IX.

Kern- und Springpunkt der industriekapitalistischen Wirtschaftsform ist die extensive und intensive Ausbeutung menschlicher Arbeit, die dadurch möglich wird, dass in einem langwierigen historischen Enteignungsprozess große Teile der Gesellschaft ihrer zur Selbsterhaltung erforderlichen traditionellen Arbeitsmittel beraubt und auf ihre von aller eigenständigen produktiven Entfaltung abgeschnittene abstrakte Arbeitskraft reduziert werden, die sie bei Strafe des Verlusts jeglicher Subsistenz denen zur Verfügung stellen müssen, in deren Eigentum sich die Produktionsmittel befinden. Bei den Eignern der Produktionsmittel, auf welche die vormals selbständigen und jetzt enteigneten früheren Produzenten zur Betätigung ihrer abstrakten Arbeitskraft angewiesen sind, handelt es sich um Repräsentanten des in den vorausgegangenen beiden Jahrhunderten entstandenen und zum zentralen gesellschaftlichen Umschlagsplatz avancierten Markts, die durch ihr marktspezifisches Warenaustauschgeschäft, ihre handelskapitalistische Tätigkeit Reichtum in allgemeiner Wertform, in Form des allgemeinen Wertäquivalents und Tauschmittels Geld akkumulieren und aber das Akkumulierte wesentlich und in wachsendem Maß dazu benutzen, Produktionsmittel in ihren Besitz und damit die an sie gebundenen Produktionsprozesse unter ihre Verfügung zu bringen.

Sinn und Zweck dieser aus Sicht der vormals selbständigen Produzenten als historischer Enteignungsprozess firmierenden Aneignungsprozedur ist die Vermehrung der von den Marktrepräsentanten in die Produktionsmittel investierten Wertmenge durch die wertbildende Substanz, die Arbeit selbst. Dafür, dass die Marktrepräsentanten den Produzenten die für ihre Arbeit erforderlichen Produktionsmittel zur Verfügung stellen, müssen die letzteren den ersteren einen Mehrwert geheißenen Teil der von ihnen produzierten Wertmenge überlassen. Oder hypostatischer und besser gesagt, erhalten die Produzenten von den Marktrepräsentanten nur einen als Lohn bezeichneten Teil der Wertmenge ausbezahlt, die durch den Einsatz der Arbeitskraft den Produktionsmitteln entspringt. Tatsächlich impliziert der Arbeitsvertrag, den die Marktrepräsentanten mit den auf ihre abstrakte Arbeitskraft reduzierten Produzenten schließen, einen zutiefst hypostatischen Subjektwechsel. Für die Marktrepräsentanten ist das eigentlich produzierende Subjekt nicht der Produzent, dem das Produktionsmittel zwecks Betätigung seiner Arbeitskraft zur Verfügung gestellt wird, sondern das Produktionsmittel selbst, dem zwecks Realisierung seines produktiven Potentials die Hefe der Arbeitskraft zugefügt wird. Die Produktionsmittel sind die eigentlich prozessierende Instanz, das Kapital, dessen Sinn und Nutzen es ist, die Wertmenge, die es darstellt, mittels Arbeitsprozess zu vergrößern. Indem die Marktrepräsentanten dem auf seine abstrakte Arbeitskraft reduzierten Produzenten diese gegen einen – egal, ob vorgeschossenen, ob am Ende ausgezahlten – Teil des zu erwartenden Mehrwerts befristet abkaufen, um sie für die im Kaufvertrag vereinbarte Frist in den Dienst der Produktionsmittel zu stellen, verwandeln sie den so als Lohnarbeiter firmierenden Produzenten faktisch in ein Moment des Kapitals selbst, in das zum Faktor des konstanten Kapitals der Produktionsmittel hinzutretende variable Kapital, dessen geheimnisvolle Eigenschaft es ist, mehr Wert hervorzubringen, als es selbst zusammen mit dem konstanten Kapital der Produktionsmittel darstellt, kurz, als sich selbst verwertender Wert zu fungieren.

Der Mehrwert, den die Produktionsmittel als konstanter Kapitalfaktor und eigentliches Subjekt des ganzen Prozesses ihrem kapitalen Ferment, dem variablen Kapitalfaktor Arbeitskraft, dadurch abgewinnen, dass sie sich von der Arbeitskraft bearbeiten lassen, ist der letzte Zweck der Veranstaltung. Aber er ist kein Selbstzweck. Er wird vielmehr seinerseits wiederum in Lohn, variables Kapital verwandelt und dient mithin dazu, neue und weitere Arbeitskraft zur Produktion neuen und weiteren Mehrwerts anzuheuern und zu organisieren. So wahr der letzte Zweck des kraft Lohnarbeit absolvierten Produktionsprozesses die Vermehrung des in den Produktionsmitteln verkörperten Werts ist, so wahr dient der vermehrte Wert im Wesentlichen zu nichts anderem als zur Aufrechterhaltung und Perpetuierung dieser mittels des Kapitalfaktors Arbeitskraft als förmliche Selbstverwertung des Kapitals konzipierten Wertvermehrung. Der Mehrwert ist demnach zwar kein Selbstzweck, wohl aber Umschlagspunkt einer in schlechter Unendlichkeit sich verlaufenden zirkulären Reproduktion: Resultat eines gesellschaftlichen Expropriationsverfahrens, dient er in der Hauptsache der Wiederholung und Neuinszenierung dieses Expropriationsverfahrens. Und zwar einer Wiederholung, die nicht eigentlich zirkulär, sondern vielmehr spiralförmig verläuft, die mit anderen Worten wesentlich den Charakter einer ständig eskalierenden, sich fortlaufend erweiternden Reproduktion trägt. Diese Erweiterung ist als rein lineare Konsequenz schon im Vorgang als solchem angelegt: Weil jedes Mal zum reproduzierten Wert der Kapitalfaktoren der dem variablen Kapitalfaktor Lohnarbeitskraft abgewonnene Mehrwert hinzutritt, beginnt jeder zwecks Mehrwertschöpfung angestrengte neue Produktionsprozess auf der Grundlage einer vergrößerten Wertmenge, die, sofern sie mehr Produktionsmittel und Arbeitskraft zu rekrutieren, kurz, das "produzierende" Kapital zu vergrößern dient, zwangsläufig in einer Erweiterung des Produktionsprozesses selbst resultiert.

Vollends aber den Charakter einer geometrischen Eskalation nimmt die in actu der Wiederholung erweiterte Reproduktion des kapitalen Expropriationsverfahrens deshalb an, weil das Streben des in den Produktionsmitteln agierenden konstanten Kapitals nach einem dem Kapitalfaktor Arbeitskraft abzugewinnenden Mehrwert ein in der Logik des Begriffes liegendes Streben nach mehr Mehrwert, das heißt nach einer relativen Steigerung des ihm, dem konstanten Kapitalfaktor, dem Kapital sans phrase, zufallenden Anteils am produzierten Wert impliziert. Auf Kosten des der Arbeitskraft überlassenen Anteils am produzierten Wert und relativ dazu will das Kapital seinen Wertanteil vergrößern und erfüllt damit seinen auf die Expropriation und Ausbeutung der Arbeitskraft zwecks weiterer und vermehrter Expropriation und Ausbeutung der Arbeitskraft gemünzten ziellos-leerlaufreaktiven Begriff. Um seinen Wertanteil im Verhältnis zu dem der Arbeitskraft überlassenen Anteil, dem Lohn, zu vergrößern und also mehr Mehrwert aus der Produktion herauszuschlagen, stehen dem Kapital im wesentlichen drei Strategien zu Gebote: Erstens kann es danach streben, die Arbeitskraft zu verwohlfeilern, den Lohn für sie zu drücken und damit bei gleicher produzierter Wertmenge einen größeren Teil als vorher von ihr zurückzubehalten, der dann für eine beschleunigte Erweiterung des kapitalen Produktionsprozesses zur Verfügung steht. Zweitens kann das Kapital sein Ziel einer relativen Vermehrung des Mehrwerts durch eine extensive Ausbeutung der Arbeitskraft zu erreichen suchen, das heißt dadurch, dass es die Lohnarbeiter zwingt, länger zu arbeiten beziehungsweise mehr Arbeitskraft pro Zeiteinheit zu verausgaben, mit dem Ergebnis, dass eine absolut größere Wertmenge als vorher geschaffen wird, von der bei gleichbleibendem variablem Kapitalanteil ein entsprechend größerer Teil als Mehrwert firmiert. Drittens steht dem Kapital noch die Strategie der intensiven Ausbeutung der Arbeitskraft zu Gebote, die das Ziel einer relativen Vergrößerung des Mehrwerts nicht durch eine Verlängerung der Arbeitszeit und stärkere Verausgabung von subjektiver Arbeitskraft, sondern vielmehr durch eine Steigerung der Produktivität, das heißt, durch die Erhöhung der objektiven Arbeitsleistung erreicht.

Diese Strategie, deren wesentliche Erscheinungsform der seit nunmehr einem halben Jahrtausend andauernde naturwissenschaftlich-technische Fortschritt, eine die Produktionsmittel permanent revolutionierende Mechanisierung und Automatisierung der Arbeitsprozesse und im Anschluss daran des gesamten gesellschaftlichen Lebens ist, kann als Schlüsselphänomen der kapitalistischen Produktionsweise betrachtet werden und schafft überhaupt erst die Voraussetzung für das Funktionieren der beiden erstgenannten Methoden zur Steigerung des kapitalen Anteils an der produzierten Wertmenge. Nur weil der den kapitalistischen Akkumulationsprozess begleitende und befördernde technische Fortschritt, die allmähliche Verwandlung handwerklicher Produktionsmittel in einen manufakturellen und dann industriellen Produktionsapparat, die eingesetzte Arbeitskraft immer leistungsfähiger und den Warenausstoß immer ertragreicher werden lässt, kann es zu jener kontinuierlichen Freisetzung von Arbeitskräften kommen, die – zusammen mit einem ebenfalls aufs Konto des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts gehenden anhaltenden Anstieg der Lebenserwartung und einem vermutlich der materialen Reichtumsperspektive, die der kapitale Akkumulationsprozess eröffnet, geschuldeten langfristigen Bevölkerungswachstum – zweihundert Jahre hindurch für ein solches Überangebot der Ware Arbeitskraft sorgt, dass auf dem Höhepunkt der Entwicklung im 19. Jahrhundert das Kapital diese Ware praktisch nach Belieben im Preis drücken beziehungsweise Konditionen unterwerfen kann, die sie zum Spielball einer bis an die Grenze ihrer physischen Belastbarkeit und biologischen Überlebensfähigkeit getriebenen extensiven Ausbeutung werden lassen.

Sosehr aber die für die Verelendung der proletarischen Klasse im 19. Jahrhundert maßgeblich verantwortlichen Mehrwertvergrößerungsmechanismen einer Verwohlfeilerung der Arbeitskraft und Extensivierung ihrer Ausbeutung als Konsequenz der Mehrwertvergrößerungsstrategie einer Steigerung der Arbeitsleistung durch Erhöhung der Produktivität gelten müssen, sowenig findet doch umgekehrt diese Strategie in jenen Mechanismen ihren Zweck oder wenigstens ihr notwendiges Korrelat. Wie die Entwicklung unseres Jahrhunderts zeigt, dauert auch, nachdem der Staat angesichts drohender revolutionärer Verhältnisse und Bürgerkriegszustände den ersteren beiden Mechanismen durch sozialpolitische Eingriffe die Spitze abgebrochen und nämlich teils den Arbeitern die Möglichkeit eingeräumt hat, mittels gewerkschaftlicher Selbstorganisation der durch die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt bedingten haltlosen Verwohlfeilerung der Arbeitskraft einen Riegel vorzuschieben, teils selber gesetzgeberische Maßnahmen ergriffen hat, um die extensive Ausbeutung der Arbeitskraft auf ein erträgliches Niveau herunterzuschrauben – dauert also auch nach diesen Interventionen der Staatsmacht die Strategie der Produktivitätserhöhung mit Hilfe des wissenschaftlich-technischen Fortschritts nicht nur fort, sondern erreicht sogar schwindelerregende Ausmaße und ein atemberaubendes Tempo. Nicht nur gibt sich diese Strategie einer Steigerung der Produktivität durch fortlaufende wissenschaftlich-technische Revolutionierung der Produktionsmittel von Anfang an als Wesensmerkmal der kapitalistischen Entwicklung zu erkennen, sie hat sich mittlerweile mehr noch als der harte Kern der auf die Akkumulation von Wert gerichteten kapitalen Logik herausgeschält und unterscheidet sich insofern fundamental von den auf die direkte Ausbeutung von Arbeitskraft abgestellten beiden anderen Mechanismen zur relativen Steigerung des Mehrwerts, die zwar zwangsläufige Konsequenzen der Kapitalentwicklung darstellen mögen, aber doch nur Konsequenzen, keine Konstituentien, und von denen deshalb weder das Funktionieren des kapitalistischen Systems abhängt, noch überhaupt ausgemacht ist, ob sie nicht als zeitweilige Begleiterscheinungen oder Entwicklungsetappen der Vergangenheit angehören.

So durchgängig wesentlich scheint demgegenüber die Strategie einer Erhöhung der objektiven Arbeitsleistung mittels Steigerung der Produktivkraft dem kapitalistischen System und bei genauerer Betrachtung so entscheidend für dessen geschichtliche Ausbildung und gesellschaftliche Durchsetzung, dass es sich geradezu anbietet, in dieser aufs kapitalistische System als solches gemünzten Entfaltungsfunktion den eigentlichen Sinn jener Strategie zu sehen und die zuvor als ihr letzter Zweck behauptete relative Steigerung des Mehrwerts eher zu einer als Triebfeder nützlichen Hilfsfunktion, einer im Sinne des tieferen Sinnes wirksamen List der Vernunft zu degradieren. Zwar in den Köpfen der Funktionäre des sich als Kapital verwertenden Werts firmiert, wie es sich für ein Motiv, das als List der Vernunft funktionieren soll, gehört, die relative Steigerung des Mehrwerts als der einzige und letzte Zweck jener auf die Erhöhung der Produktivität gerichteten Strategie. Tatsächlich aber wird ja dieser Zweck durch die gleiche Strategie, die ihn angeblich als ihr ein und alles verfolgt, auch immer wieder durchkreuzt und hintertrieben. Mehr Mehrwert erbringt die Steigerung der objektiven Arbeitsleistung oder Produktivität durch Revolutionierung der Arbeitsmittel ja nur so lange, wie sie sich als Ausnahme von der Regel des generellen Produktivitätsniveaus behaupten kann und die revolutionierten Arbeitsmittel nicht ihrerseits zum festen Bestandteil und normativen Faktor des gesellschaftlichen Produktionsprozesses avanciert sind. Sobald die neue objektive Arbeitsleistung sich als gesellschaftliche Norm durchgesetzt hat, passt sich die für die Produktion der betreffenden Güter erforderliche durchschnittliche gesellschaftliche Arbeitszeit diesem neuen Produktivitätsstand an und reduziert sich dementsprechend das in den Produkten verkörperte Quantum Arbeit, ihr Wert. Weit entfernt davon, dass durch jene Strategie mehr Mehrwert geschaffen würde, ist also am Ende nur eine größere Gütermenge gleichen Werts ihr Ergebnis.

Und dass der neue Produktivitätsstand sich gesellschaftlich durchsetzt, dafür sorgt das der kapitalistischen Produktionsweise von Anfang an eingeschriebene Konkurrenzprinzip, das heißt, die unwiderstehliche Neigung derer, die den Produktivitätsfortschritt einführen, ihn im Vorgriff auf die aus ihm resultierende Wertminderung der Produkte zu einer Senkung des Marktpreises der letzteren zu nutzen und damit zum Vehikel eines Verdrängungswettbewerbs zwischen den einzelnen Kapitalagenten zu machen. Statt den relativ vergrößerten Mehrwert einzustreichen, den ihr Produktivitätsfortschritt ihnen auf dem gegenwärtigen Stand der Produktivkraft verschafft, senken die betreffenden Kapitalagenten, um ihre Absatzchancen zu vergrößern und ihre Position auf dem Markt auf Kosten der anderen zu verbessern, in Annäherung an den tatsächlichen produktivitätsspezifischen Wert ihrer Produkte freiwillig deren Preis und zwingen damit ihre Konkurrenten, die Produktivität ebenfalls zu erhöhen, um nicht mit ihren Produkten vom Markt verdrängt zu werden. In der Anfangszeit der kapitalistischen Entwicklung richtet sich diese Produktivkraftentfaltungsstrategie, die sich hinter der subjektiv ebenso ehrlichen wie objektiv eitlen Absicht der Beteiligten, den relativen Mehrwert zu erhöhen, als eigentliches Telos verbirgt, vornehmlich gegen die noch nicht von der kapitalistischen Produktionsweise erfassten traditionellen Erzeugerformen und Erzeugerbereiche, während sie später zu einem Mittel des kapitalistischen Konkurrenzkampfs im engeren Sinn, nämlich zu einem Mittel des Kampfs der einzelnen Kapitalagenten um Marktanteile wird. Die Freiwilligkeit und aggressive Expansionsabsicht des Einsatzes der Produktivität als eines Mittels im Konkurrenzkampf ist heute, wo der Markt hochgradig gesättigt ist und es deshalb nicht mehr um die Ausdehnung, sondern höchstens noch um die Behauptung von Marktanteilen geht, passé. Geblieben aber ist und deutlicher sogar als je zuvor tritt zutage, dass, was sich hinter der Camouflage gleichermaßen des Strebens nach mehr Mehrwert und des Kampfes um Marktanteile verbirgt, die heute nicht mehr wie noch den sozialistischen Theoretikern des 19. Jahrhunderts als Signatur der Vorsehung erscheinende, sondern eher den Eindruck eines blinden Automatismus machende Logik einer Entfaltung der Produktivkraft der Arbeit ist.

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