7. Antisemitismus – der entscheidende Beweis für die Kontinuität zwischen nationalsozialistischem Faschismus und islamistischem Terrorismus?

So also gelingt es den Kritischen Theoretikern, dem intellektuell-reflexiven Erfordernis einer Dekuvrierung der von der volonté générale des kapitalistischen Systems erbrachten Verschiebungsleistung zu genügen und dennoch den mit der Verschiebungsleistung intendierten Effekt einer Dispensation des Systems von eben der vernichtenden Potenz und selbstzerstörerischen Dynamik, die in die Exotik verschoben wird, gelten zu lassen und gutzuheißen. Indem der exotische Terror zwar als Ausdruck und Manifestation eines systemeigenen Inneren und Latenten erkannt, dies Innere und Latente aber zugleich als das eines ganz eigenen Systems, eines vom kapitalistischen System vexierbildlich verschiedenen faschistischen Systems identifiziert wird, können die Kritischen Theoretiker das ideologische Angebot der volonté générale akzeptieren und den exotischen Terror als die von der letzteren zu Recht angeprangerte und bekämpfte authentische Äußerung und direkte Manifestation jener als Faschismus dingfest gemachten spezifisch-historischen Destruktionsmacht und systematisch-gesellschaftlichen Vernichtungsveranstaltung wahrnehmen.

So willkommen es den kritischen Theoretikern aber auch sein und so sehr es sie befriedigen mag, den exotischen Terror als positiven Ausdruck und direkte Neuauflage einer im deutschen Nationalsozialismus ein- für allemal zu sich gekommenen faschistischen Destruktivität zur Kenntnis nehmen zu können, statt ihn als von der Destruktivität des kapitalistischen Systems indirekt ausgelöste und im Sinne eines negativen Alibi zur Verschiebung der letzteren genutzte Deckadresse analytisch realisieren zu müssen, die historischen Plausibilisierungsprobleme, die sie sich mit diesem systematischen Husarenstreich einhandeln, sind gewaltig. Gar zu eklatant sind die Diskrepanzen, die sich gleichermaßen in historisch-geographischer, politisch-ökonomischer und zivilisatorisch-ideologischer Hinsicht zwischen dort der vergangenen nationalsozialistischen Bewegung in Deutschland und hier den gegenwärtigen islamistischen Motionen in muslimischen Ländern auftun, als dass die zwischen beiden Phänomenen behauptete Kontinuität ohne weiteres einleuchten könnte und nicht vielmehr jedem nur halbwegs Informierten den Eindruck einer an den Haaren herbeigezogenen und in eigentlich nichts begründeten Konjektur, einer Kreation schieren Wunschdenkens, machen müsste.

Wie lässt sich, historisch-geographisch betrachtet, die Krisenbewältigungsstrategie des Nationalsozialismus, die teils durch den Sonderweg der kapitalistischen Entwicklung in Deutschland bedingt, teils durch die militärisch ausgetragenen Interessenkonflikte und Machtkämpfe zwischen den kapitalistischen Industrienationen provoziert, mithin so oder so durch interne Prozesse der industriekapitalistischen Welt determiniert ist und die mit allen für sie verheerenden Folgen auf dem Boden und im Zentrum dieser Welt realisiert wird – wie lässt sich jene Krisenbewältigungsstrategie des deutschen Faschismus einer Technik des Widerstandskampfes parallelisieren oder gar gleichsetzen, die ein Dreivierteljahrhundert später in weit entfernten Randzonen der industrialisierten Welt, in den gottverlassensten Armenhäusern der Dritten Welt, in Palästina, Libyen, Afghanistan, Somalia oder philippinischen und indonesischen Rückzugsgebieten, ersonnen wird und die so wenig selbsttragend ist, dass sie der finanziellen und logistischen Unterstützung oder Anstiftung sei's durch die in imperialistische Machtspiele verstrickten industriekapitalistischen Länder selbst, sei's durch auf dem Boden jener imperialistischen Machtspiele ins Kraut schießende regionale Rottenführer wie einen Arafat, Ghaddafi, Saddam oder Bin Laden bedarf, um überhaupt praktizierbar zu sein und ein gewisses Maß an Haltbarkeit zu beweisen?

Wenn diese Widerstandstechnik dank besagter finanzieller und logistischer Unterstützung auf die westlichen Industrieländer selbst ausgreift und sich dort in bei all ihrer Symbol- und Schlagzeilenträchtigkeit doch aber ebenso selbstmörderischen wie mörderischen und ebenso konsequenzlosen wie disparaten Einzelaktionen zur Geltung bringt, dann ist das ja Zeichen nicht etwa ihrer Macht und Durchschlagskraft, sondern im Gegenteil ihrer Ohnmacht und Versprengtheit, beweist es nicht etwa, wie allgegenwärtig und weltumspannend systematisch dieser Widerstand sich entfaltet, sondern drückt vielmehr nur aus, wie wenig dieser Widerstand dort, wo es auf ihn ankäme, sich zu entfalten und etwas auszurichten vermag und wie sehr er sich am Ende darauf beschränkt findet, denen, die ihn kraft ihres langen Arms in seinen heimatlichen Regionen effektiv niederschlagen und vereiteln, mit ebenso ziellosen wie blutrünstigen Ausfällen und Amokläufen aufs Dach zu steigen oder besser noch ins Haus zu fallen, es ihnen durch buchstäbliche Verzweiflungstaten und Kamikazeunternehmen wenigstens heimzuzahlen, sich zumindest an ihnen zu rächen.

Wie lässt sich, politisch-ökonomisch gesehen, die Vernichtungskraft einer ganzen Nation, die, auf dem neuesten Stand der technisch-industriellen Entwicklung stehend, ihren ganzen Erfindungsreichtum und ihre gesammelte Produktivkraft in die Schaffung eines zur Unterwerfung der Nachbarstaaten beziehungsweise, wie sie größenwahnsinnig-großmäulig verkündet, der ganzen Welt bestimmten infrastrukturellen Apparats und Waffenarsenals investiert, dem Zerstörungspotenzial verstreuter und als loses Netz organisierter kleiner Verschwörergruppen parallelisieren oder gar gleichsetzen, die nichts weiter im Schilde führen, als mit einem in den westlichen Industriestaaten heimlich zusammengekauften Sammelsurium aus Waffen und Sprengstoffen oder gegebenenfalls auch mit technischer Apparatur jener Staaten, die den Besitzer gar nicht erst wechselt, sondern von den Verschwörern kurzerhand und mit selbstmörderischer Rücksichtslosigkeit in Kriegsgerät umfunktioniert wird, eine berserkerhafte Vergeltung zu üben, die, all ihrer im Einzelfall bewiesenen Blutrünstigkeit zum Trotz, doch nicht mehr darstellt als eine Reihe von Nadelstichen in einen Heuhaufen und die nur die Saturiertheit und der falsche Sicherheitsanspruch von Gesellschaften, die in Frieden leben, weil sie ihre Konflikte andernorts austragen und ihre Verbrechen in gebührender Entfernung begehen, als skandalösen Angriff und existenzielle Bedrohung erscheinen lässt – welche Sichtweise die betreffenden Staaten dann natürlich nutzen, um bei ihrer Bevölkerung den von ihnen aufgerichteten Popanz eines die heimisch-kapitalistische Welt zentral gefährdenden exotisch-barbarischen Terrorismus psychologische Resonanz und emotionale Zustimmung finden zu lassen?

Und wie lässt sich schließlich, zivilisatorisch-ideologisch genommen, die voll entwickelte etatistisch-bürokratische Organisation der nationalsozialistischen Gesellschaft, die sich ein völkisch-archaisierendes Mäntelchen umhängt, um ihre Gleichartigkeit mit der Organisation der umgebenden Industrienationen zu kaschieren und die qualitative Differenz zu simulieren, auf die sie gegenüber den anderen pocht und auf die sie ihren Vormachtanspruch gründet, der tribalistisch-partikularistischen Zusammenhanglosigkeit jener islamistischen Gruppen parallelisieren oder gar gleichsetzen, bei der ursprungsmythische Verkleidung, die sektiererische Berufung auf dogmatische Systematik und kultische Stringenz, die archaisierende Behauptung religiöser Einheit und Geschlossenheit, vielmehr dazu dient, den tatsächlich vollständigen Mangel an staatlicher Ordnung und bürokratischer Verfasstheit zu kompensieren oder, besser gesagt, halluzinatorisch auszublenden?

So offensichtlich inkomparabel sind in jeder nur denkbaren Hinsicht die beiden Erscheinungen des deutschen Faschismus und des islamistischen Fundamentalismus, so gleichermaßen historisch, ökonomisch und ideologisch heterogen und heteronom, dass sich in der Tat die Frage aufdrängen muss, wie die Kritischen Theoretiker überhaupt darauf verfallen können, letzteren als eine Fortsetzung und Manifestation des in seiner ursprünglichen Erscheinungsform stornierten und zur Latenz verurteilten ersteren in Betracht zu ziehen. Eine Gemeinsamkeit und Kontinuität freilich gibt es zwischen beiden, und auf ihr lastet denn auch letztlich das ganze Gewicht, die gesamte Beweislast der aufgestellten und für die Rückführung des exotischen Terrorismus auf den heimischen Faschismus, grundlegenden Behauptung einer nicht weniger funktionslogischen als genealogischen Identität beider: nämlich die mit unübersehbaren Konnotationen pathologisch anmutenden Verfolgungswahns ausgestattete erbitterte Feindseligkeit gegen die Juden, der Antisemitismus.

Keine Frage, dass der Antisemitismus, der gemäß seinem paranoischen Grundcharakter zu Mord und Totschlag disponierende Hass auf alles, was als typisch jüdisch gilt, oder, besser gesagt, die Projektion von allem, was als hassenswert angesehen wird, auf die Angehörigen der jüdischen Glaubensgemeinschaft beziehungsweise in rassistischer Wendung schließlich auf alle, die von Angehörigen der jüdischen Glaubensgemeinschaft abstammen – keine Frage, dass dieser antisemitische Affekt in der Weltsicht beider Bewegungen, des islamistischen Fundamentalismus ebenso wie des deutschen Faschismus, eine zentrale Rolle spielt und für die Anhänger beider Bewegungen eine ihr Menschenbild in genere und ihr Selbstverhältnis in specie ex negativo prägende Funktion erfüllt! Und keine Frage auch, dass zwischen dem Antisemitismus des Faschismus und dem des Islamismus eine Überlieferungsgeschichte existiert, eine alle Bedingungen diffusionistischen Einwirkens erfüllende Traditionslinie! Es braucht nicht erst den vielbemühten Mufti von Jerusalem, um die engen ideologischen Verbindungen zwischen faschistischer und fundamentalistischer Intelligenz und den massiven Einfluss präfaschistischen und nationalsozialistischen "Gedankenguts" auf das "geistige Rüstzeug" der die Feindschaft gegen die Juden zum Passepartout der Projektion und Identifikation erhebenden islamischen Welt im allgemeinen und arabischen Sphäre im besonderen zu gewahren.

Die Geschichte der menschlichen Ideen und Ideologien ist freilich voll von Beispielfällen, in denen phänomenale Traditionen und formale Adaptionen Hand in Hand mit einer inhaltlichen Umorientierung des Tradierten oder einer realen Neubestimmung des Adaptierten gehen, und zwar derart voll davon, dass demgegenüber jene Fälle, in denen die Traditionen und Adaptionen intentionale Identität beziehungsweise funktionale Kontinuität beanspruchen dürfen, als die Ausnahme gelten können und regelrechten Seltenheitswert besitzen. Warum sollte ausgerechnet im vorliegenden Fall der Tradition und Adaption des Antisemitismus des deutschen Faschismus durch den islamistischen Fundamentalismus eine solche Identität und Kontinuität gegeben sein, da doch, wie oben gezeigt, die beiden Bewegungen in wesentlichen Punkten und nämlich gleichermaßen in historisch-geographischer, politisch-ökonomischer und zivilisatorisch-ideologischer Hinsicht derart eklatant divergieren, dass überhaupt jede ideelle Übereinstimmung und jeglicher ideologische Konsens mangels gesellschaftlichen Realfundaments ausgeschlossen scheint? Schauen wir uns also genauer an, was sich hinter der phänomenalen Fassade und der formalen Gleichnamigkeit der beiden Antisemitismen jeweils an intentionaler Besonderheit und funktionaler Verschiedenartigkeit verbirgt.

Was den Antisemitismus des deutschen Faschismus angeht, so können wir im Rückgriff auf frühere Überlegungen1 feststellen, dass er mit allen seinen mörderischen Implikationen eine Ersatzleistung im klassischen Sinne ist, wobei seinem Objekt, den Juden, im ebenso klassischen Sinne die Rolle des stellvertretenden Opfers, des Sündenbocks, zufällt. Dank einer langen, zwar im religiösen Spannungsverhältnis zwischen Christen und Juden wurzelnden, aber im säkularen Prozess der christlichen Gesellschaften selbst begründeten und sich entfaltenden Geschichte ihrer Inanspruchnahme für die Verschiebung und Substitution politisch-ökonomischer, die gesellschaftliche Einheit bedrohender Konflikte finden sich die Juden quasi automatisch in die Rolle des dem Gemeinschaftsgeist widerstreitenden bürgerlichen Liberalen und dem Wohl der Nation schadenden asozialen Egoisten gedrängt, als der hinter der industriekapitalistischen Entwicklung hinterherhinkende und zu einer Aufholjagd unter staatlicher Regie mobil machende deutsche Junkerstaat die bürgerliche Klasse, die Kapitalklientel, an die politische Kandare nimmt und zu staatsbürgerlichem Wohlverhalten, sprich, zur uneingeschränkten Kooperation mit seiner ökonomischen Entwicklungsstrategie, nötigt beziehungsweise als er nach seiner weltkriegs- und wirtschaftskrisenbedingten Verwandlung in den führerkultlichen Volksstaat die bürgerliche Klasse politisch überhaupt entmachtet und ihre sämtlichen ökonomischen Aktivitäten strikter staatlicher Kontrolle unterwirft und in den Dienst seiner Kriegsvorbereitungen stellt.

Ohne zu wissen, wie ihnen geschieht, sehen sich die Juden des mangelnden Patriotismus, der Gesinnungslosigkeit, der Zweifelsucht, der Habgier, der Doppelzüngigkeit, der Amoralität, des Hedonismus, der Libertinage usw. usw. geziehen und damit zur Personifizierung oder vielmehr zum Sammelsurium sämtlicher Eigenschaften gemacht, die der Staat als seinen Strategien beziehungsweise dem Volkswohl, das diese Strategien definieren und dem Volk als sein ureigenstes Anliegen vindizieren, zuwiderlaufende liberalistisch-bürgerliche "Untugenden" brandmarkt. Und ohne zu wissen, wie ihnen geschieht, finden sich die Juden in dem Maße, wie sich unter dem Eindruck der Schwierigkeiten und Hemmnisse, die den staatlichen Strategien begegnen, das mittels Antisemitismus ins Werk gesetzte paradoxe, um der Rettung des Kapitalismus willen antiliberalistische, um der Aufrechterhaltung der bürgerlichen Gesellschaft willen bourgeoisiefeindliche, disziplinarische Kalkül affektiv auflädt und zum irrationalen Ressentiment verschärft, in die Schusslinie staatlicher Ablenkungsmanöver und Abfuhrreaktionen gerückt und immer massiveren Repressalien und tödlicheren Schikanen durch die von Staats wegen organisierte Volksgemeinschaft ausgesetzt.

Wesentliches Charakteristikum dieses Antisemitismus deutscher Prägung ist also, dass die Juden stellvertretendes Opfer sind, dass an ihnen Kalküle und Affekte exekutiert beziehungsweise ausagiert werden, die mit ihnen als Angehörigen der jüdischen Glaubensgemeinschaft beziehungsweise Nachkommen von Angehörigen der Glaubensgemeinschaft schlechterdings nichts zu tun haben, die allein deshalb an ihnen exekutiert beziehungsweise ausagiert werden, weil eine lange europäische Tradition der ihnen aufgehalsten Sündenbockfunktion die Juden für die Stellvertreterrolle prädestiniert sein lässt, und die ausschließlich im Dienste der Verschiebung und Neutralisierung politisch-ökonomischer Konflikte beziehungsweise der Artikulation und Besiegelung ideologisch-sozialer Kompromisse zwischen den Interessengruppen und maßgebenden Organen der bürgerlichen Gesellschaft selbst stehen. Die Juden, die der Antisemitismus des deutschen Junkerstaats und des nationalsozialistischen Volksstaats aufs Korn nimmt, kommen zu ihrer Rolle als Staats- und Volksfeind Nummer Eins, als alles Übel der Welt verschuldender Widersacher, zu jener Rolle, die sie schließlich in die Gaskammern führt, wie der Pontius ins Credo – nichts trifft besser als dieses Brechtsche Bonmot die schreckliche Paradoxie und zynische Diskrepanz zwischen der historischen Zufälligkeit und systematischen Kontingenz der Verwicklung der Juden in das Geschehen und der apokalyptischen Ungeheuerlichkeit und katastrophischen Konsequenz des Geschehens selbst, in das sie sich verwickelt finden.

Ganz so eindeutig und einfach liegen die Dinge beim Antisemitismus des islamistischen Fundamentalismus keineswegs. Und zwar schon deshalb nicht, weil die Juden, die dieser Antisemitismus aufs Korn nimmt und befehdet, eine Stellvertreterfunktion für sich selbst oder in eigener Sache übernehmen müssen. Sie sind nicht, wie beim deutschen Antisemitismus der Fall, Unbeteiligte oder jedenfalls nicht mehr als alle anderen Beteiligte, die in einen sie ebenso wenig betreffenden wie von ihnen verursachten Konflikt hineingezerrt und in ihm unerbittlich instrumentalisiert und erbarmungslos aufgerieben werden, sondern sie sind von Anfang an beteiligt, sind Konfliktpartei.

Ironischerweise sind sie das nicht zuletzt dank der Aktivitäten des anderen, deutschen Antisemitismus. Er nämlich ist es, der durch seine gesellschaftspolitische Wirksamkeit und wachsende Virulenz den in die Gesellschaften, in denen sie leben, mehr oder minder integrierten europäischen Juden im allgemeinen und den deutschen im besonderen den Gedanken nahe legt und die Notwendigkeit eingibt, sich über ihren Zusammenhalt als Religionsgemeinschaft hinaus nach dem Muster der europäischen Nationalidee als Nation, als durch Herkunft, Sprache und Kultur geeintes Staatsvolk, zu definieren und sich in Palästina, dem "Land ihrer Väter", besser gesagt, der Region, in der die Religionsgemeinschaft erst- und letztmalig eine im Kultort des Jerusalemer Tempels ihr Sinnbild behauptende territoriale Präsenz fand, ein Staatsgebiet zu schaffen.

Die anfangs zögerliche Migrationsbewegung erhält durch die Herrschaft des Nationalsozialismus und seine immer offenere und umfassendere Vernichtungspolitik gegenüber den Juden einen gewaltigen Schub, sodass die Zuwanderung jüdischer Siedler nach Palästina in die Hunderttausende geht und es nach heftigen Kämpfen mit den im Land heimischen arabischen Populationen, den Palästinensern, sowie mit der britischen Protektoratsmacht, die sich, nachdem sie in den zwanziger und dreißiger Jahren die jüdische Siedlungsbewegung unterstützt hat, schließlich der massenhaften Einwanderung widersetzt, schon wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu einer von den Vereinten Nationen vorgeschlagenen Aufteilung des Landes und der Gründung eines den größten Teil Palästinas umfassenden jüdischen Staates unter dem Namen Israel kommt, den die Großmächte USA und UdSSR kurz darauf anerkennen. Der verbleibende kleinere, vorwiegend das Jordantal umfassende Teil Palästinas wird zwei Jahre später Jordanien angegliedert. Da die Staatsgründung von einer umfassenden Vertreibung und Fluchtbewegung der im Land ansässigen Palästinenser begleitet ist, entstehen in den arabischen Nachbarstaaten Libanon, Syrien, Jordanien und Ägypten große Flüchtlingslager, deren Insassen die jeweiligen arabischen "Gastländer" weder ökonomisch ohne weiteres fähig, noch politisch überhaupt willens sind, ihren Gesellschaften zu integrieren und so aus ihrem Flüchtlings- und Lagerdasein zu befreien.

Damit ist der jüdische Staat Israel als Konfliktpartei etabliert. Er muss sich einerseits gegen die Ansprüche der palästinensischen Flüchtlinge auf Rückkehr und Wiederherstellung in ihrem vormaligen Besitzstand verwahren und andererseits der gewaltbereiten Feindseligkeit der arabischen Nachbarstaaten erwehren, die den neuen Staat in ihrer Mitte teils als ihre gewohnten Kräftekonstellationen, Einflusssphären und Machtstrategien störenden "Fremdkörper" erfahren, teils als eine vom europäischen Imperialismus, der gerade erst die Region geräumt hat, zurückgelassenen Stützpunkt oder Brückenkopf betrachten, und die sich deshalb die palästinensische Flüchtlingsfrage mit ebenso viel tatsächlichem Kalkül und Zynismus wie zur Schau getragener Solidarität und Engagiertheit zunutze machen, um ihrer Frontstellung gegen den der Rolle einer Fünften Kolonne im Nahen Osten verdächtigen "Eindringling" den Anschein moralischer Reinheit und völkerrechtlicher Legitimation zu verschaffen. Dass im Zuge dieses Konflikts viel politisches Pulver verschossen und ideologisches Porzellan zerschlagen wird, dass beide Parteien einander mit Schmähungen, Anschuldigungen und Verleumdungen überhäufen, ein Zerrbild voneinander zeichnen und sich gegeneinander ins Recht zu setzen und ins rechte Licht zu rücken suchen, kann nicht überraschen und ist, wenn man sich vergleichbare Territorial- und Grenzkonflikte zwischen Völkern und Staaten in der Geschichte anschaut, nur zu normal.

Weniger normal freilich mutet an, dass auf der palästinensisch-arabischen Seite die Feindseligkeit sich von Anfang an nicht einfach gegen den israelischen Staat und seine jüdische Bevölkerung, sondern gegen die Juden im allgemeinen, sie als weltweit existierenden Menschenschlag richtet, dass sich mit anderen Worten der feindselige Affekt gegen die Zugewanderten und als eigenes Staatswesen Etablierten von Anfang an als Antisemitismus artikuliert.

Auf den ersten Blick könnte sich die quasi spontane Generalisierung des Affekts zwar noch daraus zu erklären scheinen, dass es ja in der Tat Juden aus aller Welt sind, die in Palästina einwandern, und dass sich der neugegründete Staat ja auch explizit als jüdischer Staat, als Staat der Juden, versteht. Diese wohlmeinende Lesart widerlegt indes der Umstand, dass die quantitative Generalisierung des Affekts Hand in Hand mit einer qualitativen Konkretisierung geht, dass die Feindseligkeit gegen die in specie des Staates Israel am Werke gewahrten Juden in genere nicht bloß einem wie und wodurch auch immer bestimmten Menschenschlag, einer Rasse, Ethnie, Kultusgemeinde oder kulturellen Gemeinschaft gilt, sondern dass dieser bestimmte Menschenschlag von vornherein als Typus dingfest gemacht wird und nämlich als Inbegriff oder Sammelsurium von Eigenschaften erscheint, kraft deren seine Existenz eine ebenso verwerfliche wie unverwechselbare Form des Menschseins oder conditio humana verwirklicht, er selbst eine ebenso negativ besetzte wie eigentümliche Art von Mensch verkörpert. Diese in der numerischen Generalisierung oder Pauschalisierung des Affekts wesentlich einbegriffene generische Spezifizierung oder Klischeeisierung ist es, was die palästinensisch-arabische Feindseligkeit gegen das als pars pro toto der Juden aufgefasste israelische Volk als Antisemitismus stricto sensu definiert und sie bis in die inhaltlichen Einzelheiten, in denen sie sich artikuliert, bis hinein also in die Denunziation der Juden als geschworene Feinde der Menschheit, weltweite Verschwörer, diabolische Zerstörer, dem Antisemitismus des deutschen Faschismus zu parallelisieren erlaubt.

Aber handelt es sich bei diesem in specie der Staatsgründung Israel gegen die Juden aufgebotenen Antisemitismus wirklich um eine Parallele, ein sei's in inhaltlich-substanzieller, sei's in zweckförmig-funktioneller Hinsicht ernst zu nehmendes Gegenstück oder Ebenbild zum faschistischen Antisemitismus? Sollte man angesichts der genealogischen Abfolge und historischen Zusammenhänge nicht besser von einer Übernahme oder Adoption, einer Imitation oder Abbildung des ersteren durch den letzteren sprechen? Haben wir nicht selbst auf die auch ohne Rekurs auf den ominösen Mufti von Jerusalem evidente Tatsache hingewiesen, dass der nationalsozialistische Antisemitismus dem palästinensisch-arabischen Antisemitismus in hohem Maße als historische Quelle und unmittelbarer Lehrmeister dient und ihm umfängliche Argumentationsmuster und Artikulationshilfen liefert? Und bildet nicht eben diese Tatsache der zwischen beiden Antisemitismen verlaufenden Traditionslinie oder direkten Überlieferungsgeschichte den empirischen Grund für die bis in die Einzelheiten gehende Übereinstimmung ihres "Gedankenguts" und ihrer Ausdrucksformen?

Legt aber diese Tatsache dann nicht auch den Verdacht nahe, dass – wie in so vielen anderen Fällen der Übernahme von Traditionen – von einer inhaltlich-substanziellen oder zweckförmig-funktionellen Identität oder Kontinuität hier vielleicht gar nicht ausgegangen werden muss und vielmehr nichts weiter statthat als eine opportunistisch-aktuelle Aneignung und pragmatisch-akzidentielle Nutzung der vom deutschen Faschismus angebotenen Erklärungs- und Deutungsschemata durch die für ihren politisch-ideologischen Kampf gegen die jüdischen Eindringlinge um Argumente und Schlagworte verlegenen palästinensischen Gruppen und arabischen Staaten? Wie, wenn in einer perfekten Ironie der Geschichte nichts weiter als die durch die nationalsozialistische Judenverfolgung und –vertreibung hervorgerufene Massenauswanderung nach Palästina und Verschärfung der dort ohnehin bereits vorhandenen konfrontativen Situation den Grund dafür lieferte, dass die palästinensisch-arabische Seite eben den nationalsozialistischen Antisemitismus, durch den die Juden aus Europa nach Palästina vertrieben werden, aufgreift, um mit ihm umgekehrt und ohne Rücksicht auf den inhaltlichen Sinn oder funktionellen Zweck, den er im europäischen beziehungsweise deutschen Kontext hat, ebenso opportunistisch-eklektisch wie utilitaristisch-praktisch ihre Forderung nach der Vertreibung der Juden aus Palästina zu begründen?

Der Bereitschaft, sich über das ironische Paradox hinwegzusetzen, dass demnach die Beseitigung des Problems der jüdischen Einwanderer mit eben den ideologischen Mitteln betrieben wird, die wesentlich mitverantwortlich dafür sind, dass das Problem überhaupt entstanden ist – dieser Bereitschaft könnte dabei die besondere strategisch-machtpolitische Konstellation des Zweiten Weltkrieges, anders gesagt, der Umstand Vorschub geleistet haben, dass sich damals das nationalsozialistische Deutschland im Krieg mit den traditionell im Vorderen Orient ihre Einflusssphären behauptenden Kolonialmächten Großbritannien und Frankreich befindet und deshalb den antikolonialistischen palästinensischen Gruppen und arabischen Staaten als Feind ihres Feindes, sprich, nicht zwar im Sinne faktisch-reeller Übereinstimmung, wohl aber in der Bedeutung taktisch-dispositioneller Gemeinsamkeit als Mitstreiter und Verbündeter erscheint.

Indes, auch dieser neuerliche Versuch einer wohlmeinenden Interpretation des von Palästinensern und Arabern kultivierten Judenhasses erweist sich bei genauerem Hinsehen als unhaltbar. Träfe nämlich die Lesart zu, dass es sich beim palästinensisch-arabischen Antisemitismus um eine von aller substanziellen Identität oder funktionellen Kontinuität mit dem faschistischen Antisemitismus, dem er entlehnt ist, weit entfernte und ausschließlich opportunistischen Rücksichten oder utilitaristischen Erwägungen geschuldete Übernahme oder Zweitverwertung handelt, es ließe sich erwarten, dass mit dem Untergang des nationalsozialistischen Deutschland und der nachfolgenden internationalen Ächtung seiner ideologischen Hinterlassenschaft im allgemeinen und seines praktisch folgenreichsten, mörderischsten ideologischen Instruments, des Antisemitismus, im besonderen letzterer auch bei der palästinensisch-arabischen Front in Misskredit geriete, diese von seiner Adaption und Nutzung allmählich Abstand nähme und ihre Auseinandersetzung mit dem Staat Israel demnach von der merkwürdigen metaphorischen Überfrachtung oder manichäischen Überdeterminierung, die ihr das antisemitische Motiv beschert, befreit würde. Dies ist indes nicht der Fall! So haltbar erweist sich im Gegenteil die Verknüpfung der Frontstellung gegen den Staat Israel mit dem antisemitischen Kampf gegen die als antithetischer Typus, als Verkörperung eines gegnerischen Seinsprinzips, firmierenden Juden, dass keine noch so dezidierte internationale Kritik und Ablehnung dieser Verknüpfung die Betreffenden von ihr abbringen kann und dass sie im Gegenteil Schule macht und im Laufe der Entwicklung auch auf nichtarabische islamische Gesellschaften übergreift und am Ende zu einem konstitutiven Bestandteil des ideologischen Rüstzeugs der in die Rolle des terroristischen Gegenspielers der zivilisierten Welt gedrängten islamistischen Bewegung avanciert.

Fußnoten

... Überlegungen 1
Siehe Antisemitismus und Volksstaat – Zur Pathologie kapitalistischer Krisenbewältigung, Ça ira Verlag (Freiburg) 1998.
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