9. Sexuelle Caprice – Industrielle Integration
Allerdings irrt, wer den Verzicht des Bildungsbürgers auf das ans kontemplative Rentiersdasein geknüpfte ästhetische Selbstverwirklichungsprojekt und seine Rückkehr in das aktive Leben der realexistierenden bürgerlichen Gesellschaft für die Konsequenz seiner schließlichen Einsicht in die Unhaltbarkeit der projektierten ästhetischen Existenz und des von dieser vorausgesetzten sublimen Geschlechterverhältnisses und mithin für die Frucht einer ebenso bewußten wie freien Entscheidung hält. Sowenig sich der Bildungsbürger freiwillig in die Privatsphäre zurückgezogen und dort ästhetisch-lebensförmig eingerichtet hat, sosehr ihn die mit der traditionellen Staatsmacht paktierende und seiner politischen Repräsentationsleistungen deshalb nicht mehr bedürftige eigene, bürgerliche Klasse dorthin verbannt hat, sowenig kehrt er nun aus den freien Stücken besseren Wissens in das öffentliche Leben der Gesellschaft zurück. Was ihn vielmehr zur Rückkehr zwingt, ist die Liquidation der bürgerlichen Privatsphäre durch die bürgerliche Gesellschaft und damit die Aufhebung seines Asyls, der Verlust des Verbannungsorts, der ihm bis dahin als Zufluchtsstätte gedient hat.In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnt die bürgerliche Gesellschaft, das wieder aufzulösen, was sie zwei bis drei Jahrhunderte zuvor selber ins Leben gerufen hat: den der Ehe und Familie vorbehaltenen Lebensraum, den bürgerlichen Privatbereich. Ins Leben gerufen hat sie den bürgerlichen Privatbereich im Zuge der Kapitalisierung der gesellschaftlichen Produktionsmittel und der damit einhergehenden Verlagerung immer größerer Teile der gesellschaftlichen Arbeit aus dem traditionellen kooperativ-subsistenzorientierten familiären Hausgemeinschaftszusammenhang in die Sphäre manufakturell und dann industriell organisierter, arbeitsteilig-profitorientierter Produktionsbetriebe. Indem die bürgerliche Gesellschaft die Arbeit aus dem Familienbereich herauslöst und in die quasiöffentliche Assoziationsform der Manufakturbetriebe und Fabriken überführt, läßt sie den familiären Kontext verarmt und ebensosehr auf Haushalt und Kinderaufzucht, das heißt, auf die biologische Reproduktion der Gesellschaft, reduziert wie um seine unmittelbar soziale Bedeutung, das heißt, um seine Mitwirkung bei der ökonomischen Reproduktion der Gesellschaft, gebracht zurück. Da sie hauptsächlich den Mann mit der Durchführung der außer Haus verpflanzten Produktionsprozesse betraut, überträgt sie der Frau die Wahrnehmung dieser der Familie gebliebenen Restfunktionen des Haushalts und der Kinderaufzucht, macht sie zur Hüterin des Herds und treusorgenden Mutter und läßt sie mit den oben geschilderten Konsequenzen zur Herrin des Hauses, das heißt, zu der beschriebenen Mischung aus privatem Anhängsel des Mannes und im Privatbereich wirkendem Sonderbeauftragten der Gesellschaft, jener merkwürdigen Mischung also aus entmündigtem, rechtlosem Zubehör des anderen Geschlechts und mit der Vollmacht einer innerfamiliären Vergesellschaftungsinstanz ausgestatteten bürgerlichen Person sui generis werden.
Die Verlagerung aber der gesellschaftlichen Arbeit aus der Beschränkheit des paternalistisch verfaßten, subsistenzorientiert-kooperativen Hausgemeinschaftszusammenhangs in den offenen Raum einer kapitalistisch organisierten, profitorientiert-arbeitsteiligen Manukfaktur und Industrie zeitigt binnen zwei Jahrhunderten eine beispiellose Entfesselung der gesellschaftlichen Produktivkräfte und eine bis dahin unbekannte Vermehrung des gesellschaftlichen Reichtums. Da dieser Reichtum aber nicht um der Subsistenz willen, sondern aus Profitgründen, nämlich zur Schaffung von mehr, zur Schaffung von noch mehr Reichtum tauglichem Reichtum geschaffen wird, das heißt, sein Konsum daran gebunden ist, daß jeweils mehr von ihm produziert wird und das Konsumierte ersetzt, bedeutet die Zunahme des gesellschaftlichen Reichtums einerseits zwar eine Hebung des materiellen Wohlstands der Gesellschaft, andererseits aber auch eine immer stärkere Inanspruche der Gesellschaft für die Produktion des solchen Wohlstand begründenden Reichtums. In dem Maß, wie die gesellschaftliche Arbeit kapitalisiert wird, schafft sie Reichtum, der sie immer stärker und immer umfänglicher für die Schaffung weiteren Reichtums mobilisiert.
Diese durch die gesellschaftliche Produktion selbst bewirkte Mobilmachung der Gesellschaft für die Produktion nimmt in dem Maß die Züge einer geometrischen Eskalation an, wie zur kapitalisierten Arbeit mechanisierte und automatisierte Produktionsmittel hinzukommen und auf der Basis von Lohnarbeit und Maschinen das Zeitalter der Hochindustrialisierung anbricht. Der in der Phase der Manufaktur und der frühen Industrie akkumulierte Reichtum, der nach seiner materialen, auf Konsumenten abgestellten Seite einer gehobenen bürgerlichen und dann bildungsbürgerlichen Schicht ein Leben in Wohlstand und Müßiggang ermöglichte, sorgt nun kraft seiner kapitalen, auf die erweiterte Reproduktion seiner selbst gerichteten Funktion dafür, daß diese müßiggehenden Schichten in den gesellschaftlichen Produktionsprozeß wiedereingegliedert und zur Mitarbeit in dem gigantischen kapitalistischen Verwertungsapparat, zu dem die bürgerliche Gesellschaft sich zunehmend mausert, herangezogen werden. Daß der Bildungsbürger die von Tolstois Pierre, Kellers Heinrich und Dickens' David bezeugte Kehrtwendung vollzieht und sich aus seinem ästhetischen Privatreich wieder in den öffentlichen Raum der Gesellschaft zurückbequemt, scheint insofern ein wie immer auch politisch verbrämter beziehungsweise philantropisch verwässerter Ausdruck der Tatsache, daß die bürgerliche Gesellschaft im Zuge ihrer ökonomischen Mobilmachung die splendid isolation des Privatiersdaseins, in die seine politische Verbannung den Bildungsbürger getrieben hat, aufsprengt und ihn zur Rückkehr in den Kreis bürgerlicher Industrie und Geschäftigkeit nötigt, sprich, die früheren Verhältnisse allgemeinen bürgerlichen Gewerbefleißes, jetzt allerdings totalisiert und befreit vom Ballast einer auf Kosten dieses Fleißes lebenden absolutistsch-aristokratischen Schmarotzerschicht, wiederherstellt.
Von bloßer Rückkehr zu alten Zuständen kann indes bei genauerem Zusehen gar keine Rede sein. Was die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehende Situation grundlegend von der frühbürgerlichen unterscheidet, ist dies, daß die industrielle Mobilmachung eine die Gesamtgesellschaft umfassende, eine totale Mobilmachung ist, daß sie nicht länger eine geschlechtsspezfische Beschränkung hat, sondern in zunehmendem Maße Geschlechtsneutralität beweist, will heißen, Frauen und Männer gleichermaßen erfaßt. Durch die Zuckerbrot-und-Peitsche-Dynamik eines steigenden familiären Lebensstandards und eines zur Aufrechterhaltung solchen Lebensstandards nötigen wachsenden Familieneinkommens findet sich in zunehmendem Maße auch die bürgerliche und kleinbürgerliche Frau von Heim und Herd ins Büro, in gewerbliche und kommerzielle Tätigkeiten, in Sozial- und Lehrberufe abkommandiert. Dabei soll die Zwang suggerierende Rede vom Abkommandieren nicht etwa in Abrede stellen, daß die Frauen größtenteils aus freien Stücken und höchst bereitwillig dem Kommando Folge leisten. Sowenig das Kommando selbst die Züge unverblümter gesellschaftlicher Gewaltausübung trägt und sosehr es vielmehr in die objektive Form des besagten ökonomischen, aus materieller Verlockung und reeller Notwendigkeit amalgamierten Mechanismus gekleidet erscheint, sowenig sind mehr noch subjektiv die Frauen disponiert, jenen objektiven Mechanismus als Zumutung zu erfahren.
Was sie vielmehr in der Tat den Zwang als Befreiung erleben läßt, ist die gesellschaftliche Emanzipation und persönliche Rehabilitation, die ihnen zusätzlich zu allen Gewinnaussichten und in gewisser Weise unabhängig von letzteren der Eintritt in die bürgerliche Arbeitssphäre verheißt. Aus dem zumeist weniger goldenen als eisernen Käfig des von geschlechterrollenspezifisch-persönlicher Abhängigkeit geprägten bürgerlichen Ehe- und Familienlebens in die wie immer auch brutale Freiheit des von normalen klassenspezifisch-ökonomischen Zwängen beherrschten bürgerlichen Geschäfts- und Berufslebens entlassen, erhalten die Frauen die Chance, die sekundäre gesellschaftliche Funktion und Bürgerstellung zweiter Klasse, die sie als Hüterin der besonderen sozialen Einheit Familie innehaben, abzustreifen und eine dem männlichen sozialen Status ebenbürtige bürgerliche Identität und persönliche Integrität zu gewinnen. Wie könnte diese Aussicht verfehlen, den Frauen als eine – unbeschadet aller Initiationsängste, Insuffizienzgefühle und Umstellungsschwierigkeiten, die sie ihnen vielleicht bereitet – erstrebenswerte und nach Möglichkeit rasch zu realisierende Perspektive zu erscheinen?
Demnach ist die Rückkehr des Bildungsbürgers aus der ästhetisch überdeterminierten Privatsphäre des politisch kaltgestellten Rentiers in den ökonomisch determinierten Raum der gesellschaftlichen Arbeit und bürgerlichen Öffentlichkeit nicht etwa Ausdruck einer ihm als Mann eigenen subjektiven Besinnung und freien Entscheidung, sondern Resultat einer objektiven Bestimmung und historischen Disposition, die beide Geschlechter gleichermaßen betrifft und der sie nolens volens – wenngleich keineswegs unbedingt gezwungen oder auch nur widerstrebend – Folge leisten. Zugleich liegt auf der Hand, daß von einer Wiederherstellung frühbürgerlicher Verhältnisse, sprich, von einer Wiedereinführung der alten Trennung zwischen weiblich regierter Privatsphäre und männlich dominierter Öffentlichkeit keine Rede sein kann. Daß sich nun die bürgerliche Frau im Prinzip nicht weniger als der bürgerliche Mann in die gesellschaftliche Arbeitswelt und den Raum der bürgerlichen Öffentlichkeit abkommandiert findet, ist schließlich gleichbedeutend damit, daß die bürgerliche Privatsphäre ihr bisheriges organisierendes Zentrum, ihren als Herrin des Hauses und Hüterin der Familie firmierenden "guten Geist" verliert und sich anschickt, als die zur Keimzelle der Gesellschaft ideologisierte besondere, halbautonome Einrichtung, die sie traditionell ist, in Konkurs zu gehen.
Während sich so der Bildungsbürger der ins ästhetische Asyl und modellbildende Heiligtum umfunktionierten Privatsphäre entrissen und in die frühere gesellschaftliche Präsenz zurückexpediert sieht, findet er sich mehr noch, weil die bis dahin Haus und Herd hütende Frau ihm den Dienst aufkündigt und sich auf eigene, direkte Weise zu sozialisieren beginnt, dieser Privatsphäre überhaupt beraubt und muß feststellen, daß letztere ihm nicht nur in der abgeleiteten Bedeutung eines idealischen Musterguts, einer paradigmatischen Entfaltungsstätte, sondern auch in ihrer ursprünglichen Funktion als persönliche Domäne, als autokratisches Rückzugsgebiet verloren zu gehen droht: Von Heimatlosigkeit ereilt, sieht er sich der Frau, die ihm bislang die Heimat sicherte und bedeutete, als einer Konkurrentin konfrontiert, die ihm in aller gesellschaftlichen Arbeitswelt und bürgerlichen Öffentlichkeit den geschlechtsspezifischen Vorrang streitig macht.
Der Schock, den dieser gesellschaftlich disponierte Ausbruch der Frau aus der Beschränktheit ihrer Haushälterinnenfunktion und Mutterrolle, diese ihre Desertion von Heim und Herd, beim Bildungsbürger auslöst, hinterläßt tiefe Spuren in seiner literarischen Produktion. Noch ehe die bürgerlichen Frauen ernsthaft und in nennenswerter Zahl aus Haus und Familie streben, ist, eben weil dies Streben in einer objektiv-gesellschaftlichen Konstellation, einer politisch-ökonomischen Entwicklung seine Voraussetzung und sein Motiv hat, die männliche Phantasie bereits atmosphärisch darauf eingestimmt, die Frau in der neuen Rolle einer an ihrer ehelichen Aufgabe und ihrer mütterlichen Bestimmung Verrat übenden Saboteurin zu gewahren. In Flauberts "Madame Bovary" wie in Fontanes "Effie Briest", in George Elliots "Mill on the Floss" wie in Tolstois "Anna Karenina" erscheint die bürgerliche Frau als eine die eheliche Gemeinschaft aufkündigende, um eines persönlichen Bedürfnisses, einer egoistischen Zielsetzung willen Haus und Familie den Rücken kehrende Deserteurin.
Dabei ist die männliche Phantasie weit entfernt davon, den objektiven Grund solcher Desertion zu gewahren. So feinfühlig diese Phantasie auf die atmosphärischen Störungen reagiert, sowenig hat sie Einblick in die dafür verantwortliche Großwetterlage der bürgerlichen Gesellschaft. Was demzufolge im Roman die Frauen zur Desertion bewegt, ist nicht ihre Inanspruchnahme durch die Arbeitswelt, nicht die Chance der Berufstätigkeit, nicht ein durch gesellschaftliche Anforderungen geweckter Aktivitäts- und Entwicklungsdrang, nicht die Aussicht auf funktionsbedingte Gleichberechtigung und politisch-ökonomische Emanzipation, sondern fehlende Inanspruchnahme durch die Privatsphäre, aus Untätigkeit entstehende Langeweile und innere Leere, der Unausgefülltheit entspringende Caprice, von Sinnlosigkeit erregte Sehnsucht. Nicht positiv ein anderes Projekt, eine neue Sinngebung, sondern rein negativ der Verlust ihrer bisherigen Bestimmung, die unvermittelte Sinnleere ihres traditionellen Treibens, ist es, was dieser literarischen Verarbeitung der Krise der bürgerlichen Familie zufolge das weibliche Verhalten bestimmt.
Und wie das weibliche Verhalten ausschließlich ex negativo dessen, womit es den Bruch bedeutet, ausschließlich aus Sicht des familiären Kontextes, aus dem es die Frau desertieren läßt, und der ehelich-häuslichen Aufgaben, denen es sie entfremdet, wahrgenommen wird, so zeigen sich nun auch die Konsequenzen solchen Verhaltens in entsprechender Engführung ausschließlich durch den Gegensatz zu Ehe und Familie definiert und mithin strukturell an eben das fixiert, wovon es funktionell nichts mehr wissen will. Sosehr die Neuorientierung der bürgerlichen Frau, ihre Hinwendung zur Gesellschaft, in den negativen Termini einer Aufkündigung der ehelichen Gemeinschaft und eines Ausbruches aus dem Kreis der Familie definiert ist, sosehr reduziert sie sich in ihrer positiven Bestimmung auf eine Wahrnehmung eben dessen, wogegen die bürgerliche Ehe das Bollwerk zu bilden beansprucht, und erscheint als Regression auf eben das, wogegen der Kreis der Familie als Bannkreis aufgeboten wird: An die Stelle von ehelicher Gemeinschaft und gesellschaftlich sanktionierter Verbindung treten triebhafte Vereinigung und wilde Ehe, an die Stelle einer gewissenhaften Fortpflanzung und haushälterischen Kinderaufzucht treten verschwenderische Liebe und besinnungslose Leidenschaft.
In merkwürdig verspäteter Rollenübernahme tritt die bürgerliche Frau des 19. Jahrhunderts in die Fußstapfen des bürgerlichen Mannes des 18. Jahrhunderts und greift dessen Neigung zur Sexualisierung der Geschlechterbeziehung, zum Ausbruch ins Geschlechtsleben plötzlich auf beziehungweise läßt sich auf die diesbezüglichen Avancen, die der Mann ihr macht, unvermutet ein und dankt dabei das mit empfindsamkeitskultlichen Mitteln errichtete Bollwerk aus Ehe und Familie, das die Gesellschaft solchem Ausbruchsversuch entgegensetzte und in dessen Zentrum sie selbst sich von der Gesellschaft als Gralshüterin und Beschließerin etabliert findet, aus ganz und gar eigenem Antrieb ab.
Daß indes diese Desertion von Ehe und Familie, zu der sich die bürgerliche Frau entschließt, andere Gründe hat als sexuelle Lust und libidinöse Leidenschaft, beweist der symptomatische Umstand, daß es in allen Fällen subjektiv, aus Sicht der Frau selbst, oder objektiv, aus Sicht des beteiligten Mannes, nur ein Seitensprung, eine flüchtige Affäre ist, worauf sich die Deserteurin einläßt, und daß sie, weit entfernt davon, sich in dem neuen Verhältnis engagieren und mit ihm identifizieren zu können, vielmehr einen Prozeß fortlaufender Ernüchterung und Demotivierung durchläuft. In dem Maße, wie sich der sexuelle Anlaß, der libidinöse Auslöser der Desertion, als illusionär enthüllt und erledigt zeigt, tritt das Launische, Unmotivierte des weiblichen Verrats in den Vordergrund und läßt diesen Verrat als die schicksalsträchtige Caprice, als die er letztlich erscheint, zur symptomatischen, gegen Unbekannt erstatteten Anzeige des anderen, eigentlichen Beweggrundes werden, dem das Verhalten der Frau gehorcht.
Dieser andere Beweggrund ist die an die Frau adressierte gesellschaftliche Forderung nach Preisgabe ihrer exklusiven Einbindung in die Privatsphäre und nach Integration in die industrielle Arbeitswelt und bürgerliche Öffentlichkeit – ein Beweggrund, der deshalb, weil er von der literarischen Phantasie sei's aus ersatzbildnerischer Unkenntnis, sei's in reaktionsbildnerischer Abwehr durch ein streng im Rahmen der Privatsphäre sich haltendes, als reines Negativ zu Ehe und Familie bestimmtes Motiv, das der sexuellen Triebhaftigkeit und libidinösen Leidenschaft, verdrängt und substituiert wird, sich dagegen nun auch nur in eben der Form zum Ausdruck und zur Geltung zu bringen vermag, in der verdrängte Beweggründe sich seit jeher artikulieren und in Szene setzen: in der Ungestalt einer Laune des Zufalls, schicksalhafter Caprice.
Dafür, daß die als Motiv für den Ausbruch aus Ehe und Familie angeführte sexuelle Kausalität und libidinöse Obsession nicht die ganze Wahrheit und in der Tat eher Deckadresse als wahrer Beweggrund ist, spricht – neben der als Desillusionierung erfahrenen Verflüchtigung jenes Motivs, die das Verhältnis geradezu umkehrt und aus der leidenschaftlichen Liebe, der die Laune den Weg bahnt, die schicksalhafte Laune werden läßt, der die Liebe bloß den Vorwand liefert – auch und vor allem das Fehlen aller moralischen Indignation und richterlichen Überhebung. Und zwar nicht nur bei den Autoren, wo sich der Mangel an moralischer Entrüstung noch aus einer bereits durch die Themenwahl bezeugten sympathisierenden Haltung und emanzipatorischen Absicht erklären ließe, sondern ebensoehr beim Publikum, das die betreffenden Romane nicht als Dokumente der Denunziation rezipiert und in der Deserteurin nicht die am Pranger stehende Verworfene gewahrt, der das persönliche Glück mehr gilt als die eheliche Pflicht und die Lust zum Geschlecht mehr als der Dienst an der Familie. Dieser Leserschaft drängen sich vielmehr der Flaubertsche oder der Tolstoische Roman von Anfang an als Zeugnisse einer das weibliche Subjekt, ohne daß es weiß, wie ihm geschieht, ereilenden schicksalhaften Verstrickung auf und erscheint deshalb die Deserteurin als tragische Heldin, als Opfer, das eher zu Betroffenheit und Mitgefühl als zu Distanzierung und Häme Anlaß gibt.
Kein Exempel, aus dem sich eine Moral ziehen ließe, stellen die Heldinnen dieser um den Verrat der Frau an ihrer traditionellen gesellschaftlichen Rolle zentrierten Romane dar, sondern sie führen einen tragischen Konflikt vor, der höchstens und nur der Katharsis dient. Der Grund dafür liegt auf der Hand und folgt aus dem Unterschied zwischen Moralität und Tragödie. Während das moralische Lehrstück das Subjekt im Konflikt seines persönlichen Meinens und Wollens mit objektiv-gesellschaftlichen Forderungen und Pflichten zeigt, führt die Tragödie das Subjekt vor, wie es von einander widerstreitenden objektiv-gesellschaftlichen Ansprüchen und Normen bestürmt und zerrissen wird. Genau letzteres widerfährt der bürgerlichen Frau à la Madame Bovary. Auch wenn es oberflächlich so scheint, als stünde der gesellschaftlichen Forderung nach Erfüllung der ehefraulichen Pflichten und Wahrnehmung der Mutterrolle nichts als das Streben der Frau nach geschlechtlicher Liebe und persönlichem Glück gegenüber, verbirgt sich doch hinter dem Alibi solchen persönlichen Glücksstrebens, wie dessen Vereitelung und Reduktion auf eine schicksalhafte Caprice symptomatisch deutlich macht, ein ganz und gar unpersönlicher, objektiver Beweggrund: der das weibliche Geschlecht in den industriellen Produktionsprozeß einbeziehende Bedarf der kapitalistischen Gesellschaft an Arbeitskräften. Mit anderen Worten, die gesellschaftliche Forderung an die Frau, in Ehe und Familie ihre Bestimmung zu finden, kollidiert in Wahrheit mit dem nicht minder gesellschaftlichen Anspruch an sie, sich in der industriellen Arbeitssphäre und in der bürgerlichen Öffentlichkeit zu engagieren, und verwickelt sie in ein tragisches Dilemma. Und weil der Leser das weiß oder jedenfalls spürt, anerkennt er sie als tragische Heldin und reagiert auf ihr Verhalten nicht mit moralischer Entrüstung, sondern mit kathartischer Erschütterung.