3. Der Kult der Empfindsamkeit
Über eine praktisch-reale Sabotage der dem Geschlechterverhältnis mittels bürgerlicher Familie gegebenen Neufassung kommt also der Mann nicht hinaus – auch nicht in der "positiven" Wendung, die er seinem Protest gegen die Auflösung des Geschlechtslebens ins Familienleben durch Rekurs auf die Prostitution verleiht und durch die er letzterer ermöglicht, sich zu einer unanfechtbar festen und unübersehbar elaborierten Einrichtung der bürgerlichen Gesellschaft zu entfalten. Weiter führt und mehr bewegt da schon die andere Form des Aufbegehrens, die oben unter dem Begriff der theoretisch-mentalen Reserve eingeführt wurde. Hier sucht der geprellte Mann, was ihm die Wirklichkeit versagt und was er in der Wirklichkeit auch nur negativ, im Modus der Sabotage des anders Bestehenden geltend machen kann, in der Phantasie, in der Ausbildung einer kontrafaktischen Vorstellungswelt, festzuhalten beziehungsweise überhaupt erst zu gewinnen. In der Erzählform des Romans, dem für das 18. und 19. Jahrhundert maßgebenden Medium der kontrafaktischen Reproduktion von Wirklichkeit, ihrer Übersetzung in Phantasie, wird in immer neuen Anläufen versucht, die Frau aus der Bastion ihrer quasisozialen Präokkupation mit der Familie herauszulocken und in das als maßgebliche, wo nicht gar als ausschließliche Dimension des Geschlechterverhältnis in Aussicht gestellte Geschlechtsleben, allen gesellschaftlichen Widerständen zum Trotz, zu verwickeln. Allerdings fordert dieser Trotz, den der Mann den gesellschaftlichen Widerständen gegen die Auflösung des Geschlechterverhältnisses in eine sexuelle Beziehung bietet, seinen Preis. Schließlich steht der Mann der Gesellschaft nicht als außergesellschaftliches Wesen gegenüber, sondern gehört ihr an, und insofern sind die Widerstände, die sie gegen die Reduktion des Geschlechterverhältnisses auf die Geschlechtsbeziehung mobilisiert, auch seine eigenen Widerstände, die er überwinden beziehungsweise mit denen er sich und sein mittels Phantasietätigkeit wider den Stachel löckendes Verlangen nach eben jener Reduktion zum Kompromiß vergleichen muß.Wichtigstes Moment der Kompromißbildung, die der bürgerliche Mann auf diese Weise produziert, ist die Verleugnung seiner selbst in der Rolle des handelnden Subjekts, dies, daß in seiner literarisch artikulierten Phantasie der auf der Sexualbeziehungsperspektive insistierende Täter nicht er, das bürgerliche Individuum, der potentielle oder aktuelle Haushaltsvorstand einer bürgerlichen Familie, sondern ein Aristokrat, ein Angehöriger der alten Oberschicht ist, deren gesellschaftlich nach wie vor privilegierte Stellung und separierte Lebensführung vom aufsteigenden Bürgertum, wie einerseits psychologisch-insgeheim bewundert und mit Neid betrachtet, so andererseits ideologisch-explizit abgelehnt und als gleichermaßen ökonomisch, politisch und moralisch verwerfliche Anmaßung und Überhebung angeprangert wird. Diesen Aristokraten läßt der Bürgersmann stellvertretend für sich handeln, läßt er an seiner Statt der bürgerlichen Frau nachstellen, um sie zur Wahrnehmung des Geschlechterverhältnisses als einer wesentlich durch die Sexualität bestimmten Beziehung zu verführen. Daß der bürgerliche Mann die Verfolgung der ineins ersehnten und verpönten, angestrebten und abgelehnten Sexualperspektive an den aristokratischen Konkurrenten und Klassengegner delegiert, findet dabei ein Moment von objektiver Berechtigung, einen quasi empirischen Anhaltspunkt in der stärkeren geschlechtlichen Aktivität, die im Vergleich mit den unteren Klassen die Aristokratie in der Tat entfaltet, und in der größeren sexuellen Freizügigkeit, die sie dabei genießt.
Durch das für die frühe Neuzeit grundlegende absolutistische Bündnis zwischen Königsherrschaft und aufkommendem Bürgertum sieht sich die Aristokratie aus ihren angestammten territorialen Machtpositionen vertrieben und um ihre traditionellen repräsentativen Zuständigkeiten gebracht, kurz, sie erscheint politisch weitgehend dysfunktionalisiert. Bestenfalls erhalten die um ihre gesellschaftlichen Funktionen gebrachten Adligen neue, mehr oder minder ernsthafte Aufgaben als Staatsbeamte im Dienste der absolutistischen Bürokratie, als Militärs im Solde der absolutistischen Armee oder als Statisten im Rahmen des absolutistischen Hofs und seiner auf Kosten der bürgerlichen Steuerzahler als Haupt- und Staatsaktion zelebrierten spektakulär-zeremoniellen Prachtentfaltung; schlimmstenfalls und das heißt, wenn es ihnen nicht gelingt oder sie nicht bereit sind, sich der absolutistischen Macht des Königs zu unterwerfen und sich in seine Verwaltung, sein Offizierskorps oder sein Gefolge einzureihen, sitzen sie auf ihren Landgütern und frönen dem Müßiggang, mit anderen Worten, langweilen sich. Wenn sie auch als korporative Schicht, als Stand, politisch funktionslos geworden sind, ihre ökonomisch bevorzugte Stellung ist ihnen einigermaßen erhalten geblieben. Sei's, daß sie Pfründen oder Gehälter vom Hofe beziehen, sei's, daß sie ihre eigenen Güter bewirtschaften oder vielmehr durch Verwalter bewirtschaften lassen, sei's, daß sie, wie zunehmend der Fall, ihre Ländereien verpachtet haben und von der Grundrente leben – so oder so leben sie jedenfalls im Wohlstand, wo nicht im Überfluß, und haben damit die Möglichkeit, ihren Müßiggang oder ihre Pseudookkupationen mit konsumtiv-hedonistischen Aktivitäten und Unterhaltungen auszufüllen beziehungsweise zu verbinden.
Dabei spielt bei dieser auf Konsum und Zeitvertreib gerichteten absolutistisch-arikstokratischen Lebensführung die Pflege des Geschlechtsverhältnisses naturgemäß eine zentrale Rolle. So gewiß dank der Lustprämien, die sie bereithält, die Sexualität seit jeher eine wesentliche menschliche Befriedigungsweise und Genußform darstellt, so gewiß muß ein Dasein, das – wie das aristokratische im Absolutismus – in der Hauptsache der von sonstigen Verpflichtungen entbundenen Befriedigung leiblich-seelischer Bedürfnisse und dem von Not und Sorgen befreiten Konsum von Genußmitteln, kurz, einem umfassenden Wohlleben, gewidmet ist, auf die Sexualität als auf ein tragendes Element solchen Wohllebens zurückgreifen. Das Ergebnis solchen Rückgriffs ist der galante Lebensstil des 17. und 18. Jahrhunderts, die zwischen Kultiviertheit und Ausschweifung, zwischen Spiel und Frivolität, zwischen Vergnügen und Genußsucht, zwischen Zeitvertreib und Abenteuerlust changierende höfische Lebensart, in der beide Geschlechter, Männer und Frauen, miteinander wetteifern und mit der die Aristokratie den übrigen gesellschaftlichen Klassen, insbesondere der aufstrebenden bürgerlichen, das ebenso faszinierende wie provozierende und ebenso eindrückliche wie abstoßende Beispiel einer von praktischen Zwängen und moralischen Einschränkungen relativ freien, ebenso privativ-libertären wie selbstgenüßlich-hedonistischen Existenz gibt.
Diese aristokratisch-galante, privilegiert-müßiggängerische Lebensart also mit ihrer naturgemäß starken Akzentuierung, um nicht zu sagen Hypertrophierung, der Sexualität verleiht der Stellvertreterrolle, für die im Hinblick auf seine eigenen geschlechtlichen Phantasien der Bürger den Aristokraten in Dienst nimmt, ein Moment von empirischer Fundierung und darstellerischer Plausibilität. Dennoch bleibt, was in dem der bürgerlichen Phantasietätigkeit entspringenden Romangenre, in dem er als Stellvertreter figuriert, der Aristokrat tut und vollbringt, das auf ihn bloß verschobene, an ihn als Substitut bloß delegierte Tun des Bürgers selbst. Dafür spricht nicht nur die Tatsache, daß entgegen dem Anspruch, den in der aristokratischen Wirklichkeit beide Geschlechter auf den Genuß der galanten Lebensform erheben, in den literarischen Phantasien ausschließlich das männliche Geschlecht für diese Lebensform rekrutiert wird und zu ihr privilegiert erscheint und daß also in der romanesken Verarbeitung des aristokratischen Sittenwandels das bürgerliche Geschlechterverhältnis mit seiner eindeutigen Bevorzugung des Mannes in der Rolle des handelnden Subjekts über die relative Gleichberechtigung der Geschlechter, durch die sich die aristokratische Lebenspraxis auszeichnet, den Sieg davonträgt. Vom Stellvertretungscharakter des aristokratischen Tuns zeugt auch und vor allem, daß es ausschließlich oder jedenfalls vornehmlich bürgerliche Frauen sind, auf die der literarisch figurierende Aristokrat ein Auge wirft und in bezug auf die er das Geschlechterverhältnis als wesentlich eine Geschlechtsbeziehung zur Geltung zu bringen sucht, daß also in der Tat der Aristokrat die soziale oder ständische Perspektive dessen, für den er einsteht, übernimmt und als die seine verfolgt.
Wer sich nun allerdings durch diese letztere Tatsache zu der Annahme und Erwartung verleiten ließe, mit der einen Kompromißbildung, zu der sich der phantasierende Bürger gezwungen sieht, mit der Übertragung nämlich der Rolle des handelnden Subjekts auf den Aristokraten, habe es auch schon sein Bewenden und der stellvertretend für den Bürger handelnde Aristokrat könne nun gegenüber dem originalen Objekt der bürgerlichen Begierde, der eigentlichen Adressatin des Bürgers, der bürgerlichen Frau, das ungehindert ins Werk setzen, wonach dem Bürger selbst der Sinn steht, der ginge gründlich in die Irre. Jene gesellschaftlichen Widerstände, die dem phantasierenden Bürger bezüglich der eigenen Person und Identität in die Quere kommen und ihn dazu zwingen, sich hinter der Figur des Aristokraten zu verstecken, sie machen sich nun ebensosehr im Blick auf sein sexualpartnerschaftliches Gegenüber, die bürgerliche Frau, geltend und nötigen ihn, diese realistischer zu präsentieren, als der phantastischen Absicht lieb sein kann.
In der Tat unterscheidet sich ja, wenn wir uns diese kurze kunsttheoretische Zwischenbemerkung gestatten dürfen, eine literarisch artikulierte Phantasietätigkeit vom abstrakten Tagtraum oder entmischt leerlaufreaktiven Halluzinieren eben dadurch, daß den Widerständen gegen die Bedürfnisbefriedigung, der sie dient, auf der ganzen Linie Rechnung getragen wird – und zwar in der Weise Rechnung getragen wird, daß die Widerstände nicht etwa bloß in den Bereich, den die Phantasietätigkeit okkupiert und in dem sie sich entfaltet, episodisch-kursorisch einbrechen beziehungsweise neurotisch-symptomatisch in ihm aufbrechen, sondern daß sie sich in diesem Bereich, während sie ihn einerseits als Bezugsrahmen akzeptieren und sich auf seine topisch-strukturellen Bedingungen einlassen, doch zugleich andererseits als seine organisierenden Reflexionspunkte, als ihn dynamisch-funktionell definierende Bezugsgrößen zur Geltung bringen. Nur so kann ja das phantasierende Subjekt, dessen Identität schließlich beides: individuelle Triebbedürfnisse und gesellschaftliche Widerstände umfaßt, die Phantasie als sein eigenes Tun erkennen und sich mit dem Resultat als mit einem nicht um den Preis regressiver Entmischung und Selbstreduktion erkauften Werk identifizieren, daß es – selbst auf die Gefahr hin, sich die dadurch beschränkte Befriedigung überhaupt zu verderben – die den Triebbedürfnissen Folge leistende Wunscherfüllung mit einem den Widerständen Genüge tuenden Moment von Realitätswahrnehmung vermittelt.
Im Falle der bürgerlichen Frau, die als Objekt und Adressatin der vom bürgerlichen Mann in seiner literarischen Phantasietätigkeit eingeklagten und unter dem Inkognito des aristokratischen Stellvertreters ins Werk gesetzten Geschlechtsbeziehung figuriert, ist dieses Moment von wahrgenommener Realität, das in die Wunscherfüllungsperspektive eingeht und sich als Sachwiderstand in ihr zur Geltung bringt, die Tugend. Tugend ist die in die Geschlechtstriebsperspektive übergegangene und in ihr als eine Art von Gegentrieb wirksam werdende Summe der gesellschaftlichen Rücksichten und persönlichen Vorbehalte, die die bürgerliche Frau in der sozialen Empirie daran hindern, sich auf das Sexualverhältnis, auf das sie formaliter reduziert ist, realiter einzulassen, und die sie statt dessen motivieren, auf jener neutralisierenden Verwandlung des ehelichen Geschlechtslebens ins bürgerliche Familienleben zu bestehen, die ihr gleichermaßen eine quasi gesellschaftliche Existenz und Wirksamkeit und ein Moment von Eigenständigkeit und persönlicher Identität garantiert. Zwar gelingt es der literarischen Phantasietätigkeit des bürgerlichen Mannes, die Klassengenossin in den Bannkreis der vom aristokratischen Substitut erhobenen sexuellen Ansprüche zu versetzen, aber so wahr sich der Phantasierende den Konditionen, die allein seine Phantasie zur Kunst, das heißt, zur gesellschaftlich anerkannten Gegenvorstellung, machen, unterwirft, so wahr muß er sich gefallen lassen, daß die ins Reich der Phantasie Entführte eben den Widerstand, den sie der Reduktion des Geschlechterverhältnisses auf eine Geschlechtsbeziehung in Wirklichkeit beweist, ex improviso ihrer phantasierten Wunscherfüllungsexistenz wieder hervorkehrt und als quasi integrierenden Bestandteil ihres Trieblebens, als eine den geschlechtlichen Bestrebungen, die sich auf sie richten und auf die sie reagiert, kongeniale spontane Gemütsregung zur Geltung bringt.
In der Tat ist Beweis dafür, daß dem bürgerlichen Mann in seiner Phantasietätigkeit gelungen ist, die Geschlechtsbeziehung als eine auch für die Frau verbindliche, eine auch sie, die prospektive Sexualpartnerin, fesselnde und okkupierende Perspektive durchzusetzen, eben dies, daß der Widerstand, den die Frau in der gesellschaftlichen Wirklichkeit solcher Vereinnahmung leistet, die objektiv – das heißt, in Lebensprojekten, in Rollenerwartungen, in Rücksichten auf andere – begründete ablehnende Haltung, mit der sie dem Ansinnen des Mannes begegnet – daß also der gesellschaftliche Widerstand, die objektive Ablehnung nicht mehr als solche, das heißt, als das Subjekt von außerhalb bestimmende Faktoren, auftauchen, sondern nurmehr in der dem Geschlechtstrieb anverwandelten Form eines Triebes sui generis, eines subjektiven Bedürfnisses nach geschlechtlicher Enthaltung, Bewahrung der Jungfräulichkeit, Erfüllung des Gebots weiblicher Sittsamkeit, kurz, eines eigengetriebenen, emotionsgetragenen Strebens nach Tugendhaftigkeit in Erscheinung treten. Nicht, daß die Wahrung gesellschaftlichen Anstands und die Befolgung moralischer Normen oder der Anspruch auf persönliche Integrität und das Streben nach bürgerlicher Geltung als Bezugsrahmen oder Orientierungspunkt tugendhaften Verhaltens überhaupt verschwunden wären! Daß zwischen einerseits einem tugendhaften Lebenswandel und andererseits dem Faktum äußerer gesellschaftlicher Erwartungen und Zwänge beziehungsweise dem Objektiv persönlicher Selbstbehauptungs- und Selbstverwirklichungsinteressen ein gleichermaßen inhaltlich-thematischer und funktionell-systematischer Zusammenhang besteht, gerät durchaus nicht aus dem Blickfeld.
Aber sowenig tugendhaftes Verhalten der Angst vor öffentlicher Mißbilligung und gesellschaftlichen Sanktionen beziehungsweise dem Streben nach persönlichem Erfolg und bürgerlichem Status entspringen darf, wenn es seinem Anspruch auf Tugendhaftigkeit genügen will, sosehr erscheint es überhaupt frei von aller generischen Verbindung zu jenen äußeren Faktoren, bar aller kausalen Abhängigkeit von dergleichen objektiven Bestimmungsgründen und vielmehr in monadischer Eigenständigkeit vollkommen aus sich heraus motiviert und vom eigenen Elan getragen: Weit entfernt davon, daß zwischen der Tugend und den als "Triebfedern" ihr sich aufdrängenden äußeren Faktoren ein direkter Wirkungszusammenhang angenommen werden dürfte, ist das Äußerste an Beziehung, das hier zu imaginieren statthaft ist, eine Art magisches Korrespondenzverhältnis zwischen beidem, eine ad majorem gloriam der Moralität der bürgerlichen Gesellschaft etablierte prästabilierte Harmonie.
Dies also ist der spezifische Kompromiß, den die auf Überführung des Geschlechterverhältnisses in eine schiere Geschlechtsbeziehung dringende literarische Phantasietätigkeit des bürgerlichen Mannes erzielt: Zwar muß der gesellschaftliche Widerstand und objektive Vorbehalt, der auf Seiten des Objekts der Phantasietätigkeit, der bürgerlichen Frau, der Realisierung und Entfaltung solch einer reinen Sexualperspektive entgegensteht, im Zuge der Phantasietätigkeit Anerkennung finden und in der phantasierten Geschlechtsbeziehung zu seinem Recht kommen; aber zu seinem Recht kommt er dabei nicht etwa als dieser äußere Widerstand und äußere Vorbehalt, sondern als ein in die Sexualperspektive übergewechseltes und ihrem Bewegggrund, dem Sexualtrieb, ebensosehr anverwandeltes wie zuwiderlaufendes Motiv, als eine der Emotion des sexuellen Begehrens ebensosehr nachgebildete wie entegengesetzte moralische Regung, kurz, als die dem Laster der Wollust, in deren Schranken sie tritt, an Irrationalität und Spontaneität in nichts nachstehende Tugend der Keuschheit.
Daß so der phantasierten Geschlechtsbeziehung gelingt, den gegen sie sich geltend machenden gesellschaftlichen Widerstand und objektiven Vorbehalt auf ihre Perspektive einzuschwören und ihren Spielregeln zu unterwerfen, muß sie allerdings teuer bezahlen. Tatsächlich wird der in eine innere Bestimmung, die Tugend, transformierte äußere Widerstand und Vorbehalt in dieser integrierten Form eines triebförmigen Motivs zum schlechthinnigen Transzental und ausschlaggebenden Konstitutiv des von der Phantasie reklamierten Trieblebens der Frau. Indem der im aristokratischen Inkognito auftretende bürgerliche Mann die Frau mit dem Ansinnen seines geschlechtlichen Begehrens bedrängt und sie dazu bringen will, die sexuelle Perspektive als eine das Geschlechterverhältnis definierende Grundbestimmung im Verein mit ihm zu entfalten, provoziert er als einzige Reaktion bei ihr den in seiner Spontaneität quasi bedingten Abwehrreflex ihrer Tugend. Abwehrreflex ist die Tugend insofern, als sie die Frau veranlaßt, sich dem Ansinnen des Mannes zu verweigern. Aber Abwehrreflex ist die Tugend auch und mehr noch insofern, als sie die Frau dazu nötigt, ihre Verweigerung gegen den eigenen Geschlechtstrieb durchzusetzen und aufrechtzuerhalten. Auch wenn sie dem Mann ihren Körper vorenthält und sich weigert, ihre materiale Geschlechtlichkeit in die von ihm intendierte Beziehung einzubringen, läßt sie sein Antrag doch nicht gleichgültig, ist sie im Grunde ihrer Seele davon angesprochen, im Schoße ihres Herzens davon fasziniert.
Eben darin besteht ja die andere, wunscherfüllende Seite des von der literarischen Phantasietätigkeit des Mannes mit der Realitätswahrnehmung geschlossenen Kompromisses, daß die das Geschlechterverhältnis mit Geschlechtlichkeit koinzidieren lassende Perspektive als für das Verhältnis maßgebende Bestimmung tatsächlich zum Tragen kommt – und zwar für beide, das heißt, sowohl für den Mann der die Initative ergreift, als auch für die Frau, die darauf reagiert und in solcher Reaktion ein Moment von Resonanz zu erkennen gibt. Vom Mann umworben und aufgefordert, ihm sexuell zu Willen zu sein, entdeckt die Frau im Grunde Ihres Herzens, im Schoße ihres Schoßes diesen Willen als ihren eigenen Drang, realisiert sie, was der Mann ihr als seine Triebperspektive aufdrängen will, als in unmittelbarer Spiegelung von ihr auf den Mann zurückgewendetes Korrespondenzverhältnis. Nur eben gerät dies korrespondierende sexuelle Motiv, das der Triebwunsch des Mannes in ihr wachruft, nun sogleich mit dem anderen Moment der Kompromißbildung, dem gegen die Sexualperspektive sich verwahrenden gesellschaftlichen Widerstand, in Konflikt.
Und zwar wird es, wie gesagt, auf ihrem eigenen Grund und Boden mit ihm handgemein, das heißt, es findet sich mit ihm als mit einer selber triebförmigen Instanz, einer spontanen Gegenmotion konfrontiert. Was auf den oberflächlich ersten Blick noch ein Vorteil scheinen könnte, da demnach ja der Widerstand dem sexuellen Motiv die Wahl des Austragungsortes und der Waffen überläßt, sich den Kampfregeln des sexuellen Motivs unterwirft, erweist sich indes bei näherem Hinsehen als gravierender Nachteil. Indem der Widerstand ad hoc der geschlechtlichen Motion in deren eigener Sphäre als spontaner Gegentrieb, als Tugend, auftaucht, bewährt er sich im Sinne eines Transzendentals, das die geschlechtliche Motion in toto zwingt, über die Klinge seines kriteriellen Daseins zu springen und sich in seinem Brechungsmedium von Grund auf zu reorientieren. Qua Tugend avanciert der Widerstand zum subjektinternen Organisationspunkt, der die geschlechtliche Motion gar nicht erst als solche zu sich selbst und zur Entfaltung kommen läßt, sondern sie sogleich ins Bockshorn der von ihm geltend gemachten Rücksicht jagt, in die Revision der von ihm vertretenen alternativen Perspektive schickt.
Bliebe der Widerstand jenseits der Geschlechtsperspektive, in die der Mann die Frau involvieren will, bliebe er äußerlich gegebener Zwang oder rational bestimmter Vorbehalt, die Frau könnte ihre geschlechtliche Reaktion auf das Ansinnen des Mannes erst einmal als solche zur Kenntnis nehmen und als die eigene in Erfahrung bringen, ehe sie dann den Widerstand sich gegen das zur Kenntnis Genommene geltend machen, es reduzieren, modifizieren, eliminieren lassen müßte. Nun aber ist der die Wirklichkeit repräsentierende Widerstand, weil die Geschlechtsperspektive ein der Suspendierung der Wirklichkeit, ihrer Verdrängung entspringendes Phantasieprodukt ist, kein als ein Unverdrängtes außerhalb der Geschlechtsperspektive bleibendes, sondern ein als Verdrängtes in ihr wiederkehrendes Moment – und als dies innerhalb der Perspektive wiederkehrende Verdrängte läßt er die letztere gar nicht als solche zum Zuge kommen, sich am Leitfaden ihrer eigenen Beweggründe entwickeln, sondern funktioniert sie stante pede um in eine Perspektive, die in ihm, so wie er in ihr erscheint, ihren transzendentalen Reflexionsort, ihren absoluten Fluchtpunkt findet.
Fürwahr ein hoher Preis, der für die von der Phantasietätigkeit des Mannes durchgesetzte Thematisierung des Geschlechterverhältnisses als reinen Geschlechtsverhältnisses gezahlt werden muß! Zwar fühlt sich die Frau vom Verlangen des Mannes angesprochen, zeitigt eine seiner Motion korrespondierende Reaktion, aber diese Reaktion zeigt sich unmittelbar umfunktioniert, aus einem Verlangen nach dem Geschlecht in ein Verlangen nach Tugend, aus der Bereitschaft, sich dem in sie dringenden Manne zu öffnen, in die Entschlossenheit konvertiert, tugendhaft zu bleiben und das heißt, einem spontan in ihr erwachten Trieb nach strikter Verbannung alles Geschlechtlichen aus dem Geschlechterverhältnis bis nötigenfalls in den Tod die Treue zu halten. In ein und demselben Augenblick, in dem sie erregt wird, verwandelt sich die dem Sexus geltende Motion in eine der Tugend geweihte Emotion, die physische Sinnlichkeit in psychische Empfindsamkeit, die somatische Lust in pathetisches Gefühl. Die ganze Energie des geschlechtlichen Triebes sammelt sich um den als Tugend firmierenden Widerstand und gewinnt darin ihre wesentliche Bestimmtheit, ihre Identität – aus der nach außen drängenden, initiativen sexuellen Bestrebung wird eine auf den Stachel im Fleisch der Geschlechtlichkeit, die Tugend, bezogene, rein innere, strikt reflexive Bewegung.
Durchbebt von der Lust zur Tugend, durchwogt vom berauschenden Gefühl ihrer Standhaftigkeit, durchschauert und bis zur Verzückung hingerissen vom Kult der schönen Seele, dem sie sich verschrieben hat, erlebt die ihre Jungfräulichkeit wahrende, dem Geschlechtsleben sich versagende Frau vergleichbare – um nicht zu sagen, die haargenau gleichen – Freuden wie jene, die sie tugendhaft sich versagt. Daß die Tugendhaftigkeit, die Emotion jungfräulicher Reinheit vom selben Trieb, von derselben geschlechtlichen Energie gespeist wird wie die sexuelle Motion, aus deren Konversion sie hervorgeht, davon zeugt der Überschwang, der sie beseelt, die enthusiastische Hingabe, orgiastische Erregung, orgasmische Empfindung, von denen sie begleitet ist. Beim Tanz, den der von der Phantasietätigkeit des Mannes auf den Plan gerufene weibliche Geschlechtstrieb um das im eigenen Zentrum epiphanisch aufgerichtete goldene Kalb der Tugend vollführt, geht es ebenso sinnlich, ebenso lustvoll, ebenso feucht zu wie beim normalen Paarungstanz – nur daß die Sinnlichkeit keine Sache der äußeren Sensitivität und Reizung, sondern der inneren Sensibilität und Empfindung, die Lust kein Problem leiblicher Appentenz und Erregung, sondern eine Frage seelischer Schwärmerei und Erschütterung, der Erguß das Resultat einer Ausschüttung der Tränensäcke statt einer Sekretion der Geschlechtsdrüsen ist.
Errungenschaft dieser ins Innere der Person zurückgenommenen und am internalisierten gesellschaftlichen Widerstand gegen sich selbst sich begeisternden, am quasi spontanen Gegentrieb gegen ihr eigenes Treiben sich entzündenden, kurz, in der paradoxen Form einer als Tugendhaftigkeit exzessiven Selbstvereitelung sich befriedigenden sexuellen Erregung ist die bürgerliche Seele, jener erstmals im 18. Jahrhundert erschlossene triebdynamische Binnenraum und selbstreflexive Erfahrungstopos, der als Schauplatz und Opferstätte des ums goldene Kalb der Tugend zelebrierten Kults der Empfindsamkeit in dieser Frühzeit seines Bestehens noch ganz und gar als ein geschlechtsspezifisches Privileg, nämlich als Hoch- und Trutzburg der von der Phantasietätigkeit des bürgerlichen Mannes in die Schranken einer rein sexuellen Beziehung geforderten bürgerlichen Frau erscheint. Indem die Frau sich durch den phantasierenden Mann von dem ihr gesellschaftlich vorgeschriebenen Kurs in den Ehehafen, der ihr sittlich verordneten Zielbestimmung des Familienlebens abgebracht und in das Geschlechterverhältnis als reine Geschlechtsbeziehung verwickelt findet, reagiert sie darauf mit jener immanent spontanen Abwehrform, in der sich der Gegenwille des phantasierenden Bürgers selbst Ausdruck verschafft, deren theoretischer Zentralbegriff und praktisch organisierendes Zentrum die Tugend ist und die als Kompromißgebilde das ebensosehr in seinem intentionalen Inhalt aufs Familienleben gerichtete wie in seiner emotionalen Form dem Geschlechtsleben nachgebildete Seelenleben gebiert.
Kompromiß ist das Seelenleben in der geschilderten, hochkomplexen Form: Einerseits ist es Resultat des gesellschaftlichen Widerstands, der als Gegentrieb, als Tugend, inmitten der geschlechtsperspektivischen Motion, gegen die er sich richtet, auftaucht und diese als konstitutiver Reflexionspunkt, als förmliches Transzendental in eine ihm selber geltende emotionale Veranstaltung umzentriert, das intendierte Geschlechtsleben also in ein der geschlechtlichen Versagung, der Tugend, geweihtes Leben umfunktioniert. Andererseits aber ist das Seelenleben Repräsentant des Geschlechtslebens, weil es durch die Art und Weise, wie es sich dem qua Tugend auftauchenden Widerstand gegen das Geschlechtsleben weiht, Zeugnis von der latenten Haltbarkeit und bleibenden Virulenz des letzteren ablegt und diesem ein schier unvergängliches, weil höchst lebendiges Denkmal setzt. Den qua Tugend internalisierten Widerstand libidinös besetzend oder vielmehr kultisch überdeterminierend, hält das Seelenleben eisern an ihm fest, verleiht ihm unverbrüchlichen Bestand und arretiert ihn als Kronzeugen für den nicht minder unverbrüchlichen Fortbestand dessen, wogegen sich der Widerstand ja richtet und um dessentwillen er in seiner Abwehrfunktion und Verwahreigenschaft überhaupt nur da ist.
Und Kronzeugin dessen, wogegen sie aufgeboten wird, ist nun aber die Tugend nicht etwa bloß in dem tautologisch formalen, trivial negativen Sinn, daß sie zwangsläufig für das einsteht, was sie in die Flucht geschlagen, nolens volens auf das hindeutet, was sie des Feldes verwiesen hat, und daß sie also, nachdem sie alle Bekanntschaft mit dem Geschlechtsleben dementiert und letzteres zur schieren Absenz verurteilt hat, kraft dieses ihres Tuns als die gegen Unbekannt erstattete Anzeige, das dem Abwesenden nachsinnende Dasein zurückbleibt – erschöpfte sich ihre Kronzeugenschaft hierin, es wäre nur eine Frage der Zeit, daß sich über das dementierte, absentierte Geschlechtsleben der Mantel tatsächlichen Vergessens breitete und sie, die Tugend, als ein ebenso formell bedeutungsvoller wie materiell nichtssagender erratischer Block dastünde beziehungsweise die Literaturlandschaft zierte. Kronzeugin für das von ihr verdrängte Geschlechtsleben ist die Tugend vor allem und mehr noch in der phänomenologisch realen, emphatisch affirmativen Bedeutung einer unmittelbaren Wiederkehr des Verdrängten in dem an ihr, der Tugend, sich entzündenden und ein inbrünstig-empfindsames Gefallen findenden Seelenleben selbst. Weit entfernt davon, das vom Schauplatz vertriebene Geschlechtsleben bloß ex negativo der eigenen abstrakten Insistenz, das heißt, bloß in Gestalt der triumphierenden Fehlanzeige und Verlustmeldung, die sie selber darstellt, zu bezeugen, ruft sie es vielmehr de facto der qua Seelenleben auf sie sich richtenden tränenfeuchten Erregung und an ihr sich entzündenden schwärmerischen Lust als lebendige Gegenwart auf den Plan.
In der Tat ist das von der phantasierten Frau in Reaktion auf den Paarungsantrag des Mannes entfaltete und gegen seine Dominationsgelüste als widerständig-eigne Domäne geltend gemachte Seelenleben, so betrachtet, nichts weiter als das zur Tugend konvertierte und damit aus einer triebhaft-sinnlichen Motion in empfindsam-sinnreiche Emotionen umgeschlagene Geschlechtsleben selbst, ist nichts anderes, als eben dies Geschlechtsleben, das sich angesichts des mitten in seiner Sphäre auftauchenden Widerstands, der ihm den Garaus machen will, durch einen Sprung an den Hals des Aggressors, eine ihm gegenüber eingeschlagene halsbrecherische Umarmungstaktik vor der möglichen Verdrängung, dem drohenden Feldverweis rettet. Das heißt, das Seelenleben ist einfach nur das Alias, das Inkognito, zu dem sich das Geschlechtsleben bequemt, um sich der Strafverfolgung durch die Tugend zu entziehen, ein Inkognito, das deshalb als perfekter Schutz und Schirm funktioniert, weil es einer als Flucht nach vorn bestimmbaren radikalen Verstellungsleistung, einem als Identifikation mit dem Aggressor beschreibbaren fundamentalen Wechsel nicht der Person, sondern der Intention, nicht des Charakters, sondern des Verhaltens entspringt.
Indem sie den potentiellen Geschlechtspartner durch die aktuelle Tugend ersetzt und dieser nun aber mit der gleichen Inbrunst begegnet, sie zu ihrem neuen Partner, quasi zu ihrem Bräutigam und Idol erwählt, indem sie also zwar den Gegenstand und Inhalt austauscht, nicht aber das Procedere und die Verhaltensform wechselt, schafft es die sexuelle Motion, ihrer Tabuisierung durch eben jene Tugend zu entrinnen und sich in deren heiligem Bezirk, an ihrer Asyl gewährenden Kultstätte als eine der Gottheit huldigende Gläubige, als die der Angebeteten zu Füßen liegende seelische Emotion zu behaupten und zu kontinuieren. Ihrem Feldverweis durch die Tugend kraft eines beherzten Sprunges in den Tempelbezirk der Aggressorin entronnen und hinter der Maske einer ihr sich weihenden seelischen Emotion versteckt, kann die sexuelle Motion sich ebenso faktisch ungehindert wie taktisch neubestimmt austoben und verwickelt damit nun aber sich und die Aggressorin in ein Kräftespiel von ebenso zirkulärer Unabschließbarkeit wie singulärer Paradoxie. Durch den unverkennbar libidinösen Charkater der seelischen Emotion, die sich ihr weiht, kann die Tugend gar nicht anders als sich zu kampfbereiter Wachsamkeit aufrütteln zu lassen. Aber da sie nun auf der Suche nach der abzuwehrenden Sexualregung um sich späht, gewahrt sie nichts weiter als die ihr zujubelnde, ihr Elogen machende, ihr zu Füßen liegende seelische Emotion, deren inhaltlich unbestreitbare Devotion das charakterlich ebenso unbestreitbare Moment von sexueller Motion, das sich darin verbirgt und erhält, gleich wieder überdeckt und zum Verschwinden bringt. Im selbstreproduktiven Zirkel oder eigentlich im permanenten Überlagerungszustand changierend zwischen gegenstandslosem Alarm und grundloser Beruhigung, zwischen verfehlter Abwehr und verfehltem Geltenlassen, liegt die Tugendhaftigkeit im Clinch mit einem Seeleben, das seinerseits haltlos wechselt zwischen Affirmation und Insubordination, zwischen dem Schwur auf die Tugend, der allem Sexualleben den Boden entzieht, und der Lust an der Tugend, die ein verkappter Schwur aufs Sexualleben ist.
Aus dem Teufelskreis, in dem sich die seelenvolle Frau der literarischen Phantasie des bürgerlichen Mannes somit verfängt, gibt es nur zwei Auswege, die der Hohepriester des Empfindsamkeitskultes, der Choreograph des Tanzes der weiblichen Seele um das Goldene Kalb der Tugend, Samuel Richardson, mit seinen bekanntesten beiden Frauengestalten vorführt. Clarissa wählt den Weg der natürlichen, immanenten Auflösung des Zirkels: bei ihr läuft sich die Seelenbewegung im Wortsinne tot, die Heldin stirbt an innerer Ermattung, emotionaler Erschöpfung. In ihren qua Seelenleben gepflogenen Intimverkehr mit der Tugend hat sie sich so sehr verstrickt, daß keine Berührung mit der Außenwelt, keine geschlechtliche Realerfahrung oder gesellschaftliche Realperspektive, keine erzwungene sexuelle Vereinigung oder in Aussicht gestellte eheliche Verbindung sie mehr tangieren oder fesseln kann und daß in der Tat das Ende ihres seelischen Exzesses, ihrer exaltierten Tugendhaftigkeit, nur der Tod sein kann. Pamela schlägt den gesellschaftlichen, realistischen Ausweg aus dem Teufelskreis ein: Auch hier läuft sich das ekstatisch um die Tugend kreisende Seelenleben tot, aber zuende ist damit eben nur das Seelenleben, der zum Widerstand konvertierte quasisexuelle Dauererregungszustand, selbst, während die beteiligten Personen, die seelenvolle Frau, die ihre quasisexuelle Lust gebüßt hat, und der durch sein Hin und Her zwischen enragierter Zudringlichkeit und fasziniertem Voyeurismus erschöpfte Mann, ernüchtert und geläutert aus dem Exzess hervorgehen, um in den Ehehafen einzulaufen und ein Familienleben zu begründen.
Was als Antithese zu Ehe und Familienleben intendiert war, wird so zu deren Propädeutikum; die auf die Geschlechtsbeziehung pochende Gegenbewegung gegen die gesellschaftliche Wahrnehmung des Geschlechterverhältnisses als einer im Dienste der Fortpflanzung und Erziehung stehenden sozialen Institution verwandelt sich unter der Hand ihrer eigenen Dynamik in eine flankierende Maßnahme und Stützaktion zur Durchsetzung und Aufrechterhaltung eben jener Wahrnehmung: Die Bewältigung und erschöpfende Bearbeitung der in psychische Emotion überführten sexuellen Motion, der in Empfindsamkeit umgewandelten Sinnlichkeit, der in Seelenleben aufgelösten Geschlechtslust wird zur kathartischen Voraussetzung für den Eintritt in ein von der sexuellen Obsession befreites, nicht mehr vom Gespenst einer qua Sexualität alternativen Lebensperspektive heimgesuchtes und nach Maßgabe seiner ehelich-familiären Verfaßtheit gesellschaftlich sanktioniertes Verhältnis zum anderen Geschlecht.
Was beim Stifter des Empfindsamkeitskultes noch eher eine aus dem Zwang zu einem glücklichen Ende, aus dem Wunsch, den tragisch-tödlichen Ausweg aus dem Teufelskreis zu vermeiden, geborene Notlösung ist und eine nach all den emotionalen Exzessen und Tränenergüssen wenig überzeugende Rückkehr zu bürgerlicher Nüchternheit und Wohlanständigkeit darstellt, avanciert nur zu rasch zur verbindlich-orthodoxen Lesart, zu einem regelrechten Patentrezept der empfindsamkeitsgetragenen Romanliteratur. Jener um die Tugend zentrierte seelenvolle Paarungstanz, der als ein in der männlichen Phantasie unternommener Ausbruchsversuch aus der dem Geschlechterverhältnis gesellschaftlich vorgeschriebenen Determination des Ehe- und Familienlebens beginnt und mit dem ursprünglich der Anspruch verknüpft ist, die durch die gesellschaftliche Entwicklung dem Geschlechterverhältnis eigentlich sich eröffnende Perspektive einer privativ-reinen Geschlechtsbeziehung gegen alle anderslautende gesellschaftliche Determination zur Geltung und zur Entfaltung zu bringen – jener quasisexuelle Reigen, der in seiner der Tugend geweihten Ausführung doch nichts anderes ist als die Dysfunktionalisierung der zielgerichtet sexuellen Motion zur emotionalen Leerlaufbewegung, die im Doppelsinn von Beseitigung und Bewahrung vollzogene Aufhebung des Geschlechtslebens im Seelenleben – er findet sich bei den Frauengestalten einer Jane Austen refunktionialisiert und nämlich in einen dem Eheschluß und der Familiengründung vorgeschalteten reinigenden Initiationstanz verwandelt. Wenn jetzt der Mann die Frau in die Schranken der Geschlechtlichkeit fordert und die Frau den männlichen Herausforderer die Mores seelenvoller Tugend lehrt, so ist der Pas-de-deux, den sie aufführen, nicht mehr die unwillkürliche Konsequenz und zwecklos-zwangsläufige Implikation des Interessenkonflikts zwischen einerseits dem Mann, der sich als Privatmann verwirklichen, und andererseits der Frau, die sich als gesellschaftliche Person behaupten will, sondern der Tanz dient nun dem erklärten Zweck, diesen im Geschlechterverhältnis schwelenden Interessenkonflikt, wenn schon nicht zu lösen, so jedenfalls doch vorweg sich austoben zu lassen, damit die für Ehe und Familie erforderliche Gemeinsamkeit eines entsexualisierten Fortpflanzungs- und Kinderaufzuchtinteresses Raum greifen und Geltung gewinnen kann.
Der voreheliche Kult der Empfindsamkeit ist nun nicht einfach mehr Resultat eines vom bürgerlichen Mann in der literarischen Phantasie unternommenen Ausbruchs- und Fluchtversuchs in die reine Geschlechtsbeziehung, den die phantasierte Frau, die Tugend als autogenes Realitätsprinzip ins Spiel bringend, ebensosehr inhaltlich durch jungfräuliche Sittsamkeit vereitelt wie in aller Form ihrer tränenreichen Seelenergüsse mitmacht – ist also nicht mehr ein als Kompromißbildung unwillkürliches Ergebnis, das sich in einer Schleife verfängt und bis zur Erschöpfung reproduziert und aus dessen unendlicher Kontinuation deshalb auch bestenfalls die sprunghaft-unvermittelte Rückkehr zur Tagesordnung einer gesellschaftlich sanktionierten Eheschließung und Familiengründung möglich ist – vielmehr wird eben diese Möglichkeit zum Rücksprung, zu der die schlechte Unendlichkeit des Empfindsamkeitskultes verhält, jetzt zum Anlaß genommen, ihm die Rolle eines regulären Propädeutikums zur Ehe, einer unabdingbaren Vorbereitung auf sie zuzuerkennen. Weil er sexuelle in seelische Energie umwandelt, die Motion des Triebes in die Emotion der Tugend überführt und in dieser Form einer wenngleich schlecht unendlichen Abreaktion zugänglich macht, wird nunmehr dem Empfindsamkeitskult die Aufgabe einer Beseitigung dessen zugeschrieben, was sich mit der Führung eines bürgerlichen Haushalts und dem Betrieb einer bürgerlichen Familie schlechterdings nicht verträgt, obwohl doch die spezifischen ökonomischen und sozialen Voraussetzungen der bürgerlichen Ehe und Familie eben dasjenige sind, was das zu Beseitigende allererst auf den Plan ruft und als Perspektive virulent werden läßt.
Der Empfindsamkeitskult beseitigt mit anderen Worten die Geschlechtsbeziehung als prospektiv eigenständige Sozialbeziehung, er erledigt vorweg die Sexualität in ihrem durch die spezifischen Umstände der bürgerlichen Ehe und Familie provozierten Anspruch, eine das Geschlechterverhältnis prägende Bestimmung zu sein. Die Frau lehrt er, ihre hystera unter Kontrolle zu bringen und das heißt, jene Hysterie auszuleben und ad acta zu legen, als die sich die tugendgeweihte seelische Emotion präsentiert, wenn die in ihr verkappte sexuelle Motion überhand nimmt und sie im Sinne symptomatischer Selbstinszenierungen dramatisiert, sprich, ins Pathologische überführt. Dem Mann bringt er bei, nicht zwar sich die Hörner abzustoßen – dafür hält die männerdominierte Gesellschaft eine eigene Dienstleistungseinrichtung, die Prostitution, bereit –, wohl aber im Umgang mit Anwärterinnen auf den ehefraulichen Status diese andernorts abgestoßenen Hörner abzulegen oder sie sich zu verkneifen und hinter den fürs Verhältnis zum anderen Geschlecht, ideologisch zumindest, maßgebenden Haltungen der Ritterlichkeit und Fürsorglichkeit verschwinden zu lassen.
Weil sich aufgrund der ökonomisch-sozialen Entwicklung der frühbürgerlichen Gesellschaft das Geschlechterverhältnis auf eine abstrakt-persönliche Zweisamkeit zwischen aushäusigem, gesellschaftlich werktätigem Mann und inhäusiger, privat dienstleistender Frau reduziert und in dieser Form Gefahr zu laufen scheint, sich zu einer wesentlich geschlechtlich bestimmten, die Sexualität zum gemeinsamen Hauptprojekt erhebenden, asozial-privativen Beziehung zu entfalten, und weil aber eine solche Identifizierung des Geschlechterverhältnisses als reiner Geschlechtsbeziehung weder dem Interesse der Gesellschaft entspricht, die über die Funktionen der Fortpflanzung und der Aufzucht der Nachkommen eine vergleichsweise unmittelbare Kontrolle behalten möchte, noch im Sinne der Frau ist, weil für sie unter den gegebenen Bedingungen der ökonomisch-sozialen Machtverteilung zwischen den Geschlechtern die Sexualisierung des Verhältnisses nur völlige Abhängigkeit vom Mann und den Verlust aller bürgerlichen Stellung und jeder öffentlichen Geltung bedeuten kann – weil dies so ist, besteht ein überwältigendes Interesse, die bedrohte Eheinstitution von dieser sie bedrohenden Sexualisierung freizuhalten. Das Geschlechtsleben, soweit es über die Funktion streng nur der gesellschaftlich überwachten Fortpflanzung und über das als Voraussetzung für ein friedliches familiäres Zusammenleben anzusehende Erfordernis einer innerehelichen Triebabfuhr und Sexualhygiene hinausgeht, hat in der Ehe nichts verloren; ihm wird vorweg der Prozeß gemacht und jede Lust, im Ehebett oder im Kreise der Familie fröhliche Urständ zu feiern, ausgetrieben. Und eben dies besorgt der Kult der Tugend und der Empfindsamkeit, der den Sexualtrieb sich im Layrinth der Seelentiefe verlieren, die sekretorische Motion sich in tränenreiche Emotion auflösen läßt und damit die doppelte kathartische Aufgabe erfüllt, die Schule der fühlenden Frauen und die Lehrjahre des männlichen Gefühls abzugeben.
So ganz und gar fügt sich bei Austen und der an sie anknüpfenden Gesellschaftsromantradition des 19. Jahrhunderts der Empfindsamkeitskult dieser ihm sekundär vindizierten funktionellen Rationalität, Vorstufe zur Ehe und Einübung in sie zu sein, daß von den erratisch-unsublimierten, versprengt-symptomatischen Triebäußerungen, die sich bei Richardson noch zuhauf finden, praktisch nichts mehr übrig bleibt. Weil Pamela und Clarissa unfreiwillig kompromißlerische Ausgeburten eines männlichen Ausbruchsversuchs aus der gesellschaftlichen Ehe in die private Geschlechtsbeziehung darstellen und weit entfernt davon sind, nach Art der Frauenfiguren Austens ex negativo einer als Entsexualisierung unschwer erkennbaren Überwindung kapriziöser Widerstände, egoistischer Bedürfnisse und emotionaler Bedrängnisse nichts sonst als ihre Anwartschaft auf einen Platz im Ehehafen begründen zu sollen, und weil mit anderen Worten der Empfindsamkeitskult und Tanz ums Goldene Kalb jungfräulicher Tugend, den sie zelebrieren, nicht schon wie bei Emma in positiv-strategischer Umfunktionierung der Vorbereitung auf ein von Gelüsten und Kapricen geschlechtlicher Provenienz gereinigtes Familienleben, sondern nur erst in negativ-symptomatischer Reaktionsbildung der Neutralisierung und Abfuhr jener zum privativ-eigenen Geschlechtsleben disponierten sexuellen Motion und Gestimmtheit dient, deren Reklamation durch die Phantasie des bürgerlichen Mannes ursprünglicher Auslöser des ganzen Kultes ist, kann es auch nicht verwundern, daß bei dieser Reaktionsbildung das sexuelle Interesse von Zeit zu Zeit unsublimiert durchbricht und sich in Anzüglichkeiten und Schlüpfrigkeiten, in wiederkehrenden Schilderungen verfänglicher Szenen und voyeuristischer Einblicke Ausdruck verschafft, daß also bei Richardson die Phantasie sich immer wieder gegen ihre empfindsamkeitskultliche Domestizierung aufbäumt und mit dem Autor durchgeht.
Und ebensowenig verwunderlich ist, daß im funktionalisierten Empfindsamkeitskult à la Austen die sexuellen Ausrutscher verschwinden und der Darstellung eines ganz und gar von der Aufgabe der Eheanbahnung erfüllten Geschlechterverhältnisses, der Psychologie einer in Gefühlserziehung und Persönlichkeitsbildung sich erschöpfenden Vergesellschaftung der Geschlechter den Platz räumen. Schließlich führt im Verlaufe der das 19. Jahrhundert durchgeisternden und bis zu den heutigen Dreigroschenheftchen verfolgbaren Austenschen Tradition des Eheanbahnungs- und Familiengründungsromans die funktionelle Indienstnahme des Empfindsamkeitskults für die Vorbereitung auf ein sexualitätsfrei fortpflanzungsgestimmtes Geschlechterverhältnis zur völligen, rücksichtslosen Instrumentalisierung des Kultes und zur Reduktion der im Zentrum des Kultes stehenden weiblichen Tugend auf eine nurmehr berechnende Allüre, ein kalkuliert eingesetztes Strategem, um unter die Haube zu kommen. Tugendsame Jungfräulichkeit – in diesem Punkte stimmen die mit der Entwicklug einverständigen und sie affirmativ begleitenden oder vielmehr vorantreibenden Kolportageromane und die der Entwicklung gesellschafts- und moralkritisch gegenüberstehenden Romane des bürgerlichen Realismus und Naturalismus überein – wird zu einem Berechtigungsschein fürs Aufgebot, einem Eintrittsbillett in den Ehestand, einem Familiengründungskapital. Jungfräuliche Tugend verliert alle eigene Bedeutung und reflexive Relevanz, alle ihr als Werkzeug zur Sexualitätsbewältigung von Austen zugebilligte Rationalität ebenso wie alle ihr als blinder Reaktionsbildung auf die Sexualisierung des Geschlechterverhältnisses von Richardson eingepflanzte Irrationalität und verwandelt sich in ein schieres Kennzeichen und Kalkül, eine gesellschaftliche Pose, die gesellschaftlich kontrollierte Paarungsbereitschaft signalisiert.
Daß die Figur der Tugend mit dem an ihr sich festmachenden Kult der Empfindsamkeit auch in der ritualisiertesten und sinnentleertesten Form eines rein formalen Tauglichkeitsattests für ein der sexualitätsfreien Fortpflanzung geweihtes Ehe- und Familienleben noch überdauert und die Stellung eines sei's durch affirmative Kolportage, sei's durch kritische Gegenrede anerkannten gesellschaftlichen Topos und Verständigungsmittels behauptet, läßt sich durchaus als Hommage an die fundamentale Nützlichkeit und geradezu Unentbehrlichkeit betrachten, die sie ursprünglich beweist. Unter den neuen Bedingungen einer gleichermaßen räumlichen und systematischen Trennung von gesellschaftlicher Arbeit und innerfamiliärer Tätigkeit und einer für die Frau damit verknüpften Einbuße an ökonomischer Verfügung und politischer Macht, ihres relativen Ausschlusses aus dem Wirtschaftsleben nicht weniger als aus der Sphäre der Öffentlichkeit, kurz, ihrer tendenziellen Entfunktionalisierung zu einem auf die Privatsphäre des Mannes beschränkten Geschöpf, ist die Idee der weiblichen Tugend unabdingbar, um die Frau in ihrer von der Gesellschaft ihr zugewiesenen und sie als immerhin auch ein bürgerliches Individuum, als eine Person wenn auch bloß zweiten Ranges, definierenden Stellung als Hauswirtschafterin und Mutter sich behaupten zu lassen und sie davor zu schützen, in der Perspektive einer Reduktion des Geschlechterverhältnisses auf ein reines Geschlechtsverhältnis, der die Trennung der ökonomisch-realen Zuständigkeiten und die Aufteilung der politisch-sozialen Macht demgegenüber Vorschub leisten, zur Privatsache des Mannes, zu seinem die eigene Geschlechtslust mit dem Verlust der bürgerlichen Identität und personalen Integrität bezahlenden Lustobjekt zu verkommen.
So spontan der bürgerliche Mann die Frau als dieses reduzierte Lustobjekt zu imaginieren strebt, so unwillkürlich legt seine Phantasie aber auch sich selbst den Stolperstein der Tugend in den Weg, kehrt aus eigenem den zur triebhaft-änigmatischen Figur einer Gegenemotion internalisierten gesellschaftlichen Einspruch gegen den intendierten Reduktionsvorgang hervor und steckt damit den Rahmen für jenen literarisch-kunstreich entfalteten Kult einer die sexuelle Versuchung mit quasisexuellen Mitteln aus dem Felde schlagenden seelenvollen Empfindsamkeit ab, dem beide Geschlechter anhangen, weil er die Abwehr der durch die gesellschaftliche Entwicklung heraufbeschworenen Gefahr eines asozialen Geschlechtslebens mit Lustempfindungen verbindet, die ihrer Qualität nach dem Geschlechtsleben selbst entstammen, das Abgewehrte quasi in der Form der Abwehr reminiszieren – jenen Kult, der eben wegen dieses seines beide Geschlechter befriedigenden Kompromißcharakters, dieser seiner erfolgreichen Verknüpfung von realer Verdrängung und emotionaler Würdigung der sexuellen Versuchung zum allseits anerkannten Propädeutikum für eine in den Dienst der Fortpflanzung gestellte Ehe und ein der Kinderaufzucht geweihtes Familienleben avanciert.