6. Der deutsche Musterstaat: Antisemitismus als Staatsräson
Auf ebenso charakteristische wie seltsame Weise vereinigt die deutsche Staatsmacht so in der exemplarischen Gestalt des preußischen Staatswesens beide Funktionen in einer Person: die eines politischen Vertreters und Sachwalters des auf industrielle Verwertung dringenden Kapitals und die eines Repräsentanten und Fürsprechers der gesamtgesellschaftlichen Vorbehalte gegen eine ungehemmmte Durchsetzung des kapitalen Interesses und der solidargemeinschaftlichen Rücksichten auf die realen Überlebensansprüche und die sozialen Minimalbedürfnisse der vom Kapital heimgesuchten unteren Klassen. Auf unverwechselbare Weise macht dieser Staat sich den in der gesellschaftlichen Realität noch weitgehend unentwickelten industriebürgerlichen Standpunkt zu eigen, verleibt sich die bürgerliche Klasse quasi als eine seinen eigenen politischen Umgang mit dem Kapital bestimmende apriorische Kategorie ein und trägt jenen strategischen Konflikt zwischen uneingeschränkter Entwicklung und restringierender Steuerung, zwischen schrankenloser Ausbeutung und sozialgesetzgeberischer Reserve, kurz, zwischen bürgerlich antagonistischer Klassengesellschaft und überbürgerlich integrativem starkem Staat in statu proprio, im Rahmen und auf dem Boden der staatlichen Institution als solcher aus. Jenen Widerstreit zwischen dem kurzfristigen, klassenkampfträchtigen Profitmaximierungs- und dem langfristigen sozialkontraktiven Ausbeutungsinteresse des Kapitals, den in den fortgeschrittenen westeuropäischen Ländern die beiden voneinander relativ unabhängigen gesellschaftlichen Mächte des liberalen Bürgertums einerseits und des sei's konservativ legitimistischen, sei's imperativ-populistischen Staatswesens andererseits zu bewältigen suchen, entwickelt in der zurückgebliebenen mitteleuropäischen Gesellschaft das Staatswesen selbst als den schöpferischen Gegensatz zweier Seelen in einer Brust, als die in der apperzeptionellen Einheit, in der sie sich entfaltet, fruchtbare Dialektik zwischen ihm selbst und dem von ihm internalisierten, zur wesentlich eigenen Bestimmung integrierten politischen Kontrahenten.Daß der in petto des preußischen sich formierende deutsche Staat in Abwesenheit eines ernstzunehmenden liberalbürgerlichen Kontrahenten dessen in der gesellschaftlichen Durchsetzung der industriekapitalistischen Entwicklung bestehenden politischen Auftrag höchstpersönlich übernimmt und im kontraktiven Widerstreit mit sich selbst zur Geltung bringt, dies allerdings bestimmt in dem Maß, wie die staatlichen Bemühungen um die kapitalistische Industrialisierung Erfolg haben und wie in der Konsequenz des Industrialisierungserfolgs auch und nicht zuletzt der säumige liberalbürgerliche Kontrahent endlich auf den Plan tritt, das Verhältnis des Staats zum Bürgertum. Es bestimmt, genauer gesagt, sein Miß- und vielmehr Nicht-Verhältnis zu letzterem derart, daß der so mit der kapitalen Perspektive kurzgeschlossene Staat mit der im Gefolge seiner industriekapitalistischen "Entwicklungspolitik" sich einstellenden industriebürgerlichen Klasse weder etwas anfangen noch überhaupt als mit einer eigenständigen gesellschaftlichen Kraft sich abfinden kann. Weil der politische Wille und das bürokratische Handeln des deutschen Staates jenes liberalbürgerliche Klasseninteresse, dessen Wahrnehmung in den westeuropäischen Staaten Sache einer eigenen gesellschaftspolitischen Formation, eben des industriekapitalgezeugten, liberalen Bürgertums ist, in eigener Regie vertritt und als regelrecht staatliches Anliegen, als eine förmliche Haupt- und Staatsaktion je schon geltend macht, kann sich dem Staat nun, da dies industriekapitalgezeugte Bürgertum im unwillkürlichen Resultat der staatlichen Aktivitäten die Szene betritt und vom industriekapitalistischen Fortschritt in Deutschland, mithin von der "Normalisierung" der bürgerlichen Gesellschaft im Land und von ihrer Annäherung an den westeuropäischen Standard, Zeugnis ablegt, der Auftritt dieser Klasse eigentlich nur als eines präsentieren, nämlich als eine ebenso unnötige wie unliebsame Komplikation oder Störung des in seinem transzendentalen Rahmen gefundenen und entfalteten Fortschrittsmodells. Jene als Spontangeburt der industriekapitalistischen Entwicklung in Erscheinung tretende liberalbürgerliche Klasse muß ihm in der Tat weniger als Kontrahent denn als Konkurrent aufstoßen, – als Kontrahent nämlich nicht im westeuropäischen Verstand eines mit anderer ökonomischer Intention und anderer politischer Funktion agierenden gesellschaftlichen Gegenspielers, mit dem es eben deshalb im politischen Raum sich auseinanderzusetzen und abzustimmen, kurz, mit dem es zu kontrahieren gilt, sondern als Kontrahent in der sinnwidrigen Bedeutung einer rivalisierenden Behauptung und konkurrierenden Inanspruchnahme ein und derselben ökonomischen Intention und politischen Funktion, die der Staat bereits selber verfolgt und ausübt. Weil die liberalbürgerlich politische Repräsentanz, die das Industriekapital im Zuge seiner Entwicklung quasi naturwüchsig hervortreibt, der vorbürgerliche Staat selbst bereits aus planmäßig eigenem als eine bürokratisch-artifizielle Instanz antizipatorisch konzipiert und kompensatorisch gesetzt hat, kann diese im Staatsrahmen etablierte bürokratisch-politische Repräsentanz des industriellen Kapitals gar nicht umhin, jene kapitalgesetzte bürgerlich-politische Repräsentanz als einen ebenso überflüssigen wie störenden Konkurrenten zu empfinden. Und dies nicht nur deshalb, weil die politische Funktion, die sie zu erfüllen vermöchte, eben von Staats wegen bereits erfüllt wird, sondern auch und vor allem deshalb, weil diese staatliche Erfüllung der Funktion, das Kapital zu entwickeln, je schon vermittelt erscheint mit jener als eigentliche Aufgabe des Staats firmierenden Rücksicht auf die gesamtgesellschaftliche Repräsentation, eingebunden erscheint in jene als das wahre Soll eines starken Staats fungierende Aufgabe der Konfliktbeschwichtigung und Einheitsstiftung, die, wenn die Kapitalentwicklungsfunktion an jene "natürliche" liberalbürgerliche Kapitalrepräsentanz überginge, ihr gegenüber neu zur Geltung gebracht und in mühsamer gesellschaftspolitischer Auseinandersetzung nach westeuropäischem Muster überhaupt erst mit ihr kontrahiert werden müßte. So gewiß die industriekapitalistische Prokura in der staatlich-bürokratischen Form, in der das preußisch-deutsche Staatswesen sie wahrnimmt, je schon im transzendental unverbrüchlichen Bunde und institutionell festen Verein mit der Anerkennung und Wahrung der im Interesse der gesellschaftlichen Einheit unabdingbaren ökonomischen Grundansprüche und sozialen Mindestrücksichten auftritt, so gewiß bedeutete die Abtretung dieser Prokura an die im Gefolge der industriekapitalistischen Entwicklung endlich auch in Deutschland entstehende liberalbürgerliche Klasse eine schlechte Wiederholung westeuropäischer Manchester-Anarchie und brächte einen Rückfall hinter die aus der Not der gesellschaftlichen Verspätung gemachte politische Tugend des deutschen Modells, das heißt einer nach Maßgabe ihrer staatlichen Unterstützung und Steuerung in ebenso relativ geordneten Bahnen wie gemäßigter Form sich entwickelnden industriekapitalistischen Ausbeutungspraxis.
Was Wunder also, daß der Staat sich entschieden weigert, seine bisherige politische Prokuristentätigkeit als eine ebenso geburtshelferische wie statthalterische Übergangsleistung zu begreifen und sich nun, da dank dieser staatlichen Tätigkeit der wahre Prokurist des Kapitals auf der Bildfläche erschienen ist, zurückzuziehen und dem letzteren das Feld zu räumen? Was Wunder, daß er es entschieden ablehnt, jenen naturwüchsig entstandenen liberalbürgerlichen Kapitalrepräsentanten als solchen gewähren und die von ihm klassenspezifisch beanspruchte politische Rolle spielen zu lassen, daß er vielmehr mit aller Macht und Gewalt darauf dringt, daß dieser qua Klasse berufene liberale Kapitalrepräsentant, wenn er denn repräsentativ-politische Funktionen in Ansehung der industriekapitalistischen Entwicklung übernimmt, dies strikt im transzendentalen Rahmen und auf dem intentionalen Boden der politischen Repräsentations- und Organisationsfunktion tut, die der mit dem Kapital kurzgeschlossene Staat wahrnimmt? Wenn er schon nicht verhindern kann, daß das industriekapitalgezeugte, liberale Bürgertum sich als natürlicher politisch-ideologischer Vertreter des Kapitals aufführt, so besteht er doch immerhin darauf, daß diese Vertretung nicht die Züge einer naturwüchsigen, manchesterhaft klassenbestimmten, rücksichtslosen Parteinahme herauskehrt, sondern je schon nach dem Vorbild staatlich-bürokratischer Kapitalrepräsentanz die Fasson einer durch volkswirtschaftliche Verantwortung und gesamtgesellschaftliche Rücksichtnahme modifizierten und spezifizierten "staatsbürgerlichen" Verpflichtung beweist. In der Tat ist dies, daß der industriekapitalentsprossene liberale Bürger, als er zu später Stunde doch noch die Bühne betritt, sich sogleich als Staatsbürger in die Pflicht genommen und das heißt, transzendental-bürokratisch vereinnahmt und integriert findet, das auszeichnende Charakteristikum der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich formierenden preußisch-deutschen Gesellschaft und ihres Staatswesens. Von den Rechts- bis zu den Linksliberalen, von Ludwig Feuerbach und Ferdinand Freiligrath bis zu Theodor Mommsen und Gustav Freytag sind die Ideologen des avancierenden Kapitals in Deutschland, die als gesellschaftlicher Anhang der kapitalistischen Industrie wohlverstandenen Bürger, ab ovo ihres Hervorgehens aus der industriellen Entwicklung staatlich verfaßte, unter die Kuratel einer staatlich-transzendentalen Reflexion und Steuerung der Gesamtentwicklung gestellte Bürger – was unter anderem darin sich ausdrückt, daß sie im Normalfall dazu tendieren, die politische Überwachung und ideologische Kommentierung der ökonomischen Entwicklung und Kapitalisierung der Staatsbürokratie zu überlassen und die Wahrnehmung ihres politischen Auftrags auf die Beschäftigung mit den "Reflexen und Echos" dieser Entwicklung im gesellschaftlichen Überbau und kulturellen Leben, in Religion, Recht, politisch-anthropologischer Theorie und vor allem in der Kunst zu beschränken.
Nach dem als coincidentia oppositorum konzipierten deutschen Modell eines im Wesen des Staats selber kodifizierten kontraktiven Zugleich von starkem Staat und bürgerlicher Gesellschaft bleibt die naturwüchsig kapitalentsprungene und nur als rein fraktioneller Interessenverband dieses ihres ökonomischen Fundaments sich verstehende bürgerliche Klasse a priori aus dem staatlich verfaßten Gesamtcorpus der Gesellschaft ausgeschlossen und findet sich vielmehr, positiv ausgedrückt, je schon kategorisch hereingenommen und eingebunden in die Perspektive jener das kapitale Ausbeutungsinteresse in transzendentaler Einheit mit der Rücksicht auf die Belange der Gesamtgesellschaft wahrnehmenden zentralen politisch-bürokratischen Kapitalagentur, als die der Staat selbst firmiert. Insofern der liberale Bürger indes als das hauseigene soziale Geschöpf des Industriekapitals, als das naturwüchsige politische Subjekt dieser Art Kapitalisierung fortlaufend durch den industriellen Verwertungsprozeß neu erzeugt und vielmehr gesetzt wird, bleibt er als naturwüchsiges Produkt eine ständige latente Herausforderung und virtuelle Konkurrenz für jenen als Agent und Promotor der Industrialisierung mit dem Kapital kurzgeschlossenen Staat, und deshalb bleibt seine Verwandlung in den Staatsbürger, seine Integration in die Perspektive einer das Klasseninteresse mit staatlichen Gesichtspunkten a priori vermittelnden Kapitalakkumulation eine ständige Aufgabe und immer neu zu bewältigende Notwendigkeit. Der Frieden, den der als künstlicher politischer Repräsentant des Kapitals fungierende Staat mit dem als Staatsbürger in die staatlichen Reihen aufgenommenen und der Staatsraison unterworfenen liberalen Bürger schließt, gewinnt seine Macht und Verbindlichkeit auf dem Hintergrund der ewigen Feindschaft, die er dem letzteren in dessen außer-staatsbürgerlicher Eigenschaft, in seiner Eigenschaft als natürlicher politischer Repräsentant des Kapitals schwört. So gesehen bleibt das Verhältnis des preußisch-deutschen Staats zur bürgerlichen Klasse ambivalent: In eben dem Maß, wie er sie als staatstragende Klasse, als Zivilstand des staatlich verfaßten Gesellschaftscorpus reklamiert, integriert und affirmiert, in eben dem Maß refutiert, exkommuniziert und negiert er sie in ihrer unmittelbaren Existenz als kapitalentsprungene und ökonomiebestimmte Interessengruppe. In einem permanenten Scheideprozeß trennt er das als sozialer Realis in den Gesellschaftsvertrag hereingenommene bürgerliche Staatssubjekt von dem als asozialer Potentialis aus diesem Gesellschaftsvertrag ausgeschlossenen bürgerlichen Klassensubjekt. Während er den liberalen Bürger als den von quasibürokratischem Pflichtbewußtsein getragenen und von quasiministerialem Verantwortungsgefühl erfüllten, vaterländisch-gemeinsinnigen Vertreter einer staatlich gesteuerten Kapitalentwicklung, als Staatsbürger, konstituiert, absolviert er ihn in actu seiner Konstitution von sich als einer naturwüchsigen Kreatur des Kapitals, einem unmittelbar kapitalentsprungenen Parteigänger der industriekapitalistischen Entwicklung, der die letztere kraft eines mit aller staatlichen Perspektive unvermittelten und nicht weniger privativ partikularen als originär politischen Klasseninteresses anstrebt und betreibt. Er absolviert ihn von sich als von einem alten Adam, einem kreatürlichen Wechselbalg, einem Alter ego, von dem im Augenblick der Absolution auch schon kein Gedächtnis mehr existieren und keine Rede mehr sein, von dem grundlegend abstrahiert werden soll. In eben dem Maß, wie der deutsche Staat beim deutschen Bürger in einem förmlichen Konversionsakt an die Stelle eines naturwüchsig liberalistischen Seins jenes definitorisch staatsbürgerliche Soll treten läßt, verwandelt er letzteres in das wahres Sein des Bürgers. Sein ursprünglich liberalistisches Sein hat sich im Vergleich mit diesem als wahres Sein durchgesetzten Sollen zur Unkenntlichkeit einer überhaupt fremden Existenz entstellt und erscheint in der Irrelevanz einer toto coelo anderen Modalität. Oder erscheint vielmehr nicht, sondern droht zu verschwinden: als ein Sein, das durch die quasi apriorische, konversionsartige Identifizierung des Bürgers als Staatsbürgers regelrecht zu seinem Nicht-Sein erklärt wird, geht es ihn nichts mehr an und entgleitet ihm in die Indifferenz eines um jedes Moment einer möglichen Identität mit ihm gebrachten, sichselbstgleich bloßen anderen.
Das aber kann das Interesse des Staats nicht sein. Denn während er den liberalen Bürger einerseits auf konversionsartig unendliche Distanz zu seiner kapitalentsprungen kreatürlichen Unmittelbarkeit gehen und sich als staatsbürgerliches Absolutum konstituieren läßt, muß er ihm doch aber auch andererseits diese kreatürliche Unmittelbarkeit als Menetekel zu erhalten und nämlich als dasjenige vor Augen zu führen bestrebt sein, wozu er die gewonnene Distanz unter allen Umständen wahren, womit er sich um keinen Preis gemein machen und wovor er sich auf jeden Fall hüten soll. Weil jenes liberalbürgerliche Sein, von dem der deutsche Staat den deutschen Bürger im staatsbürgerlichen Konversionsakt absolviert, eine in kapitalspezifischer Kreatürlichkeit ständig neu durch die Industrialisierung heraufbeschworene soziale Realität und kategoriale Gefahr ist, hat der Staat ein Interesse daran, seinen Bürgern diese reale Gefahr unbeschadet aller Absolution von und Errettung aus ihr als Gefahr vor Augen zu halten und als Menetekel an die Wand zu malen. Das hiermit manifeste und, systematisch betrachtet, eigentlich unlösbare Dilemma eines Zugleich von Konversion und Rückbeziehung, absoluter Abstraktion und relativem Gewahrsam, reiner Identität und bestimmter Differenz löst der Staat auf die empirisch gebräuchliche Weise: dadurch nämlich, daß er dem Bürger jenes liberalistische Alter ego, das er selber nicht mehr sein kann, weil er es als Staatsbürger unwiderruflich abgelegt hat und von ihm im politisch-ideologischen Konversionsakt ein für allemal absolviert ist, in Gestalt eines Stellvertreters, eines sozialen Ersatzsubjekts vor Augen treten läßt. Was der deutsche Staatsbürger selbst partout nicht mehr sein darf und kann, was er aber als das drohende Anderssein seiner selbst zugleich im Blick behalten soll, führt ihm der Staat in substitutiver Form, nämlich dergestalt vor, daß eine andere Existenz dazu herhalten muß, ihm sein ausgeschlossenes altes Sein platzhalterisch als ihr neues Wesen zu präsentieren und anschaulich zu machen.
So gebräuchlich das vom Staat angewandte substitutive Verfahren als solches ist, so gang und gäbe ist auch das Substitut, das dabei Verwendung findet: Einmal mehr sind es die Juden, die als Platzhalter gebraucht und in Dienst genommen werden. Sie, die eben erst aus ihrer jahrhundertelangen Stellvertreterfunktion Entlassenen und in die gesellschaftliche Emanzipation Geschickten, will heißen in eine Verbürgerlichung sans phrase, eine Normalisierung ohne Hintersinn und Symbolwert Freigegebenen, finden sich, noch ehe sie ihrer neugewonnenen Freiheit recht haben froh werden können, jäh schon wieder in Haft oder vielmehr aufs Korn genommen und stellvertretend für jene liberalbürgerliche Klassengesellschaft attackiert, deren Karriere sie ihre desymbolisierende Freistellung, ihre emanzipatorische Normalisierung verdanken. Aus ihrer Prügelknabenrolle als Burgjude beziehungsweise Hofjude entlassen werden die Juden deshalb, weil die Karriere der liberalbürgerlichen Zweiklassengesellschaft eine solche Stärkung der politisch-ökonomischen Macht des Kapitals und dessen gesellschaftlicher Klientel bedeutet und weil sie mit einer derartigen Klärung und Vereinheitlichung der sozialen Fronten und ihres Kräfteverhältnisses einhergeht, daß für eine dritte, relativ eigenständige gesellschaftliche Macht, den als feudale Herrschaft oder als absolutistischer Souverän sich behauptenden traditionellen Staat, und für die dieser Macht in der Vergangenheit abverlangte, sei's marktbezogene militärische Schutz-, sei's kapitalspezifische merkantilistische Stützfunktion weder Platz noch Bedarf mehr zu sein scheint: Weder ist – wie im Mittelalter – der als originär militärischer Ordnungsfaktor vorausgesetzte feudale Herrensitz nötig, um dem schwachen Pflänzchen Markt und seinem neuen, die gesellschaftliche Reproduktion vermittelnden Wertbildungsprinzip vor dem Zorn der durch dieses Prinzip expropriierten Kleinproduzenten Schutz zu gewähren und den Bestand zu garantieren, noch ist – wie in der beginnenden Neuzeit – der als überkommener politischer Machtfaktor festgehaltene absolutistische Fürstenhof erforderlich, um der Fortentwicklung und Totalisierung des marktentsprungenen, zirkulativen Handelskapitals zum arbeitsgeschöpften produktiven Industriekapital gegen den Widerstand, mit dem die traditionelle Sozial-, Gewerbe- und Arbeitsverfassung dieser Entwicklung begegnet, Sukkurs zu leisten und zur Durchsetzung zu verhelfen. Und weder kann deshalb so etwas wie im Mittelalter passieren, wo die Ausgebeuteten sich durch die Existenz einer solch feudalherrlich dritten Macht und durch die Mischung aus Furcht und Hoffnung, die sie ihnen einflößt, verführt finden, ihren Protest gegen das unter dem Schutz dieser Macht stehende neue ökonomische Prinzip gegen ein Substitut, eine Ersatzfigur wie die des wucherisch-schatzbildnerischen Burgjuden zu richten, noch kann es zu einer Situation wie im Absolutismus kommen, wo die qua Bürgertum entstandene gesellschaftliche Repräsentanz des Kapitals sich durch die Fortexistenz einer solch fürstenherrschaftlich dritten Macht und durch die ihr für die Kapitalentwicklung zufallende geburtshelferische Rolle veranlaßt sieht, ihren Unmut wegen der gleichzeitigen Neigung des Fürsten zum repräsentativen Mißbrauch des entwickelten Kapitals, statt gegen diesen selbst vielmehr gegen ein als ökonomisches Faktotum des Hofs, als Fürstenknecht, vorgestelltes bürgerliches Vexierbild, kurz, gegen die Ersatzfigur des raffgierig-prunksüchtigen Hofjuden, zu kehren. Weil die gesellschaftliche Repräsentanz, die das zum Kapital fortschreitende neue Marktprinzip sich geschaffen hat, mittlerweile jene dem Gewicht ihrer ökonomischen Substanz entsprechende politische Dominanz gewonnen hat, die sie in der Französischen Revolution hervorkehrt, scheint der Staat in der damit gegebenen antagonistischen Klassengesellschaft, wenn überhaupt, dann nur noch als Veranstaltung dieser gesellschaftlichen Repräsentanz des Kapitals, mithin als politischer Funktionär und Erfüllungsgehilfe des letzteren, kurz, als bürgerlicher Staat vorstellbar, und daher haben weder die mit dem Staat als einer Veranstaltung des Klassengegners konfrontierten arbeitenden Klassen, noch das im Staat einzig und allein sich selber anschauende Bürgertum mehr Anlaß oder auch nur Gelegenheit, ihre Auseinandersetzungen mit der Staatsinstanz auf den antisemitischen Ersatzschauplatz zu verlagern und an der stellvertretenden Figur der Juden auszutragen.
Aber eben diese gesellschaftliche Karriere des Bürgertums als der originären politischen Repräsentanz des Kapitals, die die Juden aus der Sündenbockrolle befreit und gesellschaftlich emanzipiert, ist es nun auch, die den Staat als dritte Macht wieder auf den Plan ruft. Angesichts des sprengkräftig klassenkämpferischen, bürgerkriegsträchtigen Konfliktkurses, den die zur politischen Macht gelangte bürgerliche Klasse in der durch sie bestimmten antagonistischen Gesellschaft zu steuern verspricht, zieht es der Erzeuger, Erhalter und Auftraggeber jener Klasse, das in hypostatisch eigener Person agierende industrielle Kapital, kraft des strategischen Weitblicks und pervers universalen Verstands, den der in ihm hypostasierte Wille der ausgebeuteten Klassen ihm verleiht, vor, den traditionellen Staat nichtbürgerlicher Prägung in mehr oder minder novellierter Form wieder ins Spiel zu bringen und gegen den unbedingten und unmittelbaren Machtanspruch der eigenen politischen Repräsentanten mit der Aufgabe einer Vertretung des kapitalen Verwertungsinteresses unter Wahrung gesamtgesellschaftlicher Mindestrücksichten, kurz, mit der Integration aller gesellschaftlicher Gruppen, und das heißt auch und nicht zuletzt der kapitaleigenen Klientel, in den transzendentalen Rahmen einer sozial gemäßigten Ausbeutungsstrategie zu betrauen. Während dabei in den westeuropäischen Ländern dieser als eigenständige Instanz reaffirmierte Staat darauf beschränkt bleibt, jenes als kapitaleigene Klientel empirisch bereits existierende liberale Bürgertum von der direkten politischen Macht fern- und als gesellschaftlichen Machtfaktor in Schach beziehungsweise nach besten staatlichen Kräften unter Kontrolle zu halten, bietet sich ihm im preußischen Einflußbereich, im späteren Deutschland, wegen des dort vorhandenen und unter dem Druck der Nachbarn als akuter Mangel erfahrenen Entwicklungsrückstands die einzigartige Gelegenheit, über solch bloße regulative Funktion oder Kontrolltätigkeit hinaus selber konstutiv zu werden und selber steuernd Einfluß zu nehmen: Statt – wie seine westlichen Nachbarn – gezwungen zu sein, jene industriekapitalistische Entwicklung wie auch die ihr entspringende liberale Bourgeoisie als empirische Voraussetzung, als originär Gegebenes erst einmal a posteriori hinzunehmen, um sie anschließend einer sekundären Bearbeitung und einer externen Überformung durch die Staatsräson zu unterwerfen, kann der preußisch-deutsche Staat jene Empirie in eigener Regie hervorbringen und als eine nach seinem Bilde geformte primäre Gegebenheit a priori planen und setzen. Wie diese dem Staat eröffnete Möglichkeit zur transzendentalen Konstitutions- und kategorialen Bestimmungstätigkeit für die industriekapitalistische Entwicklung selbst den Vorteil einer systematisierten technisch-wissenschaftlichen Innovation und eines organisierten infrastrukturellen Ausbaus bringt, so führt sie im Blick auf das kapitalgezeugte Bürgertum dazu, daß dieses uno actu seines Entstehens und ehe es noch Zeit hat, seines gesellschaftlichen Naturzustands inne zu werden, sich bereits unter die staatliche Kuratel und in die bürokratische Pflicht genommen findet. An die Stelle des durch staatliche Restriktionen und Zuwendungen oberflächlich umformierten, asozial-liberalen Bürgers tritt daher in Deutschland der durch staatliche Instruktion und Zuwendung bis ins Innerste uniformierte sozialverantwortliche Staatsbürger. Jener industriekapitalgezeugte, naturwüchsig bürgerliche Charakter, den der Begriff des Liberalismus umschreibt und der in den westeuropäischen Ländern ein hinter aller politisch-ideologischen Überformung perennierendes empirisches Faktum und gesellschaftliches Substrat bleibt, reduziert sich deshalb in Mitteleuropa auf ein dem konversionshaft konstituierten Staatsbürger projektiv äußerliches Alter ego und vielmehr kontraindikatorisch präsentiertes Vexierbild, ein Menetekel, das der Staat seinem Bürgertum einzig und allein vorhält, um es ex negativo dieses ebenso refraktiv anderen wie projektiv äußerlichen sozialen Seins im Gewahrsam der dem Anschein nach nur um den Preis eines veritablen Gattungssprungs überschreitbaren Grenzen seiner staatsbürgerlichen Identität zu erhalten.
Und in diese Rolle eines Menetekels liberalbürgerlicher Asozialität und Verworfenheit finden sich nun also die Juden, die im Rahmen der liberalbürgerlichen Gesellschaft emanzipierten und zu Bürgern sans phrase normalisierten Ersatzfiguren und Prügelknaben früherer Zeiten, hineingedrängt. Was sie für die Rolle prädestiniert, ist dabei nur sekundär oder nur im Sinne eines zusätzlichen Motivs die Tatsache ihrer Emanzipation durch die liberalbürgerliche Gesellschaft und die daraus resultierende Möglichkeit, in ihnen wesentliche Nutznießer und von daher paradigmatische Repräsentanten der neuen Gesellschaft zu sehen. Was ihnen die Sündenbockrolle einträgt, ist vielmehr einfach nur deren traditionelle Verknüpfung mit ihnen, der Umstand also, daß sie diese Rolle – wenngleich mit anderer und wechselnder Funktionsbestimmung – bereits in früheren Zeiten und in der Tat Jahrhunderte hindurch hatten übernehmen müssen. Aber das Gewohnheitsmäßige, Traditionelle dieser Rekrutierung der Juden für die Sündenbockrolle darf partout nicht über deren funktionelle Neuartigkeit hinwegtäuschen, darf vor allem nicht die ungeheuerliche Tatsache verdecken, daß es die politische Gewalt selbst, die Staatsmacht höchstpersönlich ist, die den Juden jetzt ihre Rolle verschreibt, die also den Antisemitismus in seiner novellierten Form propagiert und übt. Der als quasi heterogene Instanz rehabilitierte, als relativ eigenständige Macht retablierte Staat und sein engeres Personal, die Junker, Staatspapierrentiers, höheren Verwaltungsbeamten, Gerichtsassessoren, Gymnasiallehrer und Universitätsprofessoren – sie sind es, die im 19. Jahrhundert die Juden aus allen Emanzipationsträumen herausreißen und erneut ins Schußfeld einer gesellschaftspolitischen Feindbildprojektion rücken. Im Mittelalter waren es die unteren Schichten, die die Figur des Burgjuden als Alibi brauchten, um ihren Widerstand gegen das neue Marktprinzip nicht in eine direkte Auseinandersetzung und vielmehr hoffnungslose Entzweiung mit dem gleichermaßen als Nutznießer und als Protektor dieses neuen Prinzips figurierenden feudalen Staat einmünden zu lassen. Und in der beginnenden Neuzeit war es der Dritte Stand, der als marktgeborene Klientel und gesellschaftliche Repräsentanz des Handelskapitals zunehmend den Staat aus der Nutznießerrolle verdrängte und der sich des Hofjuden bediente, um gegen den unter diesem Pseudonym versteckten absolutistischen Hof als gegen einen lästigen Konkurrenten einerseits vom Leder ziehen zu können, ohne doch andererseits den staatlichen Absolutismus als solchen in Frage zu stellen und dabei die dem Fürsten zufallende merkantilistisch-geburtshelferische Funktion bei der Überführung des Handels- in Manukfaktur- und Industriekapital zu gefährden. Aber nachdem die endgültige Verdrängung des traditionellen Staats aus der Gunst des avancierten Kapitals und seine Ersetzung durch die kapitaleigene gesellschaftliche Klasse, die Bourgeoisie, beziehungsweise seine Reduktion auf einen "die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltenden Ausschuß" (Marx/Engels) bereits zu Anfang des 19. Jahrhunderts revolutionär beschlossene Sache schien, kehrt im Laufe des Jahrhunderts dieser traditionelle Staat als eine relativ klassenüberhobene, relativ gegenüber der bürgerlichen Klasse selbstherrliche Instanz wieder und etabliert sich – jedenfalls in seiner zukunftsträchtigsten, weil aus dem Hinterhalt der größten gesellschaftlichen Zurückgebliebenheit transzendental verwandlungsmächtigsten Form – als eine zentrale Agentur und konstitutive Kraft, die für die industriekapitalistische Entwicklung eine richtungweisende Bedeutung und dirigierende Funktion erlangt. In den kategorialen Rahmen dieses Staates hat sich das kapitalentsprungen liberale Bürgertum als ein nationales Staatsbürgertum zu fügen, um unter Verzicht auf allen gesellschaftssprengend rücksichtslosen Klassenegoismus und Interessenpartikularismus jene vom Kapital als der Substanz des Ganzen und als allgemeinem Entwicklungsprinzip gleichermaßen beherrschte und erfüllte Fasson anzunehmen, die das Ebenbild der als technokratisch-bürokratischer Entwicklungshelfer mit dem Kapital kurzgeschlossenen Staatsmacht selbst ist.
Und im Blick auf dieses Bürgertum, auf diese in die transzendentale Form des Staatsbürgers gepreßte und das heißt, aus einer naturwüchsig klientelhaften, demokratisch-politischen Repräsentanz des Kapitals in dessen organizistisch-funktionärshafte, bürokratisch-technische Intelligenz konvertierte Klasse, bringt jetzt der transzendentale Formierer höchstpersönlich, der Staat, die Juden erneut ins Spiel: als leibhaftiges Menetekel dessen, was der liberale Bürger ist, solange er nicht zum Staatsbürger wird, als abschreckendes Beispiel für die egoistische Existenz und anarchistische Isolation, die ihm blühen, sollte er sich aus der staatlich formierten und organisierten Gemeinschaft klassenmäßig exkommunizieren, um nicht zu sagen artförmig von ihr dissoziieren. Auf den ersten Blick könnte es so scheinen, als seien diese vom Staat selbst lancierte unverhoffte Neuauflage des Antisemitismus und diese staatlicherseits betriebene Wiederauferstehung des Hofjuden des 18. Jahrhunderts im Liberalitätsjuden des 19. Jahrhunderts noch eine einfache Umkehrung des früheren Verhältnisses, eine, wenn man so will, aus der neuen Kräftekonstellation erklärliche simple Retourkutsche. Es könnte also scheinen, als benutze jetzt der Staat den Liberalitätsjuden in genau derselben Funktion und Bedeutung gegen den Bürger, wie im 18. Jahrhundert der Bürger den Hofjuden gegen den Staat benutzte: als Warnung vor dem Versuch, das Eigeninteresse in rücksichtsloser Privation über das Gemeinwohl zu stellen, und als Aufforderung, sich mit allem Tun und Lassen in den Grenzen der zwischen den beteiligten Parteien kontrahierten politisch-ökonomischen Perspektive zu bewegen. Geradeso, wie der Dritte Stand im 18. Jahrhundert den Fürstenstaat mittels des Sündenbocks Hofjude dazu anhielt, seiner geburtshelferisch-merkantilistischen Aufgabe der Entwicklung des manufakturell-industriellen Kapitals nachzukommen, ohne dies unter seinen Fittichen sich entwickelnde Kapital in ein bloßes Instrument höfischer Prachtentfaltung und absolutistischer Machtausübung umzufunktionieren, würde demnach im 19. Jahrhundert umgekehrt der starke Staat das Bürgertum mittels des Prügelknaben Liberalitätsjude dazu antreiben, sich in den staatlich definierten transzendentalen Rahmen einer bürokratisch-technokratisch organisierten integrativen Kapitalakkumulation zu fügen, und davon abschrecken, das Akkumulationsinteresse als reines, ohne Rücksicht auf die Gesamtgesellschaft durchgesetztes privatives Klasseninteresse zu verfolgen.
Indes täuschte eine derart perfekte Parallelisierung über den entscheidenden Unterschied hinweg, der in der historischen Perspektive besteht, die das Handeln in der einen und in der anderen Situation bestimmt. Während der absolutistische Staat, der mittels des Popanz Hofjude zur Räson gebracht werden soll, eine gesellschaftliche Gruppe ist, die als traditioneller Nutznießer des Kapitals früher oder später verurteilt ist, durch die kapitaleigene Klientel, den Dritten Stand, verdrängt und ersetzt zu werden, und die überhaupt nur durch ihre maieutische Funktion beim Übergang vom Handels- zum Industriekapital davor geschützt ist, diesem Schicksal unverzüglich zum Opfer zu fallen, hat das liberale Bürgertum, das mittels des Menetekels Liberalitätsjude zur staatsbürgerlichen Ordnung gerufen wird, ganz und gar nicht die Bestimmung, dem starken Staat irgendwann als Klasse den Platz zu räumen und mithin die Rolle des ökonomisch vom Kapital begünstigten gesellschaftlichen Subjekts an ihn abzutreten. Im Unterschied zur aristokratischen Staatsmacht der Vergangenheit, die ursprünglich die vom neuen Marktprinzip zum Lohn für den politischen Schutz, den sie ihm gewährt, ökonomisch profitierende Schicht darstellt und die deshalb der vom neuen Prinzip als eigene Klientel hervorgebrachte Dritte Stand als seine historische Vorgängerin und systematische Konkurrentin abzulösen und aufzuheben bestrebt sein muß, beansprucht der im 19. Jahrhundert retablierte bürokratische Staatsapparat nicht etwa die Stellung eines realen Konkurrenten dieser mittlerweile als ökonomische Nutznießerin und als politische Repräsentantin des Kapitals profilierten Klasse, sondern ausschließlich die Rolle einer kriteriellen Funktion und transzendentalen Macht, die das als ökonomischer Nutznießer des Kapitals unangefochten fortbestehende Bürgertum bloß politisch domestizieren und orientieren und es mithin nicht ersetzen und beerben, sondern vielmehr ergänzen und vormundschaftlich begleiten soll. Anders als der herrschaftliche Staat der vor- und frühbürgerlichen Vergangenheit ist der starke Staat des 19. Jahrhunderts keine als gesellschaftliche Gruppe opponierende und konkurrierende Kraft, deren Ziel es wäre, dem liberalen Bürgertum als Klientel des akkumulierten Kapitals den Rang abzulaufen, sondern eine als bürokratischer Apparat funktionierende Reglementierungs- und Korrekturinstanz, die allein dem Zweck dient, die Kapitalklientel des liberalen Bürgertums auf den Vordermann einer sozialverantwortlich organisierten Kapitalakkumulation zu bringen. Und dementsprechend ist der in der Figur des Liberalitätsjuden erneut auf den Plan gerufene Antisemitismus keine Kompromißbildung mehr, mit der ein den fürstlichen Staat als Kontrahenten in beiderlei Sinn, nämlich gleichermaßen als Konkurrenten und als Bundesgenossen wahrnehmender Dritter Stand seiner ambivalenten Haltung oder gebrochenen Animosität diesem Staat gegenüber Ausdruck verleiht, sondern vielmehr ein Erziehungsinstrument, mit dessen Hilfe der Staat selbst die ganz und gar nicht ambivalente Absicht verfolgt, das ebensowohl als formaler politischer Repräsentant wie als materialer ökonomischer Nutznießer des Industriekapitals anerkannte Bürgertum in seine staatsbürgerlich definierten Schranken zu weisen und vor dem Rückfall in die kapitale Naturwüchsigkeit einer asozial klassenbewußten Liberalität zu bewahren. Als eine vom Staat selbst ins Spiel gebrachte und gepflegte Attitüde ist der Antisemitismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts mithin nicht mehr Folge einer politischen Ambivalenz, sondern Resultat einer zynischen Strategie, nicht mehr symptomatisch-zweideutiger Ausdruck eines latent aggressiven Konflikts, sondern eindeutig-systematisches Mittel eines manifest restriktiven Verdikts, nicht mehr spontane Auswirkung einer unbewußten Manipulation der eigenen Haltung, sondern planmäßiges Vehikel zur bewußten Steuerung des Verhaltens anderer.