8. Der Bildungsroman

Von dieser Präokkupation mit der Herstellung des für ein Leben in Schönheit unabdingbaren zwischengeschlechtlichen Konsenses geschlechtsneutraler Gemeinschaftlichkeit legt die literarische Reflexion des 19. Jahrhunderts ebenso beredt Zeugnis ab, wie die des 18. Jahrhunderts von der Erziehung der Sinne und der Vorbereitung auf die Ehe durch eine empfindsamkeitskultliche Domestizierung des Geschlechtstriebes kündet. Dabei findet die Bereitschaft der literarischen Phantasie, sich vom eigentlichen Programmpunkt des Jahrhunderts, dem der paradigmatisch-ästhetischen Selbstverwirklichung, abhalten beziehungsweise abbringen zu lassen und bis auf unabsehbar weiteres alle Kräfte auf das Geschlechterverhältnis und dessen dem Zweck der ästhetischen Selbstverwirklichung gemäße Einrichtung zu konzentrieren, ihren Grund in der gleichen Motivation, die schon zur literarischen Entfaltung des Empfindsamkeitskultes die Antriebskraft lieferte. Der Beweggrund, sich auf die Klärung des Geschlechterverhältnisses als formaliter die Vorbedingung, tatsächlich aber das Substitut für ein Leben in Schönheit einzulassen, ist die heimliche Faszination durch die sexuelle Versuchung, das unerklärte Bedürfnis des Bildungsbürgers, ungeachtet des Imperativs einer mit aller asozial-sexuellen Paarbildung unvereinbaren paradigmatisch-ästhetischen Lebensführung an der im weiblichen Gegenüber Gestalt werdenden Geschlechtsperspektive festzuhalten.

Wie dieses Bedürfnis in der Wiederkehr des Verdrängten, in der auf die eine oder andere Weise symptomatisch durchgesetzten Resexualisierung der als asexuelle Gesinnungsgenossin reklamierten Frau seinen objektiv-unbewußten Ausdruck findet, so verschafft es sich nun subjektiv-bewußte Präsenz in der Auseinandersetzung mit dem wiedergekehrten Verdrängten, im Versuch, die Frau von allen Resexualisierungssymptomen zu befreien und als idealisierte Gesinnungsgenossin im Dienste des Schönen zu stabilisieren. Nur eben, daß das Bedürfnis nach Festhalten der Geschlechtsperspektive bewußte Präsenz ausschließlich im negativen Sinne, bloß in der Form seiner Bestreitung und Abwehr gewinnt! Dem Bildungsbürger des 19. Jahrhunderts ergeht es demnach nicht anders als dem lebemännischen Bürger des 18. Jahrhunderts. Beiden gelingt es, gegen alle von der sei's aktuellen, sei's ideellen Instanz der bürgerlichen Gesellschaft verfügte Neutralisierung des Geschlechterverhältnisses eine Art von Geschlechtsperspektive, eine so zu nennende sexuelle Beziehung zum weiblichen Gegenüber aufrechtzuerhalten. Beide aber müssen diese intentionale Insubordination mit funktionaler Botmäßigkeit büßen: Aufrechterhalten dürfen sie die Geschlechtsbeziehung nur in negativer Form, das heißt, nur als etwas, das sei's durch die tugendkultliche Idealisierung der Frau, sei's durch die humanitätskultliche Sublimierung des Verhältnisses zu ihr mit allen Kräften bekämpft und so bald als möglich überwunden werden muß.

Parallelität beweisen der bürgerliche Möchtegern-Lebemann des 18. und der privatisierende Bildungsbürger des 19. Jahrhunderts nun aber auch in dem Punkte, daß dieses Festhalten an der Sexualität in der Form ihrer Negation, diese Reaffirmation der geschlechtlichen Versuchung, die in nichts als in deren Bestreitung und Abwehr bestehen darf, den einen wie den anderen in ein unlösbares Dilemma verstrickt. Weil der Bildungsbürger des 19. Jahrhunderts von etwas nicht lassen kann oder will, woran er nur festhalten kann oder darf, wenn er ebenso beharrlich wie vergeblich alles daransetzt, es loszuwerden, verrennt er sich mit seinem Kampf um die in ihrer sublimen Reinheit und Innigkeit von sexuellen Anfechtungen bedrohte gleichgesinnte Priesterin des Schönen in denselben circulus vitiosus, in dem sich schon der Lebemann des 18. Jahrhunderts mit seinem Kult um die in aller Tugendhaftigkeit einer quasisexuellen Inbrunst und seelenvollen Empfindsamkeit frönende künftige Mutter seiner Kinder verfing. Eine Lösung für diesen dilemmatischen Zirkel eines Festhaltens an der geschlechtlichen Verlockung, das die Form eines dem Festgehaltenen um jeden Preis zu leistenden Widerstands und einer mit allen Mitteln anzustrebenen Distanzierung von ihm hat, gibt es weder hier noch dort; hier wie dort ist es das Los der Beteiligten, sich im unabschließbaren Zirkel aus Abwehr der Lust und Lust an der Abwehr im buchstäblichen Sinne totzulaufen.

Und zwar in einer Buchstäblichkeit ohne Wenn und Aber, soweit es den Bildungsbürger betrifft! Für den bürgerlichen Lebemann des vorhergehenden Jahrhunderts gibt es ja, wie gesehen, noch das zur Via regia der Eheanbahnung geratende Hintertürchen einer bloß metaphorischen Bedeutung der Totlauf-Figur. Gibt es zwar auch für den Lebemann keine regelrechte Lösung und spezifische Bewältigung des dilemmatischen Zirkels, so bleibt ihm doch immerhin die Möglichkeit eines kurzentschlossenen Auswegs und abrupten Entrinnens aus dem Teufelskreis. Vom Gefühlsüberschwang und den körperlich-seelischen Ergüssen des Empfindsamkeitskultes erschöpft und des ebenso fruchtlosen wie inbrünstigen Tanzes ums Goldene Kalb der Tugend überdrüssig, kann er mit anderen Worten dort endlich Einzug halten, wovor er mit dem Resultat des schließlichen Einschwenkens in die empfindsamkeitskultliche Zirkelbahn ursprünglich Reißaus nimmt: im Ehehafen, im Schoß der von ihm selbst zu gründenden Familie. Und er kann sogar, was dann ja auch allgemeiner Usus wird, seinen in den Empfindsamkeitskult und dessen quasisexuell antisexuelle Emotion einmündenden sexuell motivierten Ausbruchsversuch in nachträglicher Funktionalisierung als wenn schon nicht zielstrebige, so doch zweckmäßige Vorbereitung auf die entsexualisierte Ehe, als in der Erschöpfung geschlechtlicher Energie, in Triebabfuhr bestehende Einübung ins Familienleben ausgeben. Weil die als gesellschaftliches Soll, als normative Bestimmung firmierende Ehe beim empfindsamkeitskultlichen Zirkel gar nicht ins Spiel kommt, weil an ihrer Statt die Tugend, eine innergeschlechtliche Abwehr des Geschlechtlichen, eine quasisexuelle Verdrängung der Sexualität, die gesellschaftliche Position im Zirkel vertritt, bleibt sie, die Ehe, als allemal anrufbare unbeteiligte Instanz, als neutraler Topos, der jederzeit vor den kultischen Verstrickungen des Zirkels Zuflucht bietet, als lachender Dritter, in dessen kühlen Schoß man sich stets aus dem heißen Getümmel des selbstentzündlich emotionalen Überschwanges hinüberretten kann, erhalten.

Nicht so beim Bildungsbürger und seinem Kult um die als Gleichgesinnte im Dienste des Schönen, als schöne Seele reklamierte Frau. Was beim bürgerlichen Lebemann des 18. Jahrhunderts noch in reine Jungfrau und Kindsmutter strikt geschieden ist, zeigt sich beim Bildungsbürger des 19. Jahrhunderts zur verquasten Figur der Diotima, der mit nichts als mit Schönheit schwanger gehenden seelengemeinschaftlichen Konsortin, verschmolzen. Zwar ist es die zur schönen Seele und wahlverwandtschaftlichen Schwester kurzerhand sublimierte Frau, mit der der Bildungsbürger einen Bund schließt, der ganz ebenso wie die Ehe, die der Lebemann eingeht, dem Zweck dient, sich der Versuchung durch eine privatim asoziale Geschlechtlichkeit ein für allemal zu entziehen. Aber weil dieser vor dem Altar des Schönen geschlossene und der Pflege des Schönen geweihte eheanaloge Bund anders als die auf Familiengründung abgestellte Ehe weder eine von der bürgerlichen Gesellschaft sanktionierte offizielle Institution ist, noch über einen Popanz wie die Tugend verfügt, der dafür sorgt, daß die Gegenspielerin, die Sexualität, auf einem Ersatzschlachtfeld à la Empfindsamkeitskult ihr Pulver verschießt und sich quasi aus eigener Kraft aufreibt und zur Strecke bringt, weil vielmehr dieser eheähnliche Bund eine bloß vom privatisierenden Bildungsbürger selbst, wenn auch im Namen einer besseren Gesellschaft, getragene Konstruktion ist, die zudem nur das Resultat einer als Sublimierung figurierenden pauschalen Verdrängung der Sexualität, eines bloßen Sich-Erhebens über die ansonsten unangetasteten Niederungen des Geschlechtlichen darstellt, ist zwangsläufige Konsequenz dieses eheanalogen Bundes die Rückkehr des Verdrängten in medias res dessen, was es verdrängt: Die oberflächlich unterdrückte und in ihrer triebhaften Intentionalität ungebrochene, nicht mit sich selbst in Widerstreit gebrachte sexuelle Motion taucht symptomatisch an der Oberfläche selbst und in ihrer dem Schönen geweihten Physiognomie wieder auf.

Weil die als wahlverwandtschaftlich schöne Seele reklamierte idealische Frau eben nur eine abgehobene Setzung ist, unter der sich der geschlechtspartnerschaftlich reizvolle Leib der empirischen Frau in seiner ganzen, nur in toto unterdrückten, nur pauschal verdrängten Fülle und Lebendigkeit kontinuiert, liegt es quasi in der als Dialektik von Form und Inhalt wohlverstandenen Logik der idealischen Abstraktion selbst, ist es mit anderen Worten eine Sache des der schönen Seele innewohnenden Zwangs zur Konkretisierung und Komplettierung, daß sich an oder in ihr, was sich hinter oder unter ihr verbirgt, in wie immer durch ihre abstrakte Präsenz symptomatisch entstellter, änigmatisch gebrochener Form zum Vorschein bringen muß. Und wie also die zur schönen Seele idealisierte Frau es ist, die den durch sie verdrängten geschlechtlichen Leib der Frau eben deshalb, weil sie ihn bloß verdrängt, zwangsläufig wieder zum Vorschein bringt und als ihre eigene symptomatische Fehlanzeige erneut in Szene setzt, so ist sie es nun aber auch, die gegen das in ihrer epiphanischen Aura wiederkehrende Verdrängte erneut aufgeboten und als gegen die Falschheit des Sexuellen aufrecht- und reinzuerhaltende Wahrheit des Ideellen geltend gemacht wird. Wird die idealische Figur der zur wahlverwandtschaftlichen Gesinnungsgenossin und schönen Seele abstrahierten Frau aber gegen das in ihrer Aura wiederkehrende Verdrängte als apotropäisches Gegenmittel und als nachverdrängende Instanz aufgeboten und gelingt es tatsächlich, sie vom symptomatisch Wiedergekehrten zu befreien und in ihrer abstrakten Reinheit und sublimen Bildoberflächlichkeit zu reaffirmieren, so ist damit doch nichts weiter erreicht als ein neuerlicher Ausgangspunkt für die Wiederkehr des Verdrängten, eine als die idealische Figur Gestalt gewordene Suggestion an das unter der Bildoberfläche Verborgene, einmal mehr symptomatisch zum Vorschein zu kommen.

So gesehen ist klar, daß – anders als der zur Gründung einer Familie eingegangene, gesellschaftlich sanktionierte Ehebund – der zur Pflege des Schönen geschlossene und als – wenn auch im Vorgriff auf eine bessere Gesellschaft – bloßer Privatkontrakt konzipierte Gesinnungspakt aus dem dilemmatischen Zirkel einer in ihrer Abwehr sich reproduzierenden sexuellen Versuchung nicht nur nicht herausführen kann, sondern sich im Gegenteil immer tiefer in ihn verstricken muß. Weil die zur schönen Seele und wahlverwandtschaftlichen Gesinnungsgenossin abstrahierte Frau ihr vexierbildliches Alterego, das weibliche Geschlechtswesen, im Doppelsinne des Wortes beschwört, weil sie es, indem sie es bannt, herausfordert und das Herausgeforderte nur wiederum bannen kann, um es damit erneut herauszufordern, ist sie die sicherste Garantie dafür, daß der Zirkel, den sie formell zu durchbrechen dient, sich materiell durch sie immer neu schließt und kontinuiert. Dabei ist, wie die Rede vom vexierbildlichen Alterego bereits anzeigt, das geschilderte verdrängungspraktisch-dynamische Verhältnis zwischen schöner Seele und geschlechtlichem Körper einfach nur die Einlösung der zwischen beiden bestehenden sublimierungstheoretisch-topischen Beziehung, sprich, Einlösung der Tatsache, daß die vor den Altar des Schönen zitierte sublime Frau dank der qua Privatsphäre und ausschließliche Zweierbeziehung gegebenen Rahmenbedingungen doch immer ein verfängliches Konterfei zu der mit dem Garten der Lüste winkenden sexuellen Frau bleibt, die sie mit Verdrängungsimpetus ersetzt.

Weil in der Domäne der gesellschaftlich isolierten Frau, der Privatsphäre, nur deren sekundäre Sozialisierung durch ehelichen Haushalt und familiäre Kinderaufzucht das Geschlechterverhältnis davor bewahren kann, seiner Abstraktheit und Funktionslosigkeit zu erliegen und sich zur asozialen Geschlechtsbeziehung zu konkretisieren und leerlaufreaktiv zu entfalten, hält sich, wie auch immer der ins Privatleben verbannte Bildungsbürger dies Verhältnis zum anderen Geschlecht privatim zu revidieren und im Sinne seines ästhetisch-paradigmatischen Selbstverwirklichungsprogramms zu sublimieren strebt, das Ergebnis im Rahmen der Ausgangsbedingungen und bleibt ein unwillkürliches Abbild und topischer Platzhalter dessen, was es ersetzen soll. Unfähig, das zu vollbringen, was die als Übertragung einer funktionellen Aufgabe und einer praktischen Tätigkeit bestimmte Sozialisierung leistet, nämlich der Frau, ihrer privatisierten Existenz zum Trotz, eine quasi öffentliche Präsenz und bürgerliche Identität zu verschaffen, bleibt die in kultureller Imagepflege oder ideologischem Persönlichkeitswandel sich erschöpfende Sublimierung der Frau zum Scheitern verurteilt, weil Basis der Sublimierung die unverändert privatisierte und um allen gesellschaftlichen Bezug gebrachte weibliche Existenz ist und weil das in solcher Privatisierung beschlossene entmischte Geschlechtswesen Frau, das die Sublimierung formaliter zu negieren und aufzuheben vorgibt, realiter immer aufs neue in actu der Sublimierung gesetzt und reaffirmiert wird.

Welche Form das Scheitern der sublimierenden Integration der Frau ins ästhetisch-paradigmatische Projekt des privatisierenden Bildungsbürgers annimmt, hängt von der Art ab, wie das verdrängte Geschlechtswesen wiederkehrt, in welcher Modalität es sich in oder an der schönen Seele, zu der sich die Frau verklärt findet, zur Geltung bringt. Mindestens drei solcher Modalitäten lassen sich unschwer erkennen. Als Modus der synthetischen Ergänzung läßt sich bezeichnen, was Goethe in den "Wahlverwandtschaften" vorführt. Die Absicht des Helden Eduard, mit der Heldin Charlotte ein dem Schönen geweihtes und exemplarischen Humanisierungsbemühungen, der Überführung roher Natur in Kulturlandschaft, gewidmetes Leben zu zelebrieren, wird dadurch durchkreuzt, daß sich der Heldin mit Ottilie ein weibliches Komplement und vexierbildliches Pendant beigesellt, durch das die sexuelle Begehrlichkeit des Helden erregt wird. Daß sich dem Helden ein entsprechendes männliches Komplement, Otto, zugesellt, von dem die Heldin auf vergleichbare Weise affiziert wird, und daß sich dadurch das Dreiecks- zu einem Vierecksverhältnis erweitert, soll hier weitgehend unberücksichtigt bleiben. Diese Geschlechtersymmetrie, die darstellungstechnisch zu den auszeichnenden Charakteristika und großartigsten Einfällen des Romans gehört, findet in den sonstigen Romanbearbeitungen des 19. Jahrhunderts, deren Thema das Problem eines bildungsbürgerlich sublimierten Cherchez la femme ist, keine Entsprechung, und dürfte wohl eher der bereits im Zusammenhang mit Werther angesprochenen besonderen Triebdisposition Goethes, seiner Affinität zum weiblichen Part, geschuldet als Ausdruck eines bewußten Protests gegen die fortdauernde geschlechtsspezifisch eindeutige Rollenverteilung sein – wie übrigens auch in den Wahlverwandtschaften selbst die Symmetrie gegen Ende immer mehr schwindet und der traditionellen Fokussierung auf das Verhältnis des einen Mannes zu den beiden Frauen Platz macht.

Gegen die These von der Wiederkehr des Verdrängten in Form einer synthetischen Ergänzung stellt keinen Einwand dar, daß das wiederkehrende Verdrängte, das Gegenstück der Heldin, wie übrigens auch das des Helden, als eigenständige und in ihrer Individualität relativ ausgearbeitete Person auftritt. So wichtig dieser Umstand ist, weil er allein verhindert, daß der Roman sich zur Allegorie verflüchtigt, so sehr kommen doch der wesentlich projektive Charakter und die wesentlich allegorische Funktion der beiden Pendants schon in der Entsprechung ihrer Namen zum Ausdruck. Vollends dann zur Geltung kommen sie in der Schlüsselszene des Romans, der geschlechtlichen Vereinigung des Helden und der Heldin, wo sich das leibliche Gegenüber jeweils projektiv in sein Gegenstück überführt findet und wo beide in flagranti des sexuellen Vexierbildes und triebhaften Komplements, als das sich ihnen das Pendant ergibt und ex improviso des Verhältnisses zum Partner aufdrängt, miteinander Ehebruch treiben. Das projektive Auftauchen des als Sexualobjekt interessierenden Gegenstückes zu der als Partnerin beim ästhetischen Geschäft figurierenden Heldin sorgt dafür, daß die Beziehung zu dieser scheitert. Sinnbild des Scheiterns ist der Tod des gemeinsamen Kindes, das, schon bei seiner Zeugung als verknüpfendes Band durch die heimliche Anwesenheit der anderen Frau diskreditiert, deren unheilvoller Gegenwart erliegt und ertrinkt oder, um im Bild vom verknüpfenden Band zu bleiben, zerreißt. Die Zerstörung der ästhetisch-sublimen Beziehung zwischen Eduard und Charlotte bedeutet indes keine Erfüllung der sinnlich-sexuellen Beziehung zwischen Eduard und Ottilie. Als die Heldin dem Helden entsagt und das Feld räumt, verliert auch das Pendant seinen Existenzgrund und gibt sich in Form einer asketischen Selbstvernichtung den Tod. Die dem Dienst am Schönen sich weihende sublime Frau und das zur Liebe verführende Geschlechtswesen Frau erkennt Goethe als kommunizierendes System. Wie die schöne Seele der Verdrängung des Geschlechtswesens entspringt, so ist auch das wiederkehrende Verdrängte, das Geschlechtswesen in seiner symptomatische Virulenz entwickelnden Form, wesentlich an die Voraussetzung der schönen Seele gebunden und durch sie bestimmt. Keines ist ohne das andere lebensfähig, beide können sich nur gegenseitig im Doppelsinn von Evokation und Abwehr beschwören und zugrunde richten.

Eher im Modus einer analytischen Abspaltung kehrt in Tolstois "Krieg und Frieden" und in Dostojewskis "Der Idiot" das verdrängte Ge- schlechtswesen wieder. Die einem ästhetischen Leben an der Seite des Bildungsbürgers sich weihende, zum Part einer wahlverwandtschaftlichen Gesinnungsgenossin an der Seite des Mannes bereite Frau sieht sich mit einer Nebenbuhlerin konfrontiert, die kein vexierbildliches Gegenstück, sondern bloß ein störfaktoreller Aspekt, kein komplementäres Gegenstück, sondern nur ein rudimentäres Spaltprodukt ist. Ohne daß die ästhetisch fundierte, sublime Geschlechterbeziehung in ihrem Geltungsanspruch in Frage gestellt würde und ohne daß die Beziehung zur Frau als Geschlechtswesen den Charakter einer wirklichen Alternative gewänne, ist doch die störfaktorelle Intervention und desorientierende Einwirkung der als Spaltprodukt erscheinenden Nebenbuhlerin groß genug, um die Verwirklichung der angestrebten idealen Verbindung zu torpedieren und zu hintertreiben. Dabei spielt keine Rolle, ob, wie im "Idiot", der Aspekt des faszinierenden sexuellen Körpers die Eigenständigkeit einer von der erwählten schönen Seele, der Heldin Aglaja, unabhängigen Frauengestalt, Nastassjas, gewinnt und der zwischen beiden Gestalten hin und hergerissene Mann, Myschkin, für die Zusammengehörigkeit beider einsteht oder ob, wie in "Krieg und Frieden", die Heldin, Natascha ihre Aspekte in der eigenen Person zusammenhält, und die sie auf unterschiedliche Weise begehrenden Männer Pierre, Andrej und Anatol es sind, in denen diese Aspekte leibhaftige Präsenz gewinnen. Das Scheitern der angestrebten idealischen Beziehung ist so oder so vorprogrammiert, egal ob deshalb, weil Myschkin unter dem Vorwand der Anteilnahme und der Bemühung um die moralische Rettung oder redintegrative Aufhebung des Spaltprodukts Nastassja an der Beziehung zu letzterer bis in den Tod festhält, oder ob deshalb, weil Natascha von der ihrer schöngeistigen Beziehung zu Pierre in die Quere kommenden Begeisterung für Andrej und dann für Anatol nicht loskommt und das in ihnen verkörperte sexuelle Störpotential am Leben erhält.

Im Modus einer katalytischen Zersetzung lassen schließlich Gottfried Keller in "Der Grüne Heinrich" und Charles Dickens in "David Copperfield" das verdrängte Geschlechtswesen wiederkehren. Ohne Einwirkung von außen, das heißt, ohne den Auftritt einer Nebenbuhlerin sei's in Gestalt einer vexierbildlich synthetischen Ergänzung, sei's in Form einer störfaktorell analytischen Abspaltung, fängt die sublime Frau, die idealische Gleichgesinnte, quasi von innen heraus an, sich zu zersetzen. Ohne daß sich an der Figur der schönen Seele eigentlich etwas änderte, ohne daß sie als solche Frage gestellt würde, erweist sie sich als nicht lebensfähig, macht sich in ihr das verdrängte Geschlechtswesen als die heimliche Fehlanzeige ihres abgehobenen Daseins, als ihr kruzifikatorisches Moment von Substanzlosigkeit geltend. Bei Dickens ist es regressive Infantilisierung, Caprice, was Dora zugrunde richtet, bei Keller ist es anämisches Dahinwelken, Schwindsucht, was Anna den Garaus macht. Hier wie dort kehrt das Verdrängte nicht in eigener Gestalt, nicht einmal in symptomatischer Entstellung wieder, sondern in der rein negativen Funktion einer die schöne Seele in den Konkurs ihrer schönen Scheinhaftigkeit, ihrer Leere und Haltlosigkeit treibenden und eben deshalb vernichtenden Reflexion.

Aus dem Dilemma der vom Bildungsbürger reklamierten sublimen Frau und Seelengefährtin, die eben das Geschlechtswesen, das sie apotropäisch bannt und verdrängt, symptomatisch beschwört und wieder zum Vorschein kommen läßt, führt kein Weg heraus. Entrinnen ließe sich dem Dilemma und dem in ihm beschlossenen Scheitern nur, wenn es gelänge, nach dem Muster der empfindsamkeitskultlichen Triebbewältigung die Geschlechtsperspektive mit sich selbst zu entzweien und sich zugrunderichten zu lassen, die sexuelle Versuchung nach Art der qua Tugendkult praktizierten triebhaften Selbstvereitelung abzureagieren und wegzuarbeiten. Wie aber sollte das möglich sein, da ja unter den neuen Lebensbedingungen des bildungsbürgerlichen Privatiers hierfür weder die Zeit noch der Raum bleibt und das vom Bildungsbürger zwecks Wahrung seiner bürgerlichen Identität und persönlichen Integrität in Angriff genommene ästhetisch-paradigmatische Selbstverwirklichungsprogramm mit der vorhergehenden Beseitigung des die Privatsphäre unsicher machenden weiblichen Geschlechtswesens oder Gefahrenherdes Frau steht und fällt und dem Bildungsbürger deshalb gar keine andere Wahl bleibt, als jene mit der Verdrängung des Geschlechtswesens synonyme Verklärung der Frau zur sublimen Gesinnungsgenossin und schönen Seele zu vollziehen, die dann das Dilemma aus Evokation und Abwehr, aus Wiederkehr des Verdrängten und Verdrängung des Wiedergekehrten, zwangsläufig heraufbeschwört?

Die Suggestion einer Triebbewältigung nach dem Modell der empfindsamkeitskultlichen Selbstneutralisierung der geschlechtlichen Motion erzeugt Tolstoi in "Krieg und Frieden" durch den konstruktiven Einfall, den männlichen Aspekt des Bildungsbürgers, der sich auf das in Natascha virulente Geschlechtswesen bezieht, in zwei miteinander in Konflikt geratende Figuren, Andrej und Anatol, zu zerlegen. Indem der über allen bildungsbürgerlichen Verdacht erhabene, als adliges Alias den normalen Bürger des 18. Jahrhunderts vertretende Andrej ex improviso seiner besten ehelichen Absichten den Wollüstling und Verführer Anatol auf den Plan ruft, decouvriert er sich in letzterem und geht an der hiermit offenbaren Wahrheit seiner selbst zugrunde. Daß er in seiner Todesstunde Anatol noch verzeiht, ist Ausdruck des Bewußtseins seiner geheimen Identität mit dem Verführer und macht aus dem Tod, den er gesucht hat, einen Sühneakt und Opfertod. Dies aber, daß er sich selbst aus der Welt schafft, dispensiert den bildungsbürgerlichen Helden Pierre von der sexuellen Hypothek und Involviertheit in die triebhafte Perspektive, während andererseits der in Selbstaufhebung resultierende Widerstreit zwischen den beiden um die Gunst des Geschlechtswesens Natascha buhlenden Männer Andrej und Anatol der Umworbenen Gelegenheit gibt, die im Zusammenhang mit dem Empfindsamkeitskult als Schule der Frauen firmierende Gefühlserziehung zu absolvieren und sich für eine von der geschlechtlichen Perspektive befreite Ehe tauglich zu machen. Am Ende sind Pierre und Natascha zu einer vom Verdrängten und seiner Wiederkehr emanzipierten Verbindung imstande – allerdings nur in gebührendem zeitlichem Abstand zu den turbulenten Ereignissen des zwischen ästhetischer Seelenverwandtschaft und sexueller Attraktion rotierenden dilemmatischen Zirkels, der, insofern zu seiner Auflösung die äußerlichste und gleichgültigste aller Mächte, die Zeit, bemüht werden muß, in seiner eigentümlichen inneren Unauflösbarkeit noch einmal bekräftigt wird.

Und die vom Verdrängten emanzipierte Verbindung beider ist nun auch nicht etwa Einlösung der eigentlich intendierten, vor dem Altar der Ästhetik geschlossenen und dem Dienst am Schönen geweihten Hierogamie der schönen Seelen, sondern ist nichts weiter als ein Aufguß der guten alten prosaischen, durch möglichst zahlreiche Nachkommenschaft als gesellschaftliche Einrichtung ausgewiesenen Ehe, in der die Heldin sich auf den Part der hausbackenen, in Haushalt und Kinderaufzucht wie Hefeteig aufgehenden Mutter reduziert findet, während der Held allen ästhetischen Ambitionen, allen paradigmatischen Selbstverwirklichungsansprüchen entsagt hat und, soweit er nicht in seiner Rolle als geehrter Familienvorstand Erfüllung findet, seine Rentiersexistenz dazu nutzt, sich als Möchtegern-Weltverbesserer und reformistischer Geheimbündler einen neuen gesellschaftlich-politischen Auftrag und bürgerlich-praktischen Wirkungskreis zurechtzuphantasieren.

Nicht einmal diesen Aufguß der traditionellen bürgerlichen Familie bringen bei ihrem Versuch, den unentrinnbaren Zirkel aus ästhetisch überhöhtem Geschlechterverhältnis und verdrängter Sexualbeziehung dennoch zu transzendieren, Gottfried Keller in seinem "Grünen Heinrich" und Charles Dickens in "David Copperfield" zustande. Auf jede empfindsamkeitskultanaloge Trieberziehungsanstrengung und geschlechtliche Selbstneutralisierungsprozedur verzichtend, suchen sie Befreiung vom Zirkel einzig und allein durch den zeitlichen Abstand, die alles heilende Zeit. Indes, auch noch so viel zeitlicher Abstand kann aus der schwindsüchtig-anämischen Anna, der regressiv-infantilen Dora keine haltbare Ehefrau zaubern. Um dem negativen Resultat, dem Tode und Untergang der beiden sublimen Frauengestalten, dennoch eine positive Wendung geben, eine brauchbare Lebensgefährtin abtrotzen zu können, müssen Keller und Dickens sich eines faulen Tricks bedienen: Sie müssen das Hausmütterchen, das nach dem dilemmatischen Zirkel das Feld behaupten und als dea ex machina auf der Szene erscheinen soll, vor allem Zirkel bereits in Anschlag gebracht und dem Helden quasi in die Wiege gelegt haben. Weil Judith und Agnes von Anfang an da sind, ohne eigentlich in den Zirkel aus ästhetischer Sublimierung und sexueller Versuchung verstrickt zu werden, können sie am Ende das Erbe ihrer unseligen Vorgängerinnen Anna und Dora antreten.

Allerdings – und hier rächt sich die Strategie, der abstrakten Zeit die Befreiung aus dem dilemmatischen Zirkel zu überlassen, und wird zugleich der regressiv-infantile Grundzug der durch einen Trick erschlichenen Lösung deutlich! – ist das Ergebnis ebensowenig ein normales Ehe- und Familienleben, wie die das Feld behauptenden Frau normale Haus- und Familienmutter ist. Vielmehr ist sie Mutter höchstens und nur für den Helden selbst, ist dieser am Ende ihr einziges Kind, und ergibt sich mithin als in der Schlußkonstellation redendes Fazit, daß als Alternative zur nicht in irgendeiner empfindsamkeitskultanalogen Form weggearbeiteten privativ sexuellen Beziehung nur die Regression in narzißtisch vorsexuelle Abhängigkeitsverhältnisse bleibt.

Daß am Ende gar kein richtiges Familienleben steht, daß hier die Lösung sich auf die ebenso traute wie entsexualisierte, kurz, regressive Zweisamkeit des Helden und seiner ihn mütterlich hegenden, ihn zum alleinigen Inhalt ihrer familiären Fürsorge machenden Ehefrau reduziert, bedeutet indes nicht, daß die vom Bildungsbürger ursprünglich intendierte Ehe vor dem Altar des Schönen und im Dienste einer dem Schönen geweihten paradigmatischen Lebensform irgendwie zustande käme. Nicht weniger als bei Tolstois Pierre ist auch bei Kellers Heinrich und bei Dickens' David die zweifelhafte Salvierung der Beziehung zum anderen Geschlecht und Stiftung eines haltbaren Ehebundes unabdingbar geknüpft an den Verzicht auf jede in der Privatsphäre zu verfolgende ästhetisch-paradigmatische Selbstverwirklichungsperspektive und an die Rückkehr des Bildungsbürgers aus seiner zum höheren Gemeinschaftsstreben verklärten häuslichen Verbannung in den lebendigen Schoß und öffentlichen Raum der bürgerlichen Gesellschaft sans phrase. Was bei dem seine Frau als Gebärmaschine gebrauchenden Familiengründer Pierre noch im Verdacht eines bloßen Möchtegern-Weltverbesserertums und mithin einer bloßen Spintisiererei, eines bloßen müßigängerischen Projektes steht, das kehrt bei den ihre Frauen als Mütter beanspruchenden Spätheimkehrern Heinrich und David den Charakter eines durchaus ernstzunehmenden Entschlusses zum Dienst am Gemeinwesen hervor: Keine Frage, daß Heinrich seine künftige Bestimmung ebensosehr in der Kommunalpolitik suchen, wie David fortan seine Erfüllung in der philanthropischen Betätigung finden wird.

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