2. Die chronisch gewordene Absatzkrise
Resultat der durch die unablässige Produktivkraftentfaltung produzierten Flut immer preiswerterer Konsumgüter ist eine seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts in den westlichen Industriegesellschaften chronisch werdende Absatzkrise, ein ebenso umfassendes wie allem Anschein nach unheilbares materielles Pleroma, das den kapitalistischen Volkswirtschaften im Wortsinn schwer im Magen liegt. Wahrscheinlich wäre die Dauerkrise sogar schon sehr viel früher eingetreten, hätten nicht der einer nationalistischen Konkurrenz der europäischen Volkswirtschaften geschuldete Erste und der einer abenteuerlichen ökonomischen Sanierungsstrategie Deutschlands im Anschluss an die Weltwirtschaftskrise geschuldete Zweite Weltkrieg durch die von ihnen angerichteten umfänglichen Zerstörungen für eine zwischenzeitliche "Räumung der Lager" und Entlastung der Märkte gesorgt und dem kapitalistischen Produktionsapparat die Chance eröffnet, ausgehend von einem stark erniedrigten Versorgungsniveau Konsumenten aller Schichten quasi völlig neu einzudecken. Nun aber drohen die westlichen Konsumgesellschaften endgültig in dem durch die kapitalistische Produktivkraft entfesselten Warenstrom zu ersaufen, und ein dritter Weltkrieg, der für segensreichen Mangel sorgen könnte, wird wegen der hässlichen Nebenerscheinungen in Sachen Tod und Vernichtung, von denen seine beiden Vorgänger begleitet waren und die in allzu frischer Erinnerung sind, sowie wegen der schwer kalkulierbaren Risiken, die das mittlerweile entwickelte ABC-Waffenarsenal mit sich bringt, von der Mehrzahl der Verantwortlichen bislang noch gescheut.
Das kapitalistische Reproduktionssystem steckt also in einer der Absatzkrise von vor gut hundert Jahren vergleichbaren Krise, nur dass die Situation jetzt ungleich gravierender und unlösbarer als damals erscheint. Damals, im Fin-de-siècle, war das Problem noch ein wesentlich strukturelles, hervorgerufen durch die vom System selbst in seiner Entwicklung ausgebildeten und als habituelle Beschränkungen seine Weiterentwicklung hemmenden distributiven, sozialen und räumlichen Strukturen. In dem Maße, wie sich diese systemgesetzten Strukturen verändern beziehungsweise transzendieren, wie sich konsumtive Ansprüche auf die Produzenten umverteilen, neue Konsumentenschichten ins Leben rufen und neue Märkte erschließen ließen, erwies sich die Absatzkrise als gelöst und zeigte sich nämlich, dass das den kapitalistischen Markt mit Verstopfung bedrohende Übermaß an industriellen Gütern kein absolutes, sondern nur ein relatives Phänomen war, dass es mit anderen Worten nicht Resultat einer objektiven Überforderung des systemtranszendenten menschlichen Bedürfnisses, sondern bloß Folge einer defizienten Verteilung beziehungsweise Zugänglichkeit des als Systemtranszendental fungierenden allgemeinen Äquivalents, des den Zugriff des menschlichen Bedürfnisses auf die Befriedigungsmittel regelnden Geldes, war.
Mittlerweile indes präsentiert sich die Absatzkrise als ein substanzielles Problem, bei dem das kapitalistische Reproduktionssystem in Konflikt mit seiner systemtranszendent-objektiven Naturbasis gerät und an die Grenzen der Beanspruchbarkeit und Aufnahmefähigkeit menschlichen Bedürfnisses stößt. In den westlichen Industriegesellschaften hat die ungeheure Warensammlung, in der die industrielle und agrikulturelle Wertschöpfung resultiert, heute solche Dimensionen erreicht, dass die Konsumenten, die dank Arbeitslohn, Kapitalbeteiligung oder Grundrente über allgemeines Äquivalent, Geld, verfügen und dieses Geld als Ansprüche an den Markt, Ansprüche auf die Warensammlung geltend machen müssten, des Segens schlechterdings nicht mehr Herr zu werden, die zur Realisierung des Werts der Warensammlung nötige Konsumleistung aus Gründen mangelnden Bedürfnisses einfach nicht mehr zu erbringen vermögen.
Und an dieser Unrealisierbarkeit des gesammelten Warenwerts ändert auch nichts die in den industriellen Gesellschaften nach wie vor und inzwischen sogar wieder verstärkt bestehende Ungleichverteilung der konsumtiven Fülle, die auf jeder Straße zu beobachtende Tatsache, dass Seite an Seite mit exorbitantem Überfluss und ihm entspringender Übersättigung auch relative Armut und ihr entsprechende Bedürftigkeit existiert. Im Rahmen der das kapitalistische Reproduktionssystem der Gesellschaft beherrschenden Logik lässt sich diese Bedürftigkeit schlechterdings nicht für einen gesteigerten Absatz der Warensammlung nutzen, weil den Betreffenden das als Regulativ aller Bedürfnisbefriedigung firmierende Geld fehlt, und weil sie in den Besitz von Geld nur durch neue wertbildende Arbeitsprozesse zu bringen wären, die wiederum unter dem Akkumulationsprinzip, dem kategorischen Imperativ, Mehrwert zu schaffen, abliefen und deshalb die von den übersättigten Konsumentschichten in ihrem Wert zu realisierende Gütermasse nur immer noch vergrößerten, sprich, die Absatzkrise nur weiter verschärften.
Und das gilt natürlich nicht nur für die relativ armen und bedürftigen Gruppen und Individuen innerhalb der industrialisierten Gesellschaften, sondern auch und ebenso sehr für die absolut armen und akut notleidenden Nationen und Staaten in der sogenannten Dritten Welt. Die Bevölkerungen dieser Weltteile hat, wie gesagt, der politische beziehungsweise ökonomische Imperialismus der kapitalistischen Staaten mit seiner Strategie eines Austauschs teurer Industriegüter gegen billige Rohstoffe derart ausgeplündert, dass ihre Märkte weitgehend zusammengebrochen sind und sie als Abnehmer für die Waren der Industriegesellschaften nur noch in Betracht kommen, wenn eben diese Industriegesellschaften ihnen Kredite einräumen und also via obliqua einer Stützung der Märkte in ihren zu Entwicklungsländern stilisierten ehemaligen Kolonien ihre eigenen Industrien subventionieren. Um an Geld und als ernsthafte Konsumenten für den industriellen Warenstrom in Betracht zu kommen, müssten sich diese Bevölkerungen ihrerseits industrialisieren, ihrerseits Wertschöpfung betreiben können. In dem Maße aber, wie ihnen das gelänge und sie sich aus ihrer Armut herausarbeiteten, würden sie sofort zu Konkurrenten der Industrieländer und würden, mit eigenen Warenkontingenten auf deren Märkten auftretend, die dortigen Absatzprobleme zwangsläufig noch vergrößern.
Die Zweischneidigkeit dieses Sanierungsrezepts für die Weltwirtschaft machen schlaglichtartig die wenigen, zumeist im ostasiatischen Raum anzutreffenden Nationen der Dritten Welt deutlich, die sich dank der historischen, kulturellen, geographischen und demographischen Voraussetzungen, die sie mitbringen, in der Lage zeigen, Anschluss an das westliche Industrialisierungsniveau zu gewinnen und, wie einen landeseigenen Markt zu schaffen, so auf den Märkten der etablierten Industrieländer als konkurrenzfähige Anbieter aufzutreten. Einerseits figurieren diese Nationen als große Hoffnungsträger, weil sie im Zusammenhang mit dem Aufbau ihrer Volkswirtschaften den etablierten Ökonomien Absatzchancen eröffnen. Andererseits aber werden sie als die große gelbe Gefahr aus dem Fernen Osten gehandelt, weil sie in zunehmendem Maße ihre eigenen Produkte in den internationalen Warenstrom einspeisen und die bestehende Absatzkrise damit nicht nur verschärfen, sondern auch zu einem Verdrängungswettbewerb nutzen, für den sie dank ihrer vergleichsweise niedrigen Produktionskosten und der technischen Avanciertheit ihrer neuen Produktionsanlagen und Fertigungsmethoden bestens gerüstet sind.
Dabei bleibt hier ganz ausgeklammert und sei nur beiläufig erwähnt, dass eine erfolgreiche Industrialisierung der Dritten Welt in den durch die Industrieländer des Westens vorgegebenen Dimensionen, ein Aufschließen der übrigen Weltgegenden zu dem vom Westen erreichten Konsumniveau, aus ökologischer Sicht einer Schreckensvision gleichkommt, weil die auch so schon hinlänglich geschundene und an den Rand ihrer homöostatischen Balance gebrachte Erde unter der gesammelten Wucht einer zur terrestrischen Monokultur ausufernden Menschheit, deren ganzes, monoman-unbescheidenes Glück in den gut gefüllten Regalen des Supermarks liegt, zweifellos zusammenbrechen müsste. Eine nur allzu wünschenswerte Egalisierung der wirtschaftlichen Versorgungslage und gesellschaftlichen Reproduktionsbedingungen der reichen und armen Länder der Erde hätte ein massiv erniedrigtes Konsumniveau der reichen Länder und die Bereitschaft der armen, sich mit diesem Niveau zufrieden zu geben, zur ökologisch unabdingbaren Voraussetzung – und wer sollte in einer Welt, die mittlerweile dem kapitalistischen Credo vom ununterbrochenen ökonomischen Wachstum als dem sine qua non jeglicher organischer Erhaltung global huldigt, eine solche Bescheidung und Selbstbeschränkung durchsetzen wollen oder können?
An der unter Bedingungen einer gesellschaftlichen Reproduktion, die dem kapitalistischen Akkumulationsprinzip und seiner spezifischen Rationalität unterliegt, offenkundigen Unlösbarkeit der Krise ändert auch jene in Wirtschaft und Politik derzeit propagierte und als Allheilmittel angepriesene "Lösungsstrategie" nichts, die darauf zielt, durch die Liberalisierung des Arbeitsmarkts und den Abbau des Sozialstaats eine Senkung der direkten Kosten und indirekten finanziellen Belastungen der industriellen Produktion zu erreichen beziehungsweise der Industrie die Mittel für weitere, zur Erhöhung der Produktivität taugliche Rationalisierungsmaßnahmen im industriellen Bereich zu verschaffen. Ziel dieser von den einzelnen Volkswirtschaften nach der Devise des "Rette sich, wer kann" ausgebrüteten Strategie ist die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit durch Verbilligung der Produkte des Landes. Die Vertreter der jeweiligen Volkswirtschaft sollen so die Möglichkeit erhalten, die internationale Konkurrenz auszustechen und auf einem Weltmarkt, der in fast allen relevanten Bereichen an einem chronischen Überangebot krankt, ihre Waren dennoch loszuschlagen. Dass die Strategie auf Kosten der binnenwirtschaftlichen Kaufkraft, sprich, zu Lasten des Absatzes im eigenen Land geht, wird dabei in der eitlen Hoffnung auf Exportsteigerungen akzeptiert, die groß genug sind, um zur Entstehung neuer Arbeitsplätze und auf diesem Wege schließlich zur Schaffung neuer Kaufkraft im Lande zu führen.
Eitel ist diese Hoffnung nicht nur deshalb, weil ja angesichts der weltweiten Absatzkrise das Kapital nichts weniger im Sinn hat als die Initiierung neuer Produktionsprozesse und deshalb die Gewinne, die sie aus ihren dank Senkung der Produktionskosten verbilligten, sprich, konkurrenzfähig gemachten Produkten zieht, beileibe nicht in neue Arbeitsplätze investiert, sondern ausschließlich in zur weiteren Verbilligung der Produkte dienliche Rationalisierungsmaßnahmen steckt. Eitel ist die Hoffnung auch und vor allem deshalb, weil ja die auf solche Weise unter Konkurrenzdruck gesetzten anderen Volkswirtschaften es dem erfolgreichen Wettbewerber mit gleicher Münze heimzahlen, ihre eigenen Produktionsprozesse mittels Sozialabbau und Verwilderung des Arbeitsmarkts ebenfalls zu verbilligen suchen und sich alle so in einen internationalen Preiskampf verstricken, der, statt zu dauerhaften Vorteilen bei der Wertrealisierung, vielmehr nur zu produktivitätsbedingt immer weiter wachsenden Warenmengen führt, während er gleichzeitig die Kaufkraft der beteiligten Bevölkerungen, ihre Wertrealisierungskapazität, immer weiter schwächt.
Eine binnenwirtschaftliche Komplementärstrategie zur Strategie der zur Erhöhung der internationalen Konkurrenzfähigkeit der einzelnen Volkswirtschaften betriebenen sozialen Verwilderung, die sich derzeit im Meinungsbildungskonsortium der Politik und der Medien ebenso großer Wertschätzung erfreut wie letztere, sind Steuersenkungsprogramme zwecks Belebung der Konsumtätigkeit. In den unteren Schichten können solche Steuersenkungen freilich bestenfalls eine Kompensation des durch den Sozialabbau bedingten Kaufkraftverlusts bewirken und versprechen also hinsichtlich einer Steigerung der Konsumkapazität dort kaum Effekt. Folgerichtig tendieren sie deshalb auch dazu, vor allem jene mittelständischen oder gar großbürgerlichen Gruppen zu begünstigen, deren Steueraufkommen am meisten ins Gewicht fällt und die sich traditionell ja auch als tragende Säulen des Konsums bewährt haben. Weil aber verantwortlich für die mittlerweile chronische Absatzkrise die Übersättigung und konsumtive Überforderung nicht zuletzt jener Gruppen ist, schlägt auch dieser Belebungsversuch fehl und hat am Ende nur zur Folge, dass das jenen Gruppen in die Tasche gespülte zusätzliche Geld von ihnen als Kapital angelegt wird und also, statt den Markt vom Warenüberschuss zu befreien, mit seinen Renditeerwartungen vielmehr auf neue Produktionsprozesse drängt oder vielmehr, da ja angesichts der chronischen Absatzkrise neue Produktionsprozesse wenig erfolgversprechend sind, zwecks Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit in die weitere Rationalisierung der vorhandenen Produktionsprozesse fließt – mit dem obligaten Ergebnis fortgesetzten Arbeitsplatzabbaus, sinkender Kaufkraft und wachsender staatlicher Sozialausgaben.