antisemitismus erlauben, ihm Prädikate beizulegen, die sich eigentlich gar nicht auf ihn, sondern auf ein anderes, hinter dem Pseudos Jude bloß verstecktes Urteilsobjekt beziehen, durchaus zum klassischen Repertoire des Antisemitismus, zu dem für seine Selbstbehauptung und –verteidigung typischen Instrumentarium. Bildet die erste Fragestellung gewissermaßen die vorgeschobene Verteidigungsstellung, die der Antisemitismus so lange einnimmt, wie er noch hoffen kann, von der Tatsache jener anderen, durch ihn vertuschten Realität, mithin von seiner eigenen Existenz als kapitaler Symptomproduzent abzulenken und sich den Anschein einer empiriebezogen-realistischen Attitüde zu erhalten, so repräsentiert die neue Forschungsrichtung eine Art Rückzugsstellung, eine Auffangbastion, auf die der Antisemitismus dann verfällt, wenn der ebenso substitutive wie projektive Charakter seiner Objektbeziehung gar zu deutlich und allzu unabweisbar wird. Um in dieser Situation an seiner Alibirealität festhalten und dem als Konkurs all seiner Vorurteile drohenden Offenbarungseid sich entziehen zu können, verfällt der Antisemitismus auf den aus der Psychopathologie als letzte Widerstandshandlung sattsam bekannten Ausweg, die drohende Wahrheit und Wirklichkeit als rücksichtsvoll schiere Selbstaufklärungsfunktion des Falschen und als bloß dem Alibi um seiner Ortung willen zur Verfügung sich stellendes Selbstfindungsmittel mißzuverstehen, statt sie als gegen das Falsche und gegen das Alibi rücksichtslos geltend zu machendes eigenständiges Sein wahrzunehmen. Der Anspruch auf Erkenntnis des Wahren im Falschen wird zum Vorwand, die Konfrontation mit der Wahrheit selbst zu vermeiden. Die unendliche Analyse des Scheins, der den Blick aufs Sein verstellt, wird zum Mittel, dem Sein als solchem ebenso reell die Spitze abzubrechen wie formell die Stange zu halten. Es gibt keinen Grund, diesem den Aufklärungsprozeß in eine Widerstandshandlung umfunktionierenden beziehungsweise die Analyseform zur Wiederholungsfigur pervertierenden Verfahren Folge zu leisten. Wir hätten diesen Grund nur, wenn wir selber an der Pathologie des Antisemitismus partizipierten, wenn sein Verschiebungs- und Substitutionsinteresse offen oder insgeheim auch das unsere wäre. Wir könnten diesen Grund höchstens noch dann reklamieren, wenn wir die praktische Absicht hegten, dem einen oder anderen Antisemiten den analytischen Prozeß zu machen, und uns zu diesem Zwecke bereitfänden, als Arzt den Patienten auf das Terrain seiner spezifischen Symptombildungsaktivitäten zu begleiten – auch wenn solch praktisch-therapeutisches Aufklärungsansinnen seitens des selbsternannten Arztes prinzipiell immer im selben Verdacht einer im Schafspelz des Wahrheitsinteresses einherwandelnden wölfischen Falschmünzerei stünde wie die rationalisierenden Selbstaufklärungsansprüche des Patienten.

Uns leitet kein den Antisemiten als Subjekt betreffendes praktisches Aufklärungsbedürfnis; das einzige, was uns bestimmt, ist vielmehr ein auf das Objekt des Antisemitismus zielendes Erkenntnisinteresse. Wir wollen nicht die Symptombildungsmechanismen, mittels deren der Antisemitismus seine Krankheit zu "heilen" versucht, in Augenschein nehmen, wir wollen die Krankheit, auf die er mit seinen mißglückten Therapieversuchen reagiert, als solche kennenlernen. Wir wollen nicht den projektiven Ausdruck analysieren, den der Antisemitismus seinen Konflikten und Ambivalenzen verleiht, wir wollen den objektiven Grund realisieren, den diese Konflikte und Ambivalenzen haben. Eben deshalb aber wollen wir uns auch nicht damit aufhalten, den in historischen Kontiguitäten, thematischen Affinitäten, systematischen Ähnlichkeiten oder empirischen Interrelationen, kurz, in den vielen Akzidentialitäten des Geschichtsprozesses bestehenden schlechten Gründen nachzuspüren, die der Antisemitismus für die Wahl seines Ersatzobjekts haben mag, sondern wir wollen uns stracks der Beschäftigung mit dem historisch-empirisch wirklichen Gegenstand zuwenden, den sein – aus welchen Gründen auch immer gewähltes – Ersatzobjekt zu substituieren dient

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