8. Was unterscheidet den nationalistisch-arabischen Hass auf die Juden vom nationalsozialistisch-deutschen Antisemitismus?
Wir müssen demnach davon ausgehen, dass über allen situationsgebundenen Opportunismus hinaus dem palästinensisch-arabischen Antisemitismus bis hin zu seiner letzten, fundamentalistischen Ausprägung eine inhaltlich-substanzielle oder zweckmäßig-funktionelle Affinität zu dem faschistischen Antisemitismus, den er aufgreift und fortsetzt, eignet. Angesichts der oben konstatierten eklatanten historischen, politischen und zivilisatorischen Unterschiede zwischen den gesellschaftlichen Kontexten, in denen die beiden Antisemitismusphänomene auftreten und Virulenz gewinnen, liegt zugleich die Vermutung nahe, dass die Affinität eher im funktionellen als im substanziellen Bereich zu finden ist, eher die Struktur und Beschaffenheit als den Inhalt und Gegenstand des Konflikts betrifft, dem der Antisemitismus als Bewältigungsversuch jeweils entspringt, sich mit anderen Worten eher auf den Mechanismus der Erledigung als auf das bezieht, was im einen und im anderen Fall erledigt werden soll.
Dieser Mechanismus ist, wie oben erinnert, beim deutschen Antisemitismus die in anfänglich exemplarisch-disziplinarischer Absicht inszenierte und am Ende mit der Triebhaftigkeit einer abfuhrreaktiven Übersprungshandlung ablaufende stellvertretende Exekution eines aggressiven Affekts an einem Ersatzobjekt. Der aggressive Affekt ist Folge des von Staats wegen erhobenen Anspruchs, zwecks Entfaltung beziehungsweise Erhaltung eines unentwickelten beziehungsweise in die Krise geratenen kapitalistischen Akkumulationsvermögens das Kapital in politisch eigener Regie zu führen, und des Konflikts mit dem traditionellen Kapitalsubjekt, der traditionell in Sachen Kapital Regie führenden Klasse, der Bourgeoisie und ihrem liberal- und bildungsbürgerlichen Anhang, in den dieser sein Anspruch den Staat verwickelt. Einerseits disponiert seine Absicht, die Entwicklung und Investition des Kapitals strikter staatlicher Programmatik und Kontrolle beziehungsweise Lenkung und Bewirtschaftung zu unterwerfen, das Staatswesen dazu, das bürgerliche Kapitalsubjekt zu entmachten und aus seiner angestammten Position zu verdrängen, es als frei entscheidenden und handelnden Kapitalagenten auszuschalten – wie der vom Faschismus geprägte und nicht von ungefähr bis heute populär gebliebene Terminus technicus lautet. Andererseits dient aber ja die ganze staatliche Veranstaltung einem im Wortsinne konservativen Zweck: der Entfaltung beziehungsweise Erhaltung der kapitalistischen Produktionsweise und Akkumulationsstrategie mitsamt den darin gründenden privaten Eigentumsverhältnissen und der wiederum darauf basierenden Gesellschaftsordnung.
Die von Staats wegen betriebene Trennung des privatpersönlich-liberalen Bürgertums von den Schalthebeln politischer Macht und ökonomischer Entscheidung richtet sich also keineswegs gegen dessen sozial privilegierte Stellung und ökonomisch saturierte Existenz: Die Verdrängung soll nicht zur Repression geraten, die Entmachung mitnichten in Enteignung resultieren, die Ausschaltung durchaus nicht in Ausrottung kulminieren. Eben die bürgerliche Klasse, die als Kapitalagentin, als eigenmächtig operierende Regisseurin des kapitalistischen Verwertungsprozesses durch die staatliche Agentur und Intendanz abgelöst werden soll, soll ja nur abgelöst werden, damit sie als Kapitaleignerin, als durch den kapitalistischen Verwertungsprozess primär Begünstigte, nach Maßgabe der dem letzteren induzierten neuen Vitalität und Profitabilität reaffirmiert und sichergestellt werden kann.
Die Ambivalenz der Aufgabenstellung liegt auf der Hand. Die im Verhältnis implizierte ungute Mischung aus Aggression und Rücksicht, Demontage und Konservierung, Verfolgung und Protektion springt förmlich ins Auge. Jedem, der mit der Theorie psychoökonomischer Mechanik und Konfliktbewältigung auch nur entfernt vertraut ist, will deshalb auch sogleich einleuchten, dass der mit sich selbst in Widerstreit gebrachte Trieb, die durch ein gegenläufiges Protektionsgebot gehemmte Aggressivität nach einer als Ventil fungierenden Ersatzaktivität, einer als Übersprungshandlung erscheinenden Abfuhrmöglichkeit sucht und diese in den als Sündenböcke durch die mittelalterliche und neuzeitliche europäische Geschichte hindurch bewährten Juden findet, dass also Antisemitismus das rebus sic stantibus gegebene Resultat ist.
Psychologisieren kann indes im Blick auf kollektives, durch objektive Interessen und funktionelle Strukturen bestimmtes Handeln leicht in die Irre führen! Tatsächlich ist, zumindest in den Anfängen dieses modernen Antisemitismus, die Auflösung der Ambivalenz durch Fokussierung des aggressiven Anteils auf die Juden weit rationaler begründet und weit funktioneller bestimmt als oben suggeriert. Im Falle des preußischen Junkerstaats und des von ihm kultivierten Antisemitismus lässt sich überhaupt besser von einem aggressiven Kalkül als von einem aggressiven Affekt reden. Wenn dieser Staat die Juden als Sündenbock aufs Korn nimmt, dann nicht einfach deshalb, weil er seine Aggressivität gegen die liberale Bourgeoisie, die privative Kapitalklientel, zu deren ökonomischem Vorteil und sozialem Wohl er ja gleichzeitig agiert, nicht ausleben, nicht objektspezifisch zur Geltung bringen darf und sie auf anderem Wege loswerden, triebökonomisch abführen muss, sondern vielmehr deshalb, weil er diese Aggressivität durch Fokussierung auf die Juden nutzbar machen kann, um das liberale Bürgertum zu disziplinieren und in die gewünschte Richtung zu lenken. Kalten Blutes und mit höchstens gespieltem Affekt hält er dem Bürgertum sein Bild von den Juden und deren angeblicher, gesellschaftsfeindlicher Natur als Negativfolie vor Augen, um eben dies Bürgertum staatsbürgerliche Mores zu lehren und zur Mitwirkung an dem von Staats wegen initiierten und gesteuerten nationalen Kapitalisierungsprozess anzutreiben.
Und an diesem im Antisemitismus steckenden Moment von kalter Berechnung, dieser mit der Aggression gegen die Juden intendierten indirekten Zurichtung und Indienstnahme des traditionellen liberalbürgerlichen Kapitalsubjekts für staatskapitalistisch-nationalistische Planungen und Zwecke ändert sich auch nach der durch den Ersten Weltkrieg und seine ökonomischen Folgen bedingten Fortentwicklung des preußischen Junkerstaats zum sozialdemokratischen Volksstaat und schließlich dann zum nationalsozialistischen Volksgemeinschaftsstaat im Prinzip nichts. Das Einzige, was sich ändert, ist die mit der progressiven Herausstaffierung des Staats als Volksfreunds beziehungsweise Nothelfers der kleinen Leute Hand in Hand gehende Infektion breiter Volksschichten mit der antisemitischen Aggression und damit zugleich Zuspitzung der letzteren zu einer klassenkämpferischen Attitüde, sprich, Verwandlung des affektierten Kalküls in einen Affekt sans phrase – eine Transformation, die wiederum dem völkisch herausgeputzten Staat zustatten kommt und in sein Kalkül passt, weil er ja weit stärker als der Junkerstaat das Kapital in eigene Regie zu übernehmen beansprucht und deshalb nicht mehr nur auf eine gesellschaftliche Disziplinierung, sondern auf eine regelrechte politische Entmachtung des liberalbürgerlichen Kapitalsubjekts aus ist und, um dies zu erreichen und die Bourgeoisie zur Fügsamkeit und Übernahme der ihr zugedachten volksgemeinschaftsdienlichen Rolle, quasi zum Rücktritt ins Volksglied, zu zwingen, nun auch gegenüber den als Negativfolie und warnendes Exempel figurierenden Juden andere Seite aufziehen und sich ihnen gegenüber entsprechend aggressiver aufführen muss.
Zu einer Preisgabe des affektierten Kalküls oder kalkulierten Affekts und seiner Überführung in jenen irrationalen Impuls, jenen mörderischen Aggressionsschub, der in den Konzentrationslagern des Zweiten Weltkriegs und in der Massenvernichtung der Juden resultiert, kommt es erst ganz am Ende, als an den weltweiten Kriegsfronten das in die Gestalt der Kriegsgegner geschlüpfte bourgeoise Kapitalsubjekt (das in vexierbildlicher Nachbildung des faschistischen Pakts zwischen Kapital und Arbeit zu allem Überfluss auch noch im Bunde mit dem sozialistischen Antipoden auftritt) eine Gewalt und Übermacht hervorkehrt, die jede Hoffnung, es beeinflussen und manipulieren oder gar seinen Siegeszug aufhalten zu können, zuschanden werden lässt, und als deshalb unter dem Eindruck des verloren gehenden Krieges die Aggression gegen die Juden die relative Rationalität einer an den eigentlichen Gegner adressierten Botschaft, eines als Signal erkennbaren evokativen Tuns einbüßt und die schreckliche Objektivität einer als Fanal auftrumpfenden imperativen Tat, eines den eigentlichen Gegner in seiner symbolischen Präsenz fetischisierenden stellvertretenden Opfers gewinnt, das halt- und besinnungslos zwischen manischer Ersatzleistung und magischer Beschwörungshandlung schwankt. Bis zu diesem letzten Punkt aber bleibt der mittels des Ersatzobjekts oder Sündenbocks Jude funktionierende Mechanismus des faschistischen Antisemitismus ein kalkuliertes Unternehmen und offensives Strategem zur Durchsetzung eines politisch-ökonomischen Programms und Bewältigung eines durch das Programm heraufbeschworenen gesellschaftlichen Konflikts.
Wie steht es nun in dieser Hinsicht mit dem an den faschistischen Antisemitismus anknüpfenden Judenhass palästinensisch-arabischer Provenienz? Lässt auch bei ihm sich ein vergleichbar innergesellschaftlich aggressives Kalkül und politisch-ökonomisch offensives Strategem erkennen? Ein staatliches Programm, ein der volonté générale entspringendes gesamtgesellschaftliches Vorhaben, liegt in der Tat auch der Entstehung dieses palästinensisch-arabischen Antisemitismus zugrunde oder steht jedenfalls als Voraussetzung oder Kontext Pate bei seiner Geburt – das mit der gerade erst errungenen nominalen staatlichen Unabhängigkeit dieser Gesellschaften verknüpfte Programm nämlich einer Befreiung von der kolonialen, protektoralen oder hegemonialen europäischen Vorherrschaft beziehungsweise Fremdbestimmtheit und der Erringung einer nationalen Identität und kulturellen Kontinuität. Anders als das faschistische Programm ist dies freilich kein politisch-ökonomisches Vorhaben, sondern ein ausschließlich politisches Projekt: Der Staat beansprucht nicht, gegen die überkommenen bürgerlich-kapitalistischen Reproduktionsweisen der Gesellschaft die neue Form und Organisation eines staatskapitalistischen Verwertungsprozesses durchzusetzen, sondern er will nichts weiter, als auf der Basis der überkommenen bürgerlich-kapitalistischen Reproduktionsweisen eine eigene Form von staatlicher Souveränität und nationale Spielart von bürgerlicher Öffentlichkeit ins Leben zu rufen.
Genau in dieser "Bescheidenheit", dieser Beschränkung auf eine rein politische Zielsetzung aber liegt das Problem! Der Verzicht auf die programmatische Beeinflussung und Veränderung der aus den traditionellen privatkapitalistischen Produktionsverhältnissen resultierenden ökonomischen Machtverhältnisse bedeutet mitnichten, dass sich die politische Absicht frei und ohne Störung von Seiten der letzteren entfalten kann; vielmehr kommt die traditionelle Ökonomie dem rein politischen Autonomieprogramm der unabhängig gewordenen und sich als Staatswesen etablierenden Kolonialgebiete ebenso sehr in die Quere und steht ihm geradeso entgegen wie der sie aufs Korn nehmenden und ihre Integration ins Arbeitsfrontprogramm, sprich, ihre "Gleichschaltung" – das affirmative Gegenstück zur "Ausschaltung"! – betreibenden Politik des faschistischen Deutschland. Der Grund hierfür ist einfach genug: Es ist die tatsächliche Heteronomie und Außensteuerung der ökonomischen Verhältnisse. Teils direkt, teils indirekt sind es die ehemaligen Kolonial- und aktuellen Imperialmächte, die, was die Reproduktion und ökonomische Entwicklung beziehungsweise Stagnation jener Gesellschaften angeht, die grundlegenden Entscheidungen treffen und den maßgebenden Einfluss ausüben.
Auf direktem Weg geschieht das, weil die betreffenden Regionen für die imperialen Mächte von militärisch-strategischem Interesse sind und über Bodenschätze und Rohstoffe verfügen, die für das wirtschaftliche Gedeihen der imperialen Staaten unentbehrlich sind und über die letztere deshalb unbedingt die Kontrolle behalten wollen – weshalb auf der Basis von noch aus der Kolonial- und Protektoratszeit stammenden Schürf- und Ausbeutungsrechten und sonstigen Nutzungsprivilegien sowie mit der Durchsetzungskraft einer weit überlegenen technischen Kapazität und industriellen Effektivität das Kapital der imperialen Staaten in Gestalt großer Öl-, Bergbau- und infrastruktureller Betreibergesellschaften auf den Territorien der formell unabhängig gewordenen Staaten eine unmittelbare Präsenz und an das Diktum vom "Staat im Staat" gemahnende Handlungsvollmacht behauptet. Zugleich üben die Kolonialmächte indirekt, aber beileibe nicht weniger effektiv, ihre ökonomische Macht in der Weise aus, dass sie durch die Kontrolle des internationalen Finanzinstrumentariums und des Weltmarktsgeschehens das heimische Kapital der exkolonialen Staaten fest im Griff haben und ohne ihre Hilfestellung beziehungsweise bestimmende Einflussnahme dessen Entwicklungsperspektiven und Handelschancen gegen Null tendieren.
Tatsächlich gelangen aus ökonomischer Sicht diese nunmehr als eigene Staaten etablierten exkolonialen Gebiete über den kolonialen Status gar nicht eigentlich hinaus und spielen ihre Kapitalagenten und deren Klientel den im Prinzip unveränderten Part einer den imperialen Ökonomien zur Hand gehenden beziehungsweise in die Hände spielenden und sich mit der ihnen von ersteren zugewiesenen und für sie halbwegs profitablen Zuarbeiterrolle und Nischenexistenz zufrieden gebenden Kolonialbourgeoisie. So gesehen, ist also das Verhältnis zwischen Staat und bürgerlicher Kapitalagentur, politischer Absicht und ökonomischen Interessen bei den neuen vorderorientalischen Staatswesen nicht weniger konfliktträchtig als einst beim faschistisch werdenden deutschen Staat. Der einzige – allerdings wesentliche – Unterschied ist, dass im Falle des deutschen Faschismus die Volkswirtschaft in der Krise steckt und die deshalb zwangsläufig als politisch-ökonomische konzipierte Politik des Staates aggressiv darauf zielt, die Krise mit ebenso funktionell kapitalismuskritischen wie strukturell kapitalkonformen Mitteln zu bewältigen, während im Falle des arabischen Nationalismus die auf die Autonomie des Gemeinwesens und auf staatliche Souveränität dringende Politik in aller Abstraktheit und Naivität selbst erst dazu angetan ist, die ökonomische Krise auszulösen, weil das Streben nach Autonomie, wenn es mit ihm ernst gemeint ist, gar nicht umhin kann, gegen die Heteronomie und Fremdbestimmtheit der ökonomischen Verhältnisse vorzugehen und mit ihr aufzuräumen.
Dieser Unterschied zwischen dort dem als bewusste Antwort auf eine ökonomische Krise konzipierten politisch-ökonomischen Programm des deutschen Faschismus und hier dem politischen Programm des arabischen Nationalismus, das unabsichtlich Miene macht, eine ökonomische Krise allererst heraufzubeschwören, erklärt zugleich, warum in ersterem Fall das Programm erfolgreich ist und in die Tat umgesetzt wird, in letzterem hingegen nicht. Von der weltwirtschaftlichen Verwertungskrise geschüttelt, ist das deutsche Kapital ohne weiteres bereit, sich den Weg zur volksgemeinschaftlichen Gesundung weisen zu lassen, und nimmt dabei auch nolens volens die politische Entmachtung seiner eigenen bürgerlichen Klientel in Kauf. Hingegen hat das arabische Kapital, besser gesagt, das unter der Maske einer nationalen Ökonomie direkt oder indirekt operierende Kapital der imperialen Mächte nicht die geringste Lust, sich durch die ernstliche Verfolgung und wirkliche Durchsetzung eines auf die gesellschaftliche Autonomie und staatliche Souveränität dieser exkolonialen Territorien zielenden Programms aus seiner gedeihlichen Nischenexistenz, seinem durch die Direktiven des imperialen Rohstoffbedarfs, der internationalen Finanz und des Weltmarkts determinierten Status quo vertreiben und in die Krise stürzen zu lassen.
So unlustig, sich die Butter vom Brot nehmen zu lassen, und durch die faktische Kontrolle, die es über die gesellschaftliche Reproduktion ausübt, so gut gerüstet für die Durchkreuzung und Blockade jedes Strebens nach ernstlicher Autonomie und wirklicher Souveränität ist tatsächlich dies nur im formellen oder uneigentlichen Sinne landeseigene Kapital, dass von einer ernstzunehmenden Bedrohung seines Status quo durch jene Autonomiebestrebungen, einer durch jene Souveränitätsansprüche heraufbeschworenen effektiven ökonomischen Krisengefahr gar nicht die Rede sein kann und die vorgeblichen Autonomiebestrebungen und prätendierten Souveränitätsansprüche in dem Maße, wie sie als ernst gemeinte Absichten und wirkliche Vorhaben diskreditiert erscheinen, sich dem Verdacht gezielter Täuschungsmanöver, bewusster propagandistischer Irreführungen aussetzen. Angesichts der krassen Diskrepanz zwischen dem praktischen Haben der ökonomischen Heteronomie, in der sich die betreffenden Länder häuslich eingerichtet haben, und dem ideologischen Soll der politischen Autonomie, die sie auf ihre Fahnen schreiben, drängt sich mit anderen Worten der Eindruck auf, dass es sich bei jenem Autonomiestreben weniger um einen echten Vorsatz als um eine rhetorische Figur, weniger um ein Programm als um ein Gaukelspiel, weniger um ein nationales Anliegen, eine Zielsetzung handelt, die den betreffenden Gesellschaften ermöglicht, die koloniale Vergangenheit abzustreifen und zur industriestaatlichen Gegenwart aufzuschließen, als um Opium für das Volk, eine Droge, die den Gesellschaften erlaubt, sich über ihre dauerhafte halbkoloniale Stellung als Rohstofflieferanten und Warenabnehmer fremder Industriestaaten hinwegzutrösten oder vielmehr hinwegzutäuschen.
Dieser Eindruck findet durch die fortdauernde ökonomische Unselbständigkeit und Initiativlosigkeit, in der in den Jahren nach ihrer formellen Unabhängigkeit die vorderorientalischen Staaten dahindümpeln, und durch ihre anhaltende politische Stagnation und Paralyse so voll und ganz seine Bestätigung, dass man sich fragen muss, warum die Bevölkerungen jener Staaten des Geredes von gesellschaftlicher Autonomie und nationaler Souveränität nicht müde und der offenbar unheilbaren Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen vorgeblichem politischem Aufbruch und tatsächlicher ökonomischer Immobilität nicht inne werden, warum mit anderen Worten die Droge der ins Auge gefassten gesellschaftlichen Selbstbestimmung, die Fata morgana der in Aussicht gestellten staatlichen Selbstmächtigkeit eine so dauerhafte Wirksamkeit und unzerstörbare Attraktivität beweist. Müsste sich nicht angesichts der offenkundigen Stagnation der gesellschaftlichen Entwicklung und Lähmung des staatlichen Lebens zumindest in den breiten Volksschichten, die an den spezifischen Vorteilen und Bereicherungschancen, die jener Lähmungs- und Stagnationszustand bietet, keinen Anteil haben, sondern im Zweifelsfall eher unter ihm leiden, das Bewusstsein von der Unvereinbarkeit des volkswirtschaftlichen Status quo und des staatlich-politischen Programms allmählich durchsetzen? Müsste sich bei den Betreffenden nicht die Einsicht einstellen, dass unter den gegebenen halbkolonial-heteronomen Bedingungen ihrer Ökonomie effektive gesellschaftliche Selbstbestimmung und wirkliche staatliche Unabhängigkeit schlechterdings nicht zu haben sind und sie also, wenn sie einem abstrakt von jenen ökonomischen Bedingungen propagierten politischen Programm Glauben schenken, das solche Autonomie und Souveränität in Aussicht stellt, entweder einem Hirngespinst ihrer von Realitätsverlust befallenen politischen Führung aufsitzen oder aber einem von dieser politischen Führung als Potemkinsches Dorf oder Fata morgana zielstrebig inszenierten Spektakel zum Opfer fallen.
Dass die kolonialbürgerliche Klientel des imperialen Kapitals, die von der heteronomen Volkswirtschaft direkt oder indirekt profitierende kleine Unternehmer- und Freiberuflerschicht nebst ihrem verwaltungs- und bildungsbürgerlichen Anhang, an jener Fiktion geduldig festhält, ist ja noch ohne weiteres zu verstehen. Sie braucht dabei nicht einmal ein gespaltenes Bewusstsein zu kultivieren und des Fiktiven der politischen Fiktion, an der sie mitwirkt, inne zu sein; das ökonomische Interesse, das sie mit dem Status quo verbindet, ist im Zweifelsfall stark und bewusstseinsprägend genug, um sie fern von jedem Zynismus in ebenso unbelehrbarer wie naiver Gläubigkeit der nationalstaatlichen Autonomieillusion und Souveränitätsideologie huldigen zu lassen. Aber warum sollte sich die breite Masse, die aus dem Status quo gar keinen Vorteil zieht und sich durch die ökonomische Lähmung und politische Stagnation um die Hoffnung auf eine bessere Zukunft betrogen findet, die sie mit jener Fiktion verknüpft, so beharrlich an letztere klammern und der Einsicht verschließen, dass ohne Veränderung der ökonomischen Grundlagen ihrer neuen Staatswesen an wirkliche gesellschaftliche Autonomie und staatliche Souveränität schlechterdings nicht zu denken ist?
Dass unsere Frage die Einsicht in das Illusionäre des politischen Programms wie selbstverständlich an die Forderung nach Veränderung dessen, was das Programm illusionär erscheinen lässt, nach Veränderung also der ökonomischen Basis, knüpft, impliziert indes im Grunde schon die Antwort. Wenn die Massen starrsinnig an dem augenscheinlich illusionären politischen Programm als einem jeder gesellschaftlichen Reflexion entzogenen, abstrakten Imperativ festhalten, dann deshalb, weil sie keine Chance sehen, an den ökonomischen Grundlagen etwas zu ändern! Hier liegt tatsächlich der eigentliche Fluch einer halb- oder quasikolonialen Ökonomie, dass ein auf Rohstoffexporte und Industriewarenimporte beschränkter kapitalistischer Verwertungsprozess dem vorkapitalistischen Wirtschaftsleben des betreffenden Landes kurzerhand aufgepfropft ist und die auf ihre traditionellen landwirtschaftlichen und kleingewerblichen Okkupationen beschränkte breite Masse der Bevölkerung außen vor und höchstens und nur mittels der ökonomischen und sozialen Beziehungen, die sie zur oben genannten Klientel des imperialen Kapitals, der aus Unternehmern, Freiberuflern und Bürokraten bestehenden Kolonialbourgeoisie, unterhält, auf die kapitalistische Sphäre bezogen und sozusagen als Konsumenten zweiten Grades an ihr beteiligt sein lässt.
So aber an die äußerste Peripherie oder vielmehr in den Vorhof des kapitalistischen Verwertungsprozesses verbannt, kann die breite Masse auch kein Verhältnis zu diesem Prozess entwickeln; wie sie ihm äußerlich bleibt, so bleibt er ihr fremd; jene Art von spezifischer Determination und bestimmter Negation, wie sie in den westlichen Industriegesellschaften die unteren Schichten ausbilden, weil sie in den Verwertungsprozess hineingezogen und in ihm nicht weniger als von ihm zum ökonomischen Faktor und zur sozialen Klasse zugerichtet werden, bleibt diesen kolonialen Volksmassen versagt oder, wenn man will, erspart. Bar jeder tragenden Rolle im kapitalistischen Verwertungsprozess oder auch bloß faktorellen Bedeutung für ihn und deshalb auch bar jeden ihr durch den Prozess etwa vindizierten Klassenbewusstseins, Widerstandpotenzials und Organisationsvermögens erfährt die koloniale Volksmasse das heteronome ökonomische Geschehen als einen Naturprozess, auf den sie ebenso wenig Einfluss hat, wie sie ihm vollständig ausgeliefert ist.
Denunziert demnach die Volksmasse das politische Programm ihres Staatswesens als Farce und Formalie, tut sie es als Täuschungsmanöver ab, so nutzt ihr das in praxi wenig oder nichts, hat sie faktisch damit nichts gewonnen. Am ökonomischen Status quo, dessen Beseitigung oder Aufhebung doch der einzige wirkliche Sinn wäre, den ihre Denunziation haben könnte, vermag sie nicht das Geringste zu ändern. Sie gewinnt nichts als nur den Verlust einer Illusion, die Konfrontation mit dem factum brutum der sozialen Lähmung und politischen Stagnation, von denen ihr Gemeinwesen befallen ist. Was Wunder, dass sie diese fruchtlose Desillusionierung scheut, dass sie sich lieber den schönen Schein einer vermeintlichen politischen Perspektive erhält, statt sich der schicksalhaften Aussichtslosigkeit, dem Verhängnischarakter ihrer ökonomischen Lage zu stellen?
Sind Perspektiven allerdings erst einmal des Illusionären verdächtig, scheint erst einmal der Abgrund oder innere Widerspruch durch, über dem sie sich ebenso haltlos wie unfundiert erheben, so genügt es, um sie sich zu erhalten, nicht mehr, einfach auf ihnen zu insistieren, sie quasi in einer Metafiktion, einer sich selbst als solche reaffirmierenden Selbsttäuschung, gegen ihren Verfall, ihren Sturz in den Abgrund, zu immunisieren. Um sie als solche nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen, muss man in irgendeiner, sie nicht in Frage stellenden, sie verschonenden Form das zur Kenntnis nehmen, was sie als solche begründet, was als der unter ihr sich verbergende Abgrund und Widerspruch schuld ist an ihrer Unfundiertheit, ihrem illusionären Charakter.
Im Wesentlichen ist das Problem das gleiche wie das obige einer dem kapitalistischen System eingeschriebenen und dessen Prätention unverwüstlicher Gesundheit und grenzenlosen Wachstums als Illusion entlarvenden Destruktivität. Ist diese zerstörerische Dynamik erst einmal im Bewusstsein aufgetaucht, hat sie sich erst einmal als virulente Drohung zum Vorschein gebracht, so lässt sie sich nicht mehr einfach ignorieren, durch bloße Nichtachtung aus der Welt schaffen. Wer die entlarvende Tatsache nicht zur Kenntnis nehmen, von ihr als solcher nichts wissen will, der muss sie in anderer Gestalt, als Aliud, beschwören, muss sie andernorts, im Alibi, zur Geltung bringen. Kurz, er muss sie verschieben, muss ihr eine Ersatzexistenz, ein Wirklichkeitssurrogat zuweisen. Im Falle der systemimmanenten kapitalistischen Destruktivität ist, wie gesehen, das Aliud der sogenannte Terrorismus, das Alibi die islamische Welt. Im Falle der an der Illusion ihrer politischen Programme festhaltenden arabisch-palästinensischen Massen ist das Alibi der in ihrer Mitte gegründete Staat Israel und sind das Aliud die Juden.
Um sich nicht der Tatsache ihres hoffnungslos heteronomen, perspektivlos halbkolonialen ökonomischen Status quo, der alle Autonomie- und Souveränitätsaspirationen Lügen straft, stellen und mit denjenigen Gruppen ihrer Mitbürger, die jenen Status quo tragen und von ihm profitieren, auseinandersetzen, sprich, sie ebenso sehr als Gegner begreifen zu müssen wie das hinter ihnen stehende industriestaatlich-imperiale Kapital, um statt dessen vielmehr die mit jener Autonomie- und Souveränitätsillusion untrennbar verknüpfte Ideologie nationaler Einheit und intentionaler Geschlossenheit aufrechterhalten zu können, rekurrieren die breiten Volksschichten auf den durch die Ansiedlung und Etablierung der jüdischen Einwanderer in Palästina ausgelösten Konflikt, der mit den teils objektiv unbewältigten, teils von ihren jeweiligen Regierungen instrumentalisierten Problemen, die er schafft, vor sich hin schwelt, und verschieben auf dieses kommode Ersatzphänomen das bessere Wissen, dass sie von den Widerständen und Gegenspielern im eigenen Land haben und das, wenn sie sich zu ihm verstünden, das Einzige, was ihnen geblieben ist, jene Illusion einer politischen Perspektive, gründlich zerstörte.
Kern- und Quellpunkt des Antisemitismus, den die arabisch-palästinensischen Volksschichten vom deutschen Faschismus übernehmen und im Verhältnis zum israelischen Staat zum Zuge kommen lassen, ist also nicht die wie immer gut begründete oder auch übel motivierte Feindseligkeit gegenüber dem letzteren und Auseinandersetzung mit ihm, sondern die als solche verdrängte und auf den israelischen Staat übertragene Feindseligkeit gegenüber den Handlangern und Klientelen der imperialistischen Ordnung, die in der eigenen Gesellschaft für Stagnation und Lähmung sorgen, die als solche gemiedene und in die Konfrontation mit dem israelischen Staat verschobene Auseinandersetzung mit den Vertretern und Nutznießern eines ökonomischen Status quo, der jede politische Bewegung und jeden sozialen Fortschritt im Ansatz erstickt. Diese unerklärte, in die Latenz verwiesene gesellschaftsinterne Frontstellung ist es, die sich als solche nur um den Preis ihres symptomatischen Erscheinens, ihrer Manifestation an einem Ersatzobjekt latent halten lässt und die diese ihre Ersatzdarstellung, ihre symptomatische Manifestation im aktuellen Konflikt mit dem jüdischen Staat findet.
Klares Zeichen, um nicht zu sagen, redender Ausdruck dieser Befrachtung des aktuellen Konflikts mit einer verdrängten Konfrontation, dieser Überdeterminierung einer zwischenstaatlichen beziehungsweise interethnischen Auseinandersetzung durch einen verleugneten innergesellschaftlichen beziehungsweise klassenspezifischen Gegensatz ist die Tatsache, dass es nicht einfach die vor Ort siedelnden Juden, die Bürger des Staates Israel sind, denen die Feindseligkeit gilt, sondern die Juden überhaupt, ein weltweit agierendes, internationales "Judentum". In dieser Extension des empirischen gesellschaftlichen Individuums Israel zu einer Spezies, quasi einem eigenen Gattungswesen, steckt das Moment der Übertragung, der Befrachtung der Bürger des Staates Israel mit der Aufgabe, den in den arabisch-palästinensischen Gesellschaften selbst wirksamen politisch-ökonomischen Widerstand gegen das von diesen Gesellschaften pro forma verfolgte politisch-ideologische Selbstfindungsprogramm zu repräsentieren.
Die Übertragung gewinnt noch dadurch an Überzeugungskraft, dass der hauseigene Widerstand, der auf den "Eindringling" Israel übertragen und verschoben wird, ja die Doppelstruktur eines gleichzeitig kolonialbürgerlich-internen und imperialistisch-externen Aspekts hat und dass diese Doppelstruktur dank der Existenz größerer jüdischer Gemeinden und jüdischstämmiger Bevölkerungskontingente in den imperialistischen Staaten des Westens im Konstrukt eines vom israelischen Staatsvolk verkörperten "Weltjudentums" ihr scheinempirisches Pendant finden kann, dass also in einer Art psychoökonomischer Aufwandsersparnis die Israelis durch jenen als Extension erscheinenden Akt der Übertragung nicht nur die ökonomisch maßgebenden und alle politische Emanzipation durchkreuzenden Gruppen in den arabischen Nachbarstaaten Israels in ihrer Saboteursfunktion zu entlasten dienen, sondern uno actu auch das hinter jenen Gruppen stehende imperialistische Kapital in seiner Aggressorenrolle zu ersetzen taugen.
Dass die Regierungen der betreffenden Staaten diese Entschärfung beziehungsweise Eskamotierung des gesellschaftlich sprengkräftigen inneren Konflikts zwischen politischem Anspruch und ökonomischer Wirklichkeit durch seine Verschiebung und Übertragung auf die Konfrontation mit dem äußeren Gegner Israel bereitwillig nutzen, teils um in der Auseinandersetzung mit letzterem ideologische Punkte zu sammeln, teils um von allen möglichen innenpolitischen Problemen und Debakeln abzulenken, kann nicht überraschen und lässt sich angesichts der konstitutionellen Ambivalenz, um nicht zu sagen Schizophrenie, jener Staatswesen, ihrem gleichzeitigen Hochhalten eines politischen Autonomie- und Souveränitätsprogramms und Festhalten an einem dies Programm Lügen strafenden Zustand ökonomischer Heteronomie und Abhängigkeit, gar nicht anders erwarten. An dieser Situation eines staatlich geförderten Antisemitismus ändert sich nichts, als in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in den meisten der betreffenden Staaten das Militär die Macht übernimmt und die bei der Unabhängigkeit eingerichteten konstitutionell-monarchischen oder formell-demokratischen Regierungssysteme verdrängt. Zwar lässt sich die Einführung einer Militärherrschaft unter anderem als Reaktion auf jenen grundlegenden Widerspruch zwischen politischem Anspruch und ökonomischer Wirklichkeit und als Versuch begreifen, diesen Widerspruch, der ja zugleich als nicht nur unaufgelöster, sondern mehr noch uneingestandener die Basis für den am Staat Israel festgemachten Antisemitismus der arabisch-palästinensischen Massen bildet, nun doch ins Auge zu fassen und womöglich aufzulösen. Dafür spricht, dass die militärische Machtergreifung in der Mehrzahl der Fälle Hand in Hand mit einer Verstaatlichungspolitik, das heißt mit dem Bemühen geht, die Schlüsselindustrien beziehungsweise Schlüsselressourcen des Landes nationaler Kontrolle und Vollmacht zu unterstellen.
So sehr freilich formell diese Bemühungen die Absicht verfolgen mögen, den Zustand halbkolonialer Heteronomie zu beenden und den einer autonomen Entwicklung und souveränen Politik der neuen Staatswesen entgegenstehenden ökonomischen Stolperstein und Widerstand aus dem Weg zu räumen, so sehr ist reell das Militär mit dem kapitalistischen Reproduktionssystem ebenso wenig vermittelt und steht ihm ebenso abstrakt gegenüber wie die Volksmassen jener Staatswesen und zeigt sich deshalb ebenso wenig wie letztere in der Lage, bestimmenden Einfluss auf es zu nehmen und es effektiv zu kontrollieren und zu steuern. Zwar sind im Unterschied zu den Volksmassen die Streitkräfte dank ihres organisierten Gewaltpotenzials imstande, den Reproduktionsprozess des Kapitals zu stören und gegebenenfalls sogar zu durchkreuzen, aber diesen Prozess zu lenken und ihm eine dem Gemeinwohl und dem öffentlichen Interesse gemäßere Richtung zu geben, ist das Militär geradeso unfähig wie das Volk. Sein Unvermögen zu wirklichem Eingreifen lenkt seinen Tatendrang in falsche Richtungen: Korrumpiert durch seine scheinbare Macht beziehungsweise Drohkulissenohnmacht, wird es beziehungsweise seine Führung, das der Kolonialbourgeoisie ohnehin vielfältig verbundene und verpflichtete Offizierskorps, anfällig für die Bestechungen der letzteren und ihrer imperialistischen Hintermänner. Statt zu handeln und gemäß dem ursprünglichen Verstaatlichungsimpetus den heteronom-imperialen Kapitalprozess staatlich zu steuern und nationalen Interessen und Zielsetzungen zu unterwerfen, lässt sich das Militär am Ende nur noch dafür bezahlen, dass es das unter seine Fittiche genommene Kapital gewähren und im Prinzip seinen eigenen Kopf haben lässt.
Ökonomisch-praktisch also ändert sich durch die Militärherrschaft und ihre Verstaatlichungsaktivitäten nichts. Das Einzige, was dadurch erreicht wird, ist ein politisch-ideologischer Effekt – die vollständige Verwirrung und Verblendung der Volksmassen. Waren die letzteren vorher noch formell wenigstens imstande, das die gesellschaftliche Autonomie und staatliche Souveränität ihrer Gemeinwesen durchkreuzende soziale Phänomen und institutionelle Faktum, sprich, die imperialistisch ausgerichtete, heteronome Ökonomie und ihre landeseigene Klientel, ins Auge zu fassen, so ist dies Phänomen und Faktum jetzt ihren Blicken quasi objektiv entzogen: Es tritt ihnen dank der Militärherrschaft in der Sache unverändert zwar, aber in wesentlich anderer Gestalt, nämlich unter der Camouflage und Maske allgemeinen sozialen Aufbruchs, nationaler Generalmobilmachung entgegen.
Mussten sie deshalb vorher noch eigenhändig, wenn man so sagen darf, den Blick von dem aller politischen Programmatik Hohn sprechenden ökonomischen Status quo abwenden, so bleibt ihnen das nun erspart: Sie haben nichts weiter zu tun, als der Suggestion konzentrierter nationaler Kraft und fokussierter sozialer Bewegung zu erliegen, die ihnen die das alte ökonomische Leiden mit neuen ideologischen Sedativa kaschierenden und ihre dem ökonomischen Leiden gemäße politische Ohnmacht mit militärischen Pauken und Trompeten überspielenden Militärregime bieten.
Was ihnen allerdings nicht erspart bleibt, ist die mit der Militärherrschaft einhergehende Erfahrung fortdauernder gesellschaftlicher Stagnation und staatlicher Lähmung, und die Bewältigung oder vielmehr Beseitigung dieser Erfahrung lässt nun den Antisemitismus, die Schuldzuweisung an den Staat Israel und den von ihm verkörperten generischen Juden, die gegen Unbekannt, der, weil er in Wahrheit wohlbekannt ist, in eine fremde Identität gebannt, durch einen Sündenbock substituiert werden muss, erstattete Anzeige für die betreffenden Gesellschaften unentbehrlicher werden denn je zuvor.
Dass statt der Förderung des Gemeinwohls nichts weiter als der Ausbau des Militärwesens und die Bereicherung seiner Chargen Wirklichkeit wird, dass anstelle der erhofften gesellschaftlichen Autonomie und staatlichen Souveränität nur allgemeine Repression und nationale Großsprecherei statthat – diese Tatsache muss angesichts der durch die Militärregime und ihre Verstaatlichungspolitik erreichten perfekten Verquickung von nominellem Fortschritt und reellem Stillstand, von vielversprechender Intention und alles dementierender Korruption die Volksschichten der betreffenden Gesellschaften entweder an der Fähigkeit und Chance ihrer Staatswesen zur Selbstbestimmung und Eigeninitiative ein- für allemal verzweifeln oder mit verstärkter Macht zum Antisemitismus, das heißt, zum Mittel einer Verschiebung und Projektion des ebenso unsichtbaren wie aus eigener Kraft unlösbaren konstitutionell-inneren Problems auf jenen im Staat Israel sichtbaren akzidentiell-äußeren Konflikt, greifen lassen, den militärherrschaftliche Großmäuligkeit und Unbelehrbarkeit, aller gegenteiligen Empirie zum Trotz, als mit den vereinten Kräften der arabischen Staaten durch einen simplen Waffengang lösbar behauptet.