1. Das Triebleben der Moderne

Verstand sich zu Beginn der bürgerlichen Gesellschaft und vollends in ihrer Hochzeit Homo Sapiens maßgeblich als Homo faber, als mechanischer Werktätiger, so erlebt er sich heute, in der Spätzeit oder am Ende der bürgerlichen Gesellschaft, in einem fast schon ebenso maßgeblichen Sinne als Homo sexualis, als manischer Lustsucher. Gewahrte er damals seine wesentliche Bestimmung in der werkzeugvermittelten Naturbeherrschung, der Aneignung fremder Natur durch körperliche und geistige Arbeit, so setzt er heute sein eigentliches Sein in eine lustgesättigte Selbsterfahrung, eine Aneignung der eigenen Natur durch den Gebrauch der Geschlechtswerkzeuge.

Dabei ist allerdings weder die Rede von den Geschlechtswerkzeugen, noch die von ihrem Gebrauch allzu wörtlich zu nehmen. In der Tat ist ja der Kontext, dem die Rede von den Geschlechtswerkzeugen entstammt und durch den sie geprägt ist, eben jener Zusammenhang werkzeugvermittelter Naturbeherrschung, von dem die Moderne mit ihrer Richtung auf lustgesättigte Selbsterfahrung nichts mehr wissen will. Die qua Werkzeugbegriff evozierte Vorstellung von einem Subjekt, das mit allen leiblichen und geistigen Kräften, die ihm zur Verfügung stehen, auf die Außenwelt einwirkt, um sie alloplastisch zu verändern, verträgt sich denkbar schlecht mit dem modernen Leitbild von einem Subjekt, das mit sämtlichen Sinneszellen und Nervenfasern, aus denen es sich zusammensetzt, die Welt auf sich einwirken läßt, um sich autoplastisch an ihr zu erbauen. Wenn hier überhaupt noch von Werkzeug die Rede sein kann, so beileibe nicht mehr im Sinne eines objektiven Mittels, eines vom Subjekt getrennten oder abgespaltenen Instruments, durch das sich das Subjekt die Welt aneignet, sie als zu ihm gehörig setzt und realisiert, sondern höchstens noch in der Bedeutung eines subjektiven Mediums, eines mit dem Subjekt kontinuierlichen oder deckungsgleichen Implements, in dem sich das Subjekt als weltliches ereignet, als zur Welt gehörig erlebt und entfaltet. Geschlechtswerkzeuge sind demnach nicht mehr bloß jene besonderen Körperteile, durch die das Subjekt sich per Entäußerung in der Außenwelt fortzupflanzen, als anderes Dasein in ihr zu reproduzieren trachtet, sondern Geschlechtswerkzeuge sind die Totalität dessen, worin das Geschlechtswesen Mensch, der Mensch als wesentlich sexuell bestimmtes Lebewesen, sich selber in einer Umwelt, die ihn in eben dieser Totalität fordert, sinnenfällig zum Ausdruck zu bringen und leibhaftig unter Beweis zu stellen sucht. Kurz, Geschlechtswerkzeug ist das Geschlechtswesen als solches, ist der ganze Mensch, ist nicht mehr dieser oder jener Teil von ihm, sondern er selbst, wie er leibt und lebt. Nicht, daß die Reklamation des ganzen Körpers als eines einzigen großen Geschlechtsorgans ein aus der Retorte der postmodernsten Moderne gesprungenes brandneues Phänomen wäre; nicht, daß sie nicht ihre weit in die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft, in die Entwicklung der bürgerlichen Medizin und Psychologie, schließlich auch in die Anfänge einer eigenen bürgerlichen Sexualwissenschaft in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, zurückreichende Vorgeschichte hätte! Die Unterscheidung zwischen primären und sekundären, ja, sogar tertiären Geschlechtsmerkmalen und vollends dann die Einteilung des Körpers in erogene Zonen, seine Kartographierung nach Quellen libidinöser Erregung, die überall auf ihm verstreut, nach Schätzen sexueller Lust, die an den überraschendsten Stellen auf ihm verborgen liegen – dies beides bezeugt zur Genüge, wie lange schon die bürgerliche Theorie der Sexualität sich bemüht, zwischen dem Körper als ganzem und seinem Geschlechtsteil zu vermitteln, den Körper an der libidinösen Energie seines Teiles teilhaben zu lassen, die funktionelle Kluft zwischen Subjekt und Werkzeug zu überwinden und ersteres in die Erfahrung des letzteren einzubeziehen.

Aber während diese traditionelle Theorie noch schwankt zwischen einerseits dem auf Aufweichung der Werkzeugideologie zielenden Anspruch, das Monopol der Geschlechtswerkzeuge auf sexuelle Betätigung zu brechen und dem ganzen Körper Zugang zu jener Aktivität zu verschaffen, und andererseits dem auf Wahrung der Werkzeugperspektive abgestellten gegenläufigen Bemühen, mittels des Konzepts der Genitalorganisation den Primat der Geschlechtswerkzeuge zu reaffirmieren und den an ihrem Tun und Treiben beteiligten Körper in den Dienst ihrer Teleologie zu stellen, ihn quasi zu ihrem Steigbügelhalter bei der Verwirklichung der mittels Genitalität verfolgten objektiven Zweckmäßigkeit zu erklären – während die traditionelle Sexualtheorie also noch ambivalent bleibt, zeigt sich mittlerweile die Sache eindeutig zu Lasten des Monopols der Geschlechtswerkzeuge auf sexuelle Betätigung und zu Gunsten des ganzen Körpers als eines die Geschlechtsteile im engeren Sinn zu bloßen Momenten seiner selbst degradierenden einzigen großen Geschlechtswerkzeuges entschieden. In der besten pantheistischen Manier des "Alles in einem und eines in allem" ist nun der Körper als ganzer ebensosehr wie in jedem seiner Teile Ausdruck und Entfaltungsraum des geschlechtlichen Wesens, ist er im holistischen ebensosehr wie im fetischistischen Sinne erfüllt von Libido, aufgeladen mit sexueller Energie. Kein Körperteil, der nicht dem Körper selbst seinen holistischen Anspruch bestätigte, der nicht als ein umschmeichelter, liebkoster, gestreichelter, gepflegter zum sexuellen Wohlbefinden des ganzen Körpers beitrüge, ein diesen bis in die Haar- und Zehenspitzen durchflutendes Lustempfinden zu erzeugen und zu bekräftigen diente. Und kein Körperteil, der nicht fetischistisch beanspruchen könnte, die sexuelle Energie des ganzen Körpers auf sich zu konzentrieren und als die pars pro toto des letzteren zum Brennpunkt seiner gesamten Libido, zum Repräsentanten seiner gesammelten Triebkraft zu werden.

Noch niemals zuvor (abgesehen vielleicht von kleinen privilegierten Gruppen in der Spätantike) haben Menschen für ihren Körper ein solch immenses Maß an pflegender Zuwendung und hegender Zärtlichkeit sei's von anderen eingefordert, sei's selber aufgebracht, haben sie sich so engagiert um ihren Körper gekümmert, ihm soviel lustvoll Gutes getan, ihn so regelmäßig gecremt, geölt, parfümiert, geputzt, frisiert, manikürt, bemalt, ihn so oft in warmem Wasser gesielt, massiert, gymnastisch gelockert, ihn so vielfach betrachtet, konterfeit, reflektiert, ihn so vielfältig gekleidet, geschmückt, ausgestellt, ihn so eingreifenden synthetischen Verschönerungsprozeduren, chemischen Konservierungsmethoden, medizinischen Verjüngungskuren unterworfen, ihn so hingebungsvoll gestreichelt, gekost, geküßt, kurz, einen so umfassend sexuell getönten Umgang mit ihm gepflogen. Angesichts dieser libidinösen Selbstbesetzung und Körperfixierung von grassierender Regressionsbereitschaft, von einer allgemeinen Disposition zu reden, sich ins frühkindlich-lustvolle Verhältnis einer körperzentrierten Umsorgtheit sei's eigenhändig, sei's mit Unterstützung anderer zurückzuversetzen, mag zwar phänomenologisch naheliegen, führt aber theoretisch nicht weiter: So gewiß es sich bei dieser sexuell getönten Körperlichkeit um ein zur allgemeinen Norm avanciertes, gesellschaftlich anerkanntes Verhalten handelt, so gewiß können wir dieses Normalverhalten nicht als Regressionsphänomen begreifen, sondern müssen es als Resultat der jüngsten Progression menschlicher Geschlechtlichkeit thematisieren.

Nie zuvor haben Menschen auch mit soviel Selbstverständlichkeit und so völlig im Bewußtsein, einen natur- oder menschenrechtlich garantierten Anspruch auf Selbstbestimmung und Selbstentfaltung wahrzunehmen, ihre Sexualbedürfnisse so hemmungslos partikularisiert und auf der Landkarte oder Projektionsfläche des Körpers sich in ein Pandämonium fetischistischer Fixierungen zerstreuen lassen. Wie einerseits nunmehr der ganze Körper in allen seinen Teilen Geschlechtswerkzeug ist, so kann andererseits aber auch jeder dieser Teile zum Sexualwerkzeug par excellence, zum monopolistischen Träger und Objekt des Geschlechtstriebes des ganzen Körpers werden. Ob es sich um die Vielgestaltigkeit weiblicher Schamlippen und männlicher Penisse handelt, ob um rasierte Vulvae, hyperplastische Brüste oder muskulöse Gesäße, ob um durchbohrte Ohrmuscheln, Nasenflügel und Brustwarzen, ob um Analverkehr, Voyeurismus oder die lusterregende Wirkung amputierter Glieder, ob um Vibratoren, genoppte Präservative und aufblasbare Plastikgeschlechtsteile, ob um telefonisch übermittelte Obszönitäten, Pornofilme und Sexzeitschriften, ob um sadomasochistische Rituale, schwarze Wäsche, Leder und Ketten – keine Körperregion, keine Körperpraktik, keine Rezeptions- und Verhaltensweise, die nicht das Geschlechtsleben fetischistisch in ihren Bann ziehen und sei's im Sinne eines organisierenden Zentrums, sei's in monopolistischer Ausschließlichkeit auf sich konzentrieren könnte. Und dies mit der zuverlässigen Aussicht wenn schon nicht auf allgemeine Billigung, so doch auf grundsätzliches Verständnis: Denn mögen schon gewisse sexuelle Verhaltensformen wie etwa die Unzucht mit Minderjährigen oder der Mißbrauch Abhängiger wegen ihrer sozialethisch und individualbiographisch verheerenden Folgen beziehungsweise wegen des symptomatischen Charakters, der ihnen im Blick auf gesellschaftliche Machtverhältnisse beigemessen wird, noch Entrüstung hervorrufen und als verwerflich gelten – daß sie zum ebenso fixen wie vielfältigen Repertoire menschlicher Geschlechtsäußerungen zählen, einen Teil der natürlichen Grundausstattung des Menschen mit polymorph-perversen sexuellen Ausdrucks- und Betätigungsformen darstellen, kurz, ein anthropologisches factum brutum sind, das ebensowenig historisch hinterfragbar wie gesellschaftlich auflösbar ist und das sich moralisch unterdrücken, juristisch bekämpfen, politisch anprangern und vielleicht auch pädagogisch beeinflussen, weder aber theoretisch zurückführen noch praktisch verändern läßt – darüber herrscht weithin Einigkeit.

Wie weit diese Einigkeit tatsächlich reicht, zeigt sich gerade dort, wo, wie etwa beim Thema Kindesmißbrauch in der Familie, immerhin noch der Versuch gemacht wird, das Anthropologikum des sexuellen Übergriffs auf gesellschaftliche Verhältnisse, in diesem Fall auf patriarchalische Gesellschaftsstrukturen, zurückzubeziehen: Weit entfernt davon, daß der Rückbezug die sexuelle Mißbrauchsform spezifisch aus dem haftbar gemachten patriarchalischen Machtverhältnis herzuleiten unternähme, begreift er vielmehr das Machtverhältnis nur als zureichenden Grund, als Rahmenbedingung dafür, daß sich eine als latentes Potential, als quasi Naturkraft vorausgesetzte männliche Lust an der sexuellen Nötigung des anderen Geschlechts ungehemmt austoben kann, weshalb denn auch in hexenwahnhafter Totalisierung diese durch die gesellschaftlichen Verhältnisse freigesetzte Naturkraft als an allen Ecken und Enden wirksam, als in ihren Äußerungsformen fast schon zum Regelfall innerfamiliärer Beziehungen avanciert erscheinen kann.

Aber wie dem auch sei, Tatsache ist jedenfalls, daß die polymorph-perversen Orientierungs-, Ausdrucks-, Objekt- und Betätigungsformen, in die sich der Geschlechtstrieb auseinanderlegt und in denen er sich mehr oder minder fetischistisch, mit stärkerem oder geringerem Ausschließlichkeitsanspruch, festsetzt, weithin verständnisvolle Aufnahme finden und darauf rechnen können, als keiner historischen Bedingtheit oder gesellschaftlichen Konstruiertheit verdächtige Naturgegebenheiten anerkannt zu werden.

Angesichts dieses Status quo den Begriff des Polymorph-Perversen nicht nur als rein deskripitive Kategorie zu gebrauchen, sondern als wertende Bestimmung zu reklamieren und von einer allgemeinen Entwicklung der heutigen Gesellschaft zur Perversion, zur Aufspaltung des Sexualtriebs in Ersatzhandlungen und zu seiner Fixierung auf Ersatzobjekte zu reden, mag zwar phänomenologisch ebenso naheliegen wie hinsichtlich der sexuellen Besetzung des eigenen Körpers die Rede von einer allgemeinen Regression, ist aber auch theoretisch genauso unnütz: Wo die Geschlechtlichkeit diesen Hang zur polymorph-perversen Fetischisierung von Teilen des Körpers als ein der Neigung zur pantheistischen Libidinisierung des Körpers als ganzen unmittelbar komplementäres Konversionsverhalten an den Tag legt, da bringt es wenig oder nichts, dieses kraft seines allgemeinen Konversionscharakters neue Maßstäbe setzende beziehungsweise neue Versionen der Sexualität normativ geltend machende Verhalten als pervers, das heißt, als von alten Maßstäben geschlechtlichen Betragens abweichend, von früheren Normen abfallend anzuprangern.

Im komplementären Doppelsinn also einer pauschalen Libidinisierung des Gesamtkörpers und einer egalen Fetischisierung einzelner Körperteile, Körpereigenschaften oder Körperfunktionen büßen die traditionell aufs Geschlechtsleben abonnierten Geschlechtsteile ihre sie auf die Rolle von Geschlechtswerkzeugen vereidigende Sonderstellung ein und treten quasi zurück ins korporale Glied, wo sie sich von einem nicht als Mittel, sondern als Medium des Sexualtriebs figurierenden Ganzen, einer nicht als Werkzeug, sondern als Wirkungsstätte geschlechtlicher Betätigung firmierenden Körperlichkeit sei's holistisch-integrativ, sei's fetischistisch-exzessiv in Dienst nehmen lassen. Die Brechung des traditionellen Monopols der Geschlechtsteile auf die Rolle von Geschlechtswerkzeugen und die Ausweitung dieser Funktion auf den ganzen Körper und seine sämtlichen Partien lassen mithin den Werkzeugcharakter als solchen obsolet werden, indem sie das sexualisierte Körperganze eben nicht mehr als exzentrisches Werkzeug, sondern als konzentrischen Wirkungsraum, nicht mehr als auf Entäußerung gerichtetes Mittel, sondern als in sich gewendetes Medium zur Geltung bringen.

Damit ist zugleich klar, daß auch von "Gebrauch" im ursprünglichen Sinne keine Rede mehr sein kann. Gebrauch der Geschlechtswerkzeuge heißt ja schlicht und einfach, daß die Werkzeuge außerhalb des eigenen Körpers bei einer anderen Person, dem Geschlechtspartner, eingesetzt werden, um mittels dieses Geschlechtspartners eine objektive Wirkung zu erzielen, etwas Äußeres hervorzubringen. Diese nach außen gerichtete, auf ein objektives Produkt abgestellte Gebrauchsperspektive führt der als Träger des Geschlechtstriebes an die Stelle der Geschlechtswerkzeuge im engeren Sinn getretene Gesamtkörper nun ganz und gar nicht mehr im Schilde. Wenn er – egal, ob in toto holistischer Diffusion oder in parte fetischistischer Fixierung – sexuell aktiv wird, so gewiß nicht, um sich in den Dienst einer mittels des Geschlechtspartners vollzogenen Entäußerung der eigenen Person stellen, für die kraft des anderen realisierte Reproduktion seiner selbst als anderes Dasein in Gebrauch nehmen zu lassen, sondern nur, um geschlechtlich aktiv zu sein, um als das sexuell gestimmte Organ, das er ist, zu ertönen und sich zu betätigen. Nicht der Gebrauch für anderes, sondern die reine Selbstbetätigung, nicht die objektive Ausübung, sondern die subjektive Aktivierung der Geschlechtstätigkeit, nicht die Erzeugung fremder Realität, sondern die Erregung eigener Lust, nicht anderswo zu erzielende Wirkungen, sondern bei sich selbst zu erlebende Auswirkungen des Geschlechtslebens sind das Telos des gleichermaßen in holistischer Totalität und fetischistischer Partialität zum Geschlechtswerkszeug avancierten Körpers.

Dieses kurzschlüssig reflexive, zirkulär in sich verhaltene Verhalten, das, wie es dem Geschlechtswerkzeug Körper den Werkzeugcharakter austreibt, indem es Werkzeug und Gegenstand qua Wirkungsstätte koinzidieren läßt, so ihm auch jede Gebrauchsperspektive verschlägt, indem es das Werkzeug als Mittel schierer Selbstbearbeitung, mithin als Medium vereinnahmt – dieses Verhalten ist dem traditionellen Geschlechtswerkzeug keineswegs pauschal fremd. Auch das in den Geschlechtsteilen stricto sensu bestehende traditionelle Geschlechtswerkzeug nimmt einen Teil der sexuellen Energie, die es in die Fortpflanzungsarbeit investiert, für sich selbst in Anspruch, reflektiert sie in sich und verwendet sie, um sich als solches in Bewegung und in Erregung zu versetzen, sich als das Organ, das es ist, zu betätigen und zu genießen, kurz, jene mit hypertropher Lebendigkeit synonyme Funktionslust zu empfinden, ohne die es gar kein besonderes Werkzeug im Dienste des Geschlechtstriebs, sondern bestenfalls ein mit der Erhaltung des einzelnen Organismus aktiv befaßter, gegebenenfalls aber auch nur passiv daran interessierter Körperteil unter anderen wäre.

Tatsächlich ist auch beim traditionellen Geschlechtswerkzeug in durchaus paradoxer – um nicht zu sagen zirkelschlüssiger – Manier die Selbsterregung des Organs, die im Genuß der eigenen Betätigung bestehende Lust, conditio sine qua non der nach draußen zielenden, an anderes gewendeten Aktivität, aus deren libidinöser Energie sie sich doch zugleich abzweigt und speist. Aber während hier die Eigenlust des Organs nichts als ein Anreiz für sein objektives Funktionieren ist, die Selbsterregung eben die sprichwörtliche Lustprämie bleibt, die sich für das Werkzeug mit der Erfüllung seiner libidinösen Arbeit, mit der Reproduktionsaufgabe, verknüpft, ist bei dem nunmehr an die Stelle des Geschlechtswerkzeugs tretenden und dessen Werkzeugcharakter aus seiner relativ instrumentalen Zweckdienlichkeit in reflexiv mediale Selbstherrlichkeit zurücknehmenden ganzen Körper diese schiere Selbsterregung, dieses funktionslüsterne Erlebnis des eigenen Tuns der wesentliche und ausschließliche Sinn der Veranstaltung. Egal, ob der in toto sexualisierte Körper sich amorph-libidinös oder polymorph-pervers betätigt – der Erregungszustand, in den er sich dabei versetzt und der seine ganze Lust ist, dieser Selbsterlebnisgenuß, den er sich verschafft, ist keine Prämie mehr, die ihn dazu motivieren soll, etwas anderes zu leisten, sprich, einen heteronomen Zweck zu erfüllen, sondern er ist die Sache selbst, das A und O des Prozesses; das heißt, in ihm, dem Zustand lustvoller Erregung, erschöpft sich die Leistung, auf ihn, den Genuß des erlebten Selbst, reduziert sich der Zweck.

Daß unter solchen Umständen von einem Gebrauch des Geschlechtsmediums Körper keine Rede mehr sein kann, liegt auf der Hand. Sowenig der sexualisierte Körper noch Werkzeug, äußeres Mittel ist, sosehr er sich vielmehr zum Wirkungsraum, zum in sich bleibenden Medium zurücknimmt, sowenig wird nun im herkömmlichen Sinne einer mittels des Geschlechtspartners verfolgten reproduktiven Zielsetzung von ihm noch Gebrauch gemacht, sosehr verflüchtigt sich vielmehr die objektive Entäußerung zur subjektiven Innervation, die alloplastische Fremdbestimmung zur autoplastischen Selbstbetätigung. Und damit geht natürlich auch eine grundlegende Veränderung des Verhältnisses zum anderen, zum Geschlechtspartner einher, im Verkehr mit dem und mittels dessen der reproduktive Zweck, die objektive Fortpflanzung in einem anderen Dasein verwirklicht wird. Solange dieser reproduktive Zweck als das die Geschlechtswerkzeuge als solche bestimmende und in Gebrauch erhaltende organisierende Telos der Geschlechtstätigkeit in Kraft bleibt, ist der andere, der Geschlechtspartner, durch dessen Vermittlung beziehungsweise durch den hindurch die Reproduktion in die Tat umgesetzt wird, konstitutives Moment des sexuellen Prozesses. Als ein zu schaffendes objektives Dasein, eine herzustellende äußere Realität hat der Zweck der Geschlechtstätigkeit im anderen, im Geschlechtspartner, seine objektivierende Mitte, sein Mittel der Realisierung.

Eben dieser konstitutiven Bedeutung des Geschlechtspartners für die Erfüllung des geschlechtlichen Zwecks trägt Kant mit seiner von der traditionellen Sichtweise her ebenso spekulativ anmutenden wie im Blick auf den traditionellen Sachverhalt realistisch erscheinenden Rede vom "wechselseitigen Gebrauch der Geschlechtseigenschaften" oder vom "Gebrauch der Geschlechtsorgane des anderen" Rechnung: Die Formulierung besagt, daß die Geschlechtstätigkeit in ihrer auf reproduktive Entäußerung und objektive Verwirklichung gerichteten Zweckmäßigkeit in Wahrheit Gebrauch nicht der eigenen Geschlechtswerkzeuge, sondern der des jeweils anderen ist und in der dazu komplementären Bereitschaft besteht, diesem anderen die eigenen Geschlechtswerkzeuge jeweils zum gleichen Zwecke zur Verfügung zu stellen. So wahr das Ziel der geschlechtlichen Betätigung etwas Objektives, ein anderes Dasein ist, so wahr ist es das Dasein des anderen, durch dessen Gebrauch das Ziel verfolgt wird, ist es die Objektivität des Geschlechtspartners, mittels deren die Sache ins Werk gesetzt wird. Und wie der qua Reproduktion verfolgte objektive Zweck der Geschlechtstätigkeit wesentlich das Werk des anderen, die Sache seiner instrumentellen Dazwischenkunft, Ergebnis des Gebrauches nicht der eigenen Geschlechtswerkzeuge, sondern der des Sexualpartners ist, ebenso wesentlich ist auch der Gewinn, den das Subjekt selbst davon hat, ist die Lustprämie, die sein Wirken ihm einträgt, durch den anderen vermittelt und Konsequenz des Gebrauchs, zu dem er die eigenen Geschlechtswerkzeuge dem Sexualpartner überläßt. Wie der andere dadurch, daß er seine Geschlechtswerkzeuge dem Subjekt zum Gebrauch überläßt, dessen Zweck überhaupt erst objektiv werden läßt und realisiert, so bietet er dadurch, daß er umgekehrt das Subjekt für den gleichen, als ein andrer, weil als sein eigner verfolgten Zweck instrumentalisiert und dessen Geschlechtswerkzeuge in Gebrauch nimmt, für die mit der Erfüllung des objektiven Zwecks einhergehende subjektive Befriedigung, für die mit der Reproduktion gepaarte Lust allererst Gelegenheit und Handhabe.

Von dieser in beiderlei Hinsicht grundlegenden Rolle des Sexualpartners bei der Geschlechtstätigkeit, diesem regelrechten Austauschverhältnis, in dem es der jeweils andere ist, der durch die Überlassung seiner Geschlechtswerkzeuge an das Gegenüber für dessen objektive Zielsetzung einsteht und durch die Inanspruchnahme der Geschlechtswerkzeuge des Gegenübers für dessen subjektive Befriedigung sorgt – von dieser im doppelten Sinne konstitutiven Bedeutung des anderen kann unter den Bedingungen einer die Geschlechtswerkzeuge in die Totalität des Körpers auflösenden und ihren zielbestimmt-instrumentellen Reproduktionsanspruch in selbstbezogen-sensuelle Funktionslust zurücknehmenden Geschlechtlichkeit keine Rede mehr sein. Nicht, daß durch diese Wendung der Geschlechtlichkeit zurück in reflexive Selbstbetätigung und mediale Selbstentfaltung der andere als solcher entbehrlich würde, der Geschlechtspartner überhaupt entfallen könnte. Schließlich wäre ohne den Widerhalt des anderen, ohne den Geschlechtspartner als Bezugspunkt die Tätigkeit um allen transitiven Aspekt gebracht und ihre Prozessualität in die leerlaufreaktive Pose eines onanistischen Ausagierens und masturbatorischen Wiederholungszwanges gebannt. Aber wird der Geschlechtspartner auch nicht ganz entbehrlich, unterliegt er doch einer nachdrücklichen Entwirklichung, kann er schon nicht überhaupt entfallen, erlebt seine Position doch einen massiven Verfall!

So wahr die neue, wesentlich oder ausschließlich auf die mediale Entfaltung ihrer selbst gerichtete Geschlechtlichkeit ihren objektiven Zweck preisgibt, ihren Anspruch auf Stiftung äußerer Realität verliert, so wahr büßt der andere in der Geschlechtsbeziehung die Bedeutung der die bezweckte Objektivität faktisch verbürgenden Mitte beziehungsweise des die erstrebte Realität praktisch bewirkenden Mittlers ein. Aus der Mitte wird die Marge, aus dem exzentrischen Bezugspunkt der zielgerichteten Bewegung ein peripherer Reflexionspunkt der lustvollen Motion. Weil die sexuelle Bewegung auf den anderen zuläuft, nur um sich an ihm zu brechen und sich auf sich zurückzuwenden, ist der andere nicht mehr zentraler Wirkfaktor, sondern nur noch periphere Rahmenbedingung, hat er keine zweckvermittelnd-konstitutive Funktion mehr, sondern spielt bloß noch eine tätigkeitsbestimmend-reflexive Rolle, hört er auf, ein objektiver Gegenpart zu sein, in dem die Geschlechtstätigkeit sich als in ihrem Verwirklichungsraum erfüllt und niederschlägt, und wird zu einem suggestiven Widerhalt, an dem die Geschlechtstätigkeit sich wie auf einer Projektionsfläche spiegelt und entfaltet.

Wie oben geschildert, ist die sexuelle Aktivität nichts weiter mehr als eine den ganzen Körper – egal ob amorph-libidinös oder polymorph-pervers – umfassende und medial zu sich selbst verhaltende Selbsterfahrungsveranstaltung, eine auf nichts als die Erkundung der eigenen libidinösen Ausdrucksmöglichkeiten und auf die Entfaltung des eigenen Erregungs- und Lustpotentials gerichtete narzißtische Selbstbespiegelung. Eben deshalb aber reduziert sich die Rolle des Geschlechtsparters auf, wie man will, die eines Stichwortgebers, Steigbügelhalters oder katalytischen Ferments, dessen Funktion sich tatsächlich darin erschöpft, zu verhindern, daß sich der Trieb ebenso ziellos wie zwanghaft in einen onanistischen Leerlauf verrennt, und sicherzustellen, daß er reflexiv in sich zurückkehrt und, während er sich selbst in seiner lustvollen Betätigung zum Gegenstand seiner Tätigkeit wird, eine im Erlebnis seiner selbst als geschlechtspartneranalogem Objekt gelegene narzißtische Befriedigung findet.

Diese Hinwendung zu einem den Geschlechtspartner in ein reines Reflexiv sexueller Selbstbetätigung und libidinöser Selbsterfahrung verkehrenden grundlegenden Narzißmus findet ihren symptomatisch pointierten Ausdruck in zwei parallelen und für die heutige Entwicklung des Geschlechtslebens gleichermaßen richtungweisenden Tendenzen. Das eine ist die Tendenz zur Entwirklichung der sexuellen Aktivität, die Tendenz zur Verwandlung des sexuellen Erlebens aus einem äußeren Vorgang in ein inneres Geschehen, zu seiner Verlegung aus der Empirie in die Phantasie, seiner Verlagerung aus dem Bereich des Materialen, Körperlichen, Taktilen, Gustatorischen, Oliofaktorischen, kurz, aus dem Bereich der Empfindungen, in die Sphäre des Verbalen, Bildlichen, Visuellen, Akustischen, kurz, in die Sphäre der Vorstellungen – eine Tendenz, wie sie Pornoliteratur, Pornofilme und Pornovideos, Peep-Shows, Telefon-Sex, Sexshop-Accessoires, Computersimulationen und andere ähnliche Erscheinungen bezeugen. Bei all diesen Formen sexueller Betätigung ist der andere gar nicht mehr als ein leibhaftig und greifbar Mitwirkender nötig respektive erwünscht; es reicht, wenn er bloß sichtbar oder hörbar oder auch nur in effigie beziehungsweise in der Vorstellung vorhanden ist. Weil die sexuelle Tätigkeit sich nicht mehr im anderen objektiv-zweckbestimmt vermittelt, weil sie sich nurmehr reflexiv-selbstbezogen im anderen spiegelt, weil der andere also nicht mehr exzentrischer Verwirklichungsraum, sondern bloß periphere Projektionsfläche für den Sexualtrieb ist, erscheint es nur konsequent, daß der andere aufhört, ein objektives Gegenüber und eine aktuelle Realität zu verkörpern, und daß er vielmehr dazu tendiert, sich zu einer reflexiven Projektion und einem virtuellen Phänomen zu verflüchtigen.

In der Tat stellt die Geschlechtstätigkeit damit erotische Aktivität in Reinkultur dar. Erotik ist sie, insofern ihr Augenmerk und ihr Interesse den quasi spontanen, quasi aus eigener Einbildungskraft geschöpften phantasmagorischen Vorstellungen, obsessiven Sehnsüchten und freiflottierenden Assoziationen gilt, die sich auch in der traditionellen, werkzeugbestimmt-zweckvermittelten Sexualbeziehung an den Ge- schlechtspartner heften, ihn wie eine Aura, ein Nimbus umspielen und seine Realität zugunsten eines zwischen unerreichbarem Charme und zusätzlichem Anreiz changierenden Wunschbilds überblenden. Erotik in Reinkultur aber ist sie, weil dieses Wunschbild, diese Überblendung der Realität des Geschlechtspartners die traditionelle Bedeutung einer die Kluft zwischen den Subjekten zu überbrücken, zur Realität des anderen zu motivieren, zu seiner Empirie zu verführen, kurz, den Zugang zum anderen bloß zu erleichtern bestimmten Hilfsfunktion ablegt und vielmehr den Charakter einer vollgültigen und erschöpfenden sexuellen Entfaltungsform annimmt, die eben deshalb das Überblendungsmoment zu einer veritablen Negation und Auslöschung des Geschlechtspartners in seiner selbständigen Realität und eigenen Empirie geraten läßt und ihn auf die besagte Rolle eines marginalen Reflexivs und einer peripheren Projektionsfläche narzißtischer Selbstbespiegelung reduziert.

Wenn man so will, wird hier unter empirisch-phänomenalen Gesichtspunkten nur noch einmal die gleiche Dynamik konstatiert, die oben in ökonomisch-funktionellen Begriffen als Veränderung des traditionellen Verhältnisses zwischen subjektiver Lustprämie und objektiver Sexualleistung dargestellt wurde. Wie sich, funktionell gesehen, im neuen Geschlechtsverhältnis der Lohn von der Leistung emanzipiert, die Lust sich von der Arbeit ablöst, für die sie ursprünglich gewährt wird und zu der sie motivieren soll, um alleiniger und ausschließlicher Zweck der Betätigung, ein ebenso selbstbezogenes wie selbstbefriedigtes Triebleben zu werden, so emanzipiert sich, phänomenal gesehen, die projektiv aus der eigenen Phantasie gespeiste Erotik von der objektiv im anderen gegebenen Sexualität und entfaltet sich zu einem am anderen nurmehr das Beispiel der eigenen Autarkie sich nehmenden und das Exempel persönlicher Automatismen statuierenden, kurz, ebenso selbstmotivierten wie selbstgenügsamen libidinösen Treiben.

Und so gewiß diese als Erotisierung oder Lustsuche beschreibbare Totalisierung der sekundären Bestimmung oder Hilfsfunktion zum primären Zweck oder zentralen Anliegen, diese Erhebung des bei der Erfahrung des anderen mitspielenden eigenen Erlebens zu einer am anderen als bloßer Projektionsfläche sich machenden und auskostenden, vollgültigen Selbsterfahrung gleichbedeutend ist mit der Reduktion der Geschlechtstätigkeit auf narzißtische Selbstbefriedigung, so gewiß liegt es nun auch in der Konsequenz solcher Reduktion, den zur Projektionsfläche degradierten Geschlechtspartner als eigenständige Existenz überhaupt abzuschaffen, auf ihn als begegnenden, gegebenen, wahrgenommenen zu verzichten und ihn als bloß geschauten, vorgestellten, phantasierten zur Geltung zu bringen, kurz, ihn als aktuelles Gegenüber abzudanken und als rein virtuelle Größe in Dienst zu nehmen. Die Tendenz zur Phantasmagorisierung des anderen ist um so folgerichtiger und naheliegender, als dieser andere ja, solange er äußere Realität behält und die zumindest formelle Eigenständigkeit eines objektiven Bezugspunkts behauptet, durch seine kontingente Wirklichkeit und fremde Empirie höchstens und nur die auf ihn projizierten narzißtischen Phantasien stören, der an ihm sich spiegelnden erotischen Selbsterfahrung hinderlich in die Quere kommen kann.

So gesehen, liegt also die Verdrängung des Geschlechtspartners aus der Position eines aktuellen Gegenüber und seine Rückführung auf die Rolle eines virtuellen Objekts ganz und gar in der Logik und Konsequenz des Narzißmus, zu dem die Geschlechtstätigkeit konvertiert. Aber selbst dort, wo die Geschlechtstätigkeit dem Hang zur Virtualisierung des anderen widersteht, wo sie an ihm als äußerem Gegenüber festhält, macht sich der die Beziehung prägende Narzißmus geltend und verschafft sich Ausdruck in einem der Tendenz zur Phantasmagorisierung parallelen, zweiten Symptom seiner Wirksamkeit: dem Trend zur Homoerotisierung des Geschlechtsverhältnisses. Nicht zwar die traditionelle Homosexualität als eine durch Chemie, Biologie, Triebschicksal oder Milieu bedingte, gleichgeschlechtlich orientierte Objektwahl, wohl aber die dieser traditionellen Homosexualität die Statur einer zur Heterosexualität alternativen, mit ihr konkurrenzfähigen geschlechtlichen Disposition verleihende moderne Homoerotik ist symptomatischer Ausdruck des für die Geschlechtlichkeit als solche mittlerweile maßgebenden Narzißmus. Als eine Option, die in der modernen, um den sexuellen Lustgewinn als um die wesentliche Bestimmung des Menschen zentrierten Gesellschaft alle Züge einer Massenbewegung annimt und mit dem Anspruch auf gleichberechtigte Entfaltung, subkulturelle Eigenständigkeit und eine quasipolitische Gemeinschaftsbildung einhergeht, legt die Homoerotik nicht weniger als die erotische Phantasmagorisierung der Sexualität Zeugnis ab von der Krise, in der das Geschlechterverhältnis steckt. Sie ist der Preis, den das Festhalten an objektiver Geschlechtlichkeit, an der Realität des Geschlechtspartners unter Bedingungen der narzißtischen Selbstbefriedigung der Geschlechtstätigkeit fordert. Das empirisch Kontingente, störend Fremde, das der andere als reales Gegenüber darstellt und das die Erotik durch Virtualisierung des anderen aus der Welt zu schaffen sucht, strebt die Homoerotik dadurch zu neutralisieren oder zu homogenisieren, daß sie beim anderen auf dem gleichen Sexus besteht, als Gegenüber das vertraute Eigene, die Physiognomie des Geschlechtsgenossen bevorzugt.

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