10. Tabubruch: Der Sündenbock als Tugendbold

Dass, um zum Schluss unserer zur tour de force geratenen tour d'horizon noch einmal auf die oben erwähnten deutschen Intellektuellen und ihre gnostische Deutung der gegenwärtigen Welt zurückzukommen – dass diesen eifersüchtigen Hütern des geheimen Wissens von dem der kapitalistisch-demiurgischen Welt entsprungenen terroristisch-diabolischen Widersacher, diesen unermüdlichen Wächtern am schlafenden Vulkan faschistischer Zerstörungswut, die Spezifik des nationalistisch-islamistischen Antisemitismus arabisch-muslimischer Provenienz so völlig entgeht und sie so absolut blind gegenüber all dem sind, was diesen Hass auf die Juden vom nationalsozialistischen Antisemitismus deutscher Erfindung unterscheidet und trennt, mag angesichts der demonstrierten Evidenz der Unterschiede und mit Rücksicht auf die den Intellektuellen eigentlich doch zu attestierenden kritisch-analytischen Fähigkeiten überraschen. Indes, der Grund hierfür liegt in eben jenem von ihnen hingebungsvoll wahrgenommenen antifaschistischen Hüter- und Wächteramt beziehungsweise in der Solidarisierung mit der staatlichen Antiterrorismuskampagne, zu der sie, wie oben geschildert, ihre Wahrnehmung jenes Amtes disponiert und geradezu verführt. Dass sie den deutschen Faschismus als die buchstäblich zu verstehende Ausgeburt des kapitalistischen Systems, die sich gegen ihre eigene Matrix wendet, ausgemacht haben und ihn in der Latenz, in die ihn die Matrix mit Mühe und Not wieder verbannt hat, mit Argusaugen bewachen, ermöglicht ihnen, dem ihre heimliche Hoffnung auf den Bestand und die Haltbarkeit des demiurgisch falschen Weltsystems widerspiegelnden Drang zur Gesundbeterei nachzugeben und im Einklang mit der staatlich-systematischen Ideologieproduktion die dem kapitalistischen System eingeschriebene selbstzerstörerische Dynamik zu verschieben und als die von außen kommende, exotische Destruktivität fanatisierter unedler Wilder zu identifizieren.

Würden die Intellektuellen dieser qua Antiterrorismuskampagne von Staats wegen zelebrierten Verschiebungsleistung ohne Wenn und Aber ihr Placet geben, sie könnten sich selbst nicht mehr in die reflexiv-kritischen Augen schauen. Zu groß und offenkundig ist die Diskrepanz zwischen der militärischen Macht und imperialen Verfügung des kapitalistischen Systems und der anarchistischen Versprengtheit und geheimbündlerischen Diskretheit derer, die als sogenannte Terroristen ihre mörderisch-selbstmörderischen Anschläge auf das System verüben und deren zumeist an der Peripherie des Systems sich verlaufenden und im Wortsinne ihrer Wirkungslosigkeit so zu bezeichnenden Untaten nur die medial verfasste Propagandamaschine der das System tragenden Staaten in das bedrohlich-organisierte Vorgehen und unheilträchtig-planvolle Tun eines "Netzwerks", eines veritablen Gegensystems, umzudichten vermag – zu groß und offenkundig also ist die Diskrepanz zwischen den beiden Gegenspielern des Antiterrorismusszenariums, als dass es sich mit intellektueller Ehrlichkeit irgendwie vertrüge, der Regievorgabe Folge zu leisten und denjenigen, der im Spiel den Terroristen gibt, für voll, sprich, für die ganze Wahrheit der Geschichte, zu nehmen.

Hier bietet sich nun also das Konstrukt der der demiurgischen Welt des Kapitalismus entsprungenen und sie als veritabler Wechselbalg bedrohenden dämonischen Macht des deutschen Faschismus als Hilfskonstruktion an, um dem Antiterrorismusszenarium eine intellektuellen Ansprüchen genügende szenische Perspektive und historische Dimension und also der im Szenarium behaupteten Konstellation zweier, einander wenn schon nicht in der Realität ebenbürtiger, so jedenfalls doch im Prinzip gleichgearteter Gegner Hand und Fuß zu verleihen. Als, wie man will, Erbe oder Wiedergänger, Ableger oder Neuauflage des deutschen Faschismus gewinnt der muslimische Terrorismus in deutschen Intellektuellenaugen jene historische Statur oder prinzipielle Bedeutung, deren er, für sich genommen, ermangelt, und vindiziert so der staatlich-medialen Antiterrorismuskampagne eine Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit, die den Luxus der Partizipation an ihr und ihren falschen Gewissheiten nicht mehr nur schlichten Gemütern und ideologisch Verblendeten vorbehalten sein, sondern eben auch kritischen Geistern und gestandenen Intellektuellen zugänglich werden lässt.

Und bei dieser Hilfskonstruktion, die dem blutzeugenschaftlich-versprengten, zum Amoklauf disponierenden "Selbstreinigungszeremoniell" islamistischer Prägung durch die Assoziation mit dem volksgemeinschaftlich-gesammelten, weltkriegsträchtigen "Kapitalsanierungsprogramm" à la Nationalsozialismus jene prinzipielle Bedrohlichkeit und globale Destruktivität als ernstzunehmenden Charakter, als Persönlichkeit, nachzuweisen sucht, die ihm die staatlich-mediale Antiterrorismuskampagne nur als persona, als lächerliche Fratze überzustülpen vermag – bei dieser Hilfskonstruktion also spielt, wie gesagt, der Antisemitismus die Rolle des Kronzeugen oder wesentlichen Beweismittels. Mangels sonstiger historischer, politisch-ökonomischer und soziokultureller Übereinstimmungen wird die Gemeinsamkeit, die er konstituiert, zum entscheidenden Indiz für nicht nur die chronologische Kontinuität, sondern mehr noch die systematische Identität der beiden gesellschaftlichen Bewegungen deutscher und arabischer beziehungsweise, weniger völkisch gefasst, nationalistisch-nationalsozialistischer und nationalistisch-islamistischer Provenienz. Und ausschließlich als dieses Beweismittel interessiert der Antisemitismus jene Intellektuellen! Was er sonst noch zu bedeuten haben mag, von welchen spezifischen Konflikten und Konfliktbewältigungsversuchen er in seinem jeweiligen Kontext sonst noch Zeugnis ablegen mag, interessiert sie nicht, gilt ihnen als vernachlässigenswertes Beiwerk.

Diese Gleichgültigkeit gegenüber der Spezifik des nationalistisch-islamistischen Antisemitismus der muslimischen Welt gibt dem Ganzen nun allerdings noch eine merkwürdige und fast schon ironisch zu nennende Wendung. Weil hier der Antisemitismus nur gebraucht wird, um die mörderisch-selbstmörderischen Widerstandshandlungen eines sich zunehmend fundamentalistisch verbarrikadierenden Kampfes gegen den Imperialismus eben der faschistischen Kontinuität oder vielmehr Identität zu überführen, die es dann erlaubt, sich der staatlich-medialen Antiterrorismuskampagne anzuschließen und solchen in den Wahnsinn getriebenen Antiimperialismus als barbarischen Angriff auf die zivilisierte Welt und ihre eh schon lädierte Humanität anzuprangern, verliert dieser islamistisch bestimmte Antisemitismus die Bodenhaftung, die er in seiner nationalsozialistischen Fassung noch unmittelbar hat. Dort ist er empirisch fundiert in der jahrhundertealten europäischen Tradition, die der fremden Glaubens- und Lebensgemeinschaft die Rolle des Sündenbocks zuschiebt und sie verantwortlich macht für in der eigenen Gesellschaft schwelende, verdrängte Konflikte. Hier hingegen, im arabisch-muslimischen Raum, fehlt eine solche historische Verankerung des Antisemitismus, die nicht etwa als wirkende Ursache, wohl aber als zureichender Grund seine Inanspruchnahme erklären könnte.

Zwar ist der Antisemitismus hier statt dessen im Konflikt mit dem Staat Israel fundiert und findet darin seinen zureichenden Grund, aber von dieser seiner empirischen Fundierung wollen die Kritischen Theoretiker ja partout nichts wissen, weil sie vom Interesse beherrscht sind, ihn in den Dienst ihres Faschismuskonzepts zu stellen und nämlich als direkte Erscheinungsform des als Faschismus dingfest gemachten aparten, will heißen, der kapitalistischen Welt ebenso sehr entsprungenen wie sie als Widersacher bedrohenden Destruktionsprinzips zu präsentieren. Die vollständige Abstraktion von der dem Antisemitismus nationalistisch-islamistischer Prägung eigenen empirischen Verankerung hat also zur Folge, dass dieser Antisemitismus sich als historisch boden- und grundlos vorstellt, dass er zwar systematisch oder sub specie seiner allgemeinen Vorgehensweise als Funktion der faschistischen, alias terroristischen Destruktionsmacht wohlbegründet erscheint, faktisch aber oder in specie seines besonderen Gegenstands die Züge schierer Willkür und Beliebigkeit hervorkehrt.

Warum, so müssen sich deshalb jene aus aller historischen Bestimmtheit und politischen Konkretion herausgesprungenen, aber doch keineswegs des Bedürfnisses nach Logik und des reflexiven Spürsinns ledigen Kritischen Theoretiker fragen, macht dieser qua Terrorismus auferstandene Faschismus seinen mörderischen Affekt gegen das demiurgisch verfasste kapitalistische System, seine barbarischen Motion gegen die zivilisierte Welt abermals an den Juden fest? Nur um den Beweis für die Kontinuität zu liefern, die ihn mit dem deutschen Faschismus verbindet? Nur um die Duftmarke zu setzen, die ihn als echten Erben und würdigen Nachfolger des deutschen Faschismus ausweist? Schlüpft er dann aber nicht bloß in Kostüme, spielt 18. Brumaire und macht sich einer napoleonischen oder neronischen Lächerlichkeit verdächtig, die ihn als ernstzunehmenden Gegenspieler des demiurgischen Systems diskreditiert? Gibt es denn keinen über den analogisch-systematischen Zugzwang hinausgehenden empirisch-historischen Grund, warum der in den Spuren des deutschen Faschismus wandelnde Terror der Dritten Welt zur Artikulation oder vielmehr Verschiebung seiner Ambivalenzen und Konflikte erneut auf die Juden rekurriert?

Genau dies ist der Punkt, an dem die Kritischen Theoretiker zu böser Letzt sich vergessen, jede kritische Distanz zum Objekt ihrer Reflexion fallen lassen und dessen fatalem, weil projektivem, verdrängt Eigenes auf den Fremden verschiebendem und an ihm ausagierendem Objektivismus selber erliegen. Weil der historisch-empirische Halt, den der deutsche Faschismus für seine Verschiebungsleistung in der europäisch-traditionellen Rolle der Juden als Sündenbock findet, hier, in der muslimischen Welt, nicht gilt und weil der nahöstliche Konflikt, der diesen Halt oder zureichenden Grund statt dessen bietet, die Kritischen Theoretiker nicht interessiert und von ihnen a priori ausgeblendet wird, erliegen sie der Versuchung, den Antisemitismus des in ihren Augen als legitimer Erbe des Faschismus figurierenden nationalistisch-islamistischen Terrorismus im Objekt selbst, das heißt, in den Juden beziehungsweise in deren repräsentativer Gemeinschaft, dem Staat Israel, begründet zu sehen. Sie bemühen sich also um den durch die sozialistischen Filiationen seiner Gründer und die urkommunistischen Experimente seiner Frühzeit substantiierten Nachweis, dass es die relative Distanz des jüdischen Staats zur kapitalistischen Ordnung, seine aus Liberalität und Kommunalität bunt gekreuzte fortschrittliche Stellung und Aufbruchshaltung im demiurgisch geschlossenen System ist, was ihm den besonderen Hass der Erzfeinde der zivilisierten Welt zuzieht. Quasi als Sinnbild der verpassten Chancen der vom Kapitalismus initiierten Entwicklung der Menschheit, als die im Irrealis erscheinende Selbsttranszendenz des kapitalistischen Systems oder, wie es einer der Kritischen Theoretiker formuliert, als Kommunismus im Zustande seiner Unmöglichkeit wird demnach das an den Gestaden des Orients aus der Verfolgung der europäischen Juden hervorgegangene jüdische Gemeinwesen dem zur reinen Destruktivität entmischten faschistischen Antagonisten der kapitalistisch falsch entfalteten Totalität zum vorzüglichen Stein des Anstoßes, zum originären Hassobjekt und primären Anathema.

Mit dieser, die angebliche Kontinuität zwischen dem nationalsozialistischen Antisemitismus und dem Judenhass nationalistisch-islamistischer Provenienz ebenso offenkundig unterminierenden wie den Staat Israel haltlos verklärenden Begründung des derzeitigen Antisemitismus der muslimischen Welt aus der historisch-politischen Beschaffenheit des verhassten Objekts selbst vollziehen nun allerdings die Kritischen Theoretiker eine folgenschwere Wendung und begehen, wenn man so will, einen entscheidenden Tabubruch: Sie verstoßen gegen das Grundprinzip, dass man bei Urteilen und Einstellungen mit Vorurteilsstruktur sich niemals auf eine Diskussion des als die Sache selbst behaupteten unmittelbaren Objekts einlassen, niemals das, wogegen das Vorurteil sich richtet, als originären Gegenstand der Auseinandersetzung gelten lassen darf, weil man damit eben die das Vorurteil als solches konstituierende Verschiebung akzeptiert und sanktioniert, die es doch als solche zu erkennen und zu dekuvrieren gilt. Indem sie durch "Versachlichung" der Auseinandersetzung das Spiel des Antisemitismus mitspielen, ihm die Wahl der Waffen überlassen, auf seinem eigenen Grund und Boden gegen ihn antreten, dem bösen Juden, den er als Popanz, hinter dem sich die wirklichen Konflikte verbergen lassen, hochhält, den guten Juden, der den Popanz aus dem Feld schlagen soll, entgegensetzen, verstricken sie sich in das antisemitische Wahnsystem und verraten zugleich die Opfer des faschistischen Antisemitismus, deren ebenso sinnloses wie hekatombisches Sterben wider den Wahnsinn eines Kapitalismus zeugt, der der sozialen Konflikte, die er hervortreibt, nurmehr durch ebenso mörderische wie gigantische Verschiebungsleistungen und Alibikonstruktionen Herr zu werden vermag.

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