XI.

Mögen indes die Linksliberalen unter den bürgerlichen Intellektuellen, die Materialisten unter den Ästheten noch so lauthals religionskritisch und vage gesellschaftsreformerisch die Metaphysik hinter dem physischen Positiv, das abstrakte Wesen hinter den scheinkonkreten Erscheinungen in Abrede stellen, die Ausgebeuteten selbst, an die sich die positivistische Heilsbotschaft nicht zuletzt richtet, wissen es besser. Sie wissen kraft ihrer Lohnabhängigkeit, kraft ihres Eingespanntseins in den kapitalen Verwertungsprozess, dass jene lohnunabhängige Konsumexistenz, jene gesellschaftliche Basis der von Feuerbach und seinesgleichen propagierten rezeptiv-kontemplativen Lebensform alles andere als ein unmittelbar Gegebenes, ein positiv Eigenständiges ist, dass sie vielmehr bloße Setzung und abhängige Funktion, Begleiterscheinung und Abfallprodukt des sich mittels Lohnarbeit verwertenden Kapitals ist. Sie wissen, dass als primäre ökonomische Nutznießer und soziale Begünstigte der in Warenform eskalierenden industriekapitalistischen Reichtumsproduktion die bildungsbürgerlichen Schichten ihr konsumtives Wohlleben eben dem kapitalen Mechanismus zur Aneignung von Mehrwert schulden, den sie zugleich als abstrakt-zweckrational und konkurrenzhaft-egoistisch verdammen und gegen den sie dies Wohlleben, das sie ihm verdanken, als eine qua ästhetisch-rezeptive Lebensform vorgebliche Alternative hochhalten. Und weil die Ausgebeuteten diesen intimen Zusammenhang zwischen Aneignung des Mehrwerts durch das Kapital und Aneignung der Waren, in denen der Mehrwert unmittelbar sich verkörpert, durch die Kapitalklientel, die bildungsbürgerlichen Schichten, handgreiflich erfahren und in actu der Kaufkraft ihres eigenen Arbeitslohns auf dem Markt täglich vor Augen geführt bekommen, beziehen sie auch in ihren sich gewerkschaftlich organisierenden ökonomischen Kampf gegen den kapitalistischen Ausbeutungsmechanismus und ihren sich parteilich artikulierenden politischen Widerstand gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung diese bildungsbürgerlichen Schichten als auf der Seite des Kapitals stehenden Kontrahenten, als Klassengegner, unbeirrt mit ein und sind nach Maßgabe der ökonomischen Not und des sozialen Elends, worein die in der Konsumexistenz dieser Schichten resultierende industriekapitalistische Ausbeutung sie stürzt, zunehmend immun gegen alle Feuerbachsche Suggestion einer jener Konsumexistenz eigenen klassenüberhoben anthropologischen Modellfunktion und humanistischen Lebensqualität.

Dieser kompromittierenden Verbindung oder konspirativen Nähe zur kapitalen Ausbeutung, deren sich die bildungsbürgerlichen Schichten durch die gesellschaftskritische Feindseligkeit und klassenkämpferische Frontstellung der Ausgebeuteten überführt sehen und die sie, wie einerseits zum Nutznießer, um nicht zu sagen Schmarotzer, der kapitalen Mehrwertabschöpfung abstempelt, so andererseits in ihrem Anspruch, eine ebenso eigenständige wie zukunftsweisende Lebensform zu praktizieren, ad absurdum führt, ihr suchen sie sich nun durch den als Umwertung aller Werte apostrophierten Befreiungsschlag zu entziehen, für den ebenso sprichwörtlich wie paradigmatisch Nietzsche steht. In der Hauptsache besteht der Befreiungsschlag darin, die konsumtive Nutznießung zum legitimen Privileg, das ästhetisch-kontemplative Schmarotzertum zum höchsten gesellschaftlichen Zweck und Gipfelpunkt menschlicher Selbstverwirklichung zu erklären. Unter dem Motto einer Umwertung aller Werte dreht Nietzsche das politisch-ökonomische Abhängigkeitsverhältnis kurzerhand um: Aus einer unvermeidlichen Begleiterscheinung und einem zwangsläufigen Abfallprodukt der arbeitskräftigen Selbstverwertung des Kapitals verwandelt sich die "ungeheure Warensammlung" auf dem Markt und die in der Verfügung über diese Warensammlung gründende ästhetisch-kontemplative Lebensform der bildungsbürgerlichen Schichten ins eigentliche Telos und in den wahren Sinn des kapitalen Tuns und Treibens.

Weit entfernt davon, dass als zugleich zureichende Bedingung und wirkende Ursache der konsumtiven Lebensform des Bildungsbürgers die durchs Kapitalinteresse diktierte spezifische Organisation der gesellschaftlichen Arbeit und Reproduktion gelten dürfte, hat umgekehrt die gesellschaftliche Arbeit mitsamt dem sie organisierenden und verwertenden kapitalen Mechanismus ihren letzten Zweck und ihren wahren Grund in jener konsumtiven Lebensform. Weit entfernt davon, dass der bildungsbürgerliche Genussmensch eine in den Kauf der industriekapitalistisch organisierten Ausbeutung von Arbeitskraft genommene Folge- und Nebenerscheinung ist, verleiht vielmehr seine Existenz jenem Ausbeutungsprozess allererst seinen sozialen Sinn und seinen universalhistorisch bleibenden Wert. Jedenfalls sollte es so sein und verhielte sich auch so, wenn nur der bildungsbürgerliche Konsument seiner hohen Berufung gewachsen wäre und seiner privilegierten Rolle gerecht würde, statt sich in Selbstzweifeln zu zerfleischen und mit dem schlechten Gewissen einer von Selbstverleugnung triefenden Mitleidsmoral sich seiner herrschaftlichen Privilegien zu schämen und den dekadenten Idealen christlicher Nächstenliebe, humanistischer Gleichmacherei und sozialer Gerechtigkeit anzuhangen, wenn er also, statt sich das Ressentiment und die kleinmacherische Ranküne der unteren Schichten zu Herzen zu nehmen und teils in eine hochnotpeinliche Gewissenserforschung und Selbstanklage, teils in eine altruistische Parteinahme für den ressentimenterfüllten sozialen Gegner umzumünzen – wenn er statt dessen also in die Fußstapfen seiner beherzteren Vorfahren, der aristokratischen Nutznießer gesellschaftlichen Reichtums aus vergangenen Tagen, träte und als legitime Erbschaft annähme und genösse, was ihm eine biologistisch begründete klassengesellschaftliche Herrschaftsordnung zuwendet und zur Beute fallen lässt.

Was somit Nietzsche dem Ausbeutungsvorwurf, dem die gegen das Industriekapital mobil machenden proletarischen Schichten auch und gerade die als Kapitalklientel identifizierten bildungsbürgerlichen Schichten subsumieren – was Nietzsche diesem Ausbeutungsvorwurf entgegenhält, ist das oben bereits geschilderte beutegesellschaftliche Machtkampfmodell, das biologisch verankerte, geschichtsbeherrschende Modell eines vom Willen zur Macht bestimmten Kampfes zwischen den einzelnen, die sich nach Maßgabe ihrer Willensstärke und Kampfkraft zu Klassen sortieren, in die Gruppen der Starken und der Schwachen, der Edlen und der Gemeinen, der Herren und der Sklaven auseinanderlegen, eines Kampfes, der sich teils um die Verfügung über die Güter und Befriedigungsmittel dieser Welt, teils und vor allem darum dreht, wer über wen herrschen, wer wem willfährig und unterworfen sein, wer aus wessen Arbeitskraft Nutzen, wer aus wessen Dienstbarkeit Gewinn ziehen soll. So wahr der Sinn oder Unsinn des Lebens, der Logos des Bios, die ultima ratio allen Daseins in dieser Herrschaft der einen über die anderen, dieser im Kern gewaltsamen Aneignung der Produkte und Leistungen der anderen durch die einen, diesem zwischen beiden sich herstellenden parasitären Verhältnis besteht, so wahr kann Nietzsche die primär in der Rolle von Konsumenten, von Nutznießern des gesellschaftlichen Reichtums figurierenden bildungsbürgerlichen Schichten in jene Tradition einer Beute machenden, will heißen, von der Aneignung der Produkte und Leistungen anderer nicht bloß profitierenden, sondern lebenden Aristokratie einreihen.

Nur dass die bildungsbürgerlichen Schichten selbst sich gegen diese ihnen zugewiesene Tradition, gegen diese ihre Identifizierung als neue Spielart der zur Herrschaft berufenen alten Aristokratie sträuben, weil sie von jener zur Gewissensnot ausufernden moralischen Bedenklichkeit, jener zum sozialen Bewusstsein fortschreitenden Selbstverleugnung, kurz, jener zur Mitleidsregung und zur Gefühlsduselei sich steigernden Willensschwäche oder Brechung des Triebes zur Macht befallen sind, die Nietzsche als kapitales Krisenphänomen der Menschheitsgeschichte im allgemeinen und der Kulturentwicklung im besonderen diagnostiziert und die er in ungeklärter Ambivalenz entweder einem dunklen, ressentimentzerfressenen Gegenspieler seines hellen, lebensbejahenden Herrenmenschen, quasi einem als eigene Species perennierenden aristokratischen Negativ, zur Last legt oder aber als interne Krise des herrischen Willens selbst, als Konsequenz der Hybris eines Willens, der auch noch über sich selbst triumphieren möchte, begreift. So oder so werden die bildungsbürgerlichen Schichten ihrer Berufung zur Herrschaft, ihrer Rolle als naturgegebene Nutznießer des gesellschaftlichen Organismus und seiner reproduktiven Einrichtungen nicht gerecht, und Nietzsche betrachtet es als eine seiner wesentlichen Aufgaben, sie in diesem Punkte zur Ordnung zu rufen und an ihre wahre Bestimmung zu erinnern.

Dass sie am Ende doch noch bereit sein könnten, ihre moralischen Skrupel und sozialen Sentimentalitäten über Bord zu werfen und sich auf ihre adelsherrschaftlichen Tugenden zu besinnen beziehungsweise zu ihren klassengesellschaftlichen Privilegien zu bekennen, diese Hoffnung schöpft Nietzsche aus seiner bereits referierten geschichtsphilosophischen Konstruktion, der zufolge jene sei's durch fremde Einwirkung hervorgerufene, sei's selbstinduzierte Schwächung oder vielmehr Brechung der Willenskraft, die in jüdischer Moral, christlichem Mitleid oder sozialistischer Solidarität, kurz, in jeder Form von gattungsbewusstem und sozialverantwortlichem Verhalten Ausdruck findet, nur eine kritische Durchgangsetappe oder Krankheitsphase ist, aus der zu guter Letzt der Wille, immunisiert und neu gestärkt, mithin nicht bloß in alter Frische, sondern tatsächlich mit größerer Spannkraft denn je, wieder hervorgeht, um sich als der, der er sein soll: als ein jenseits von Gut und Böse den sozialen Egoismus zur kultisch-vitalistischen Selbstbejahung überhöhender und verklärender aristokratischer Wille zur Macht zurückzumelden. So wahr die Willensschwäche der als bildungsbürgerliches Stratum perennierenden zeitgenössischen Oberschicht ein sei's durch gesellschaftlichen Druck, sei's durch Selbstunterdrückung hervorgerufenes Krankheitsphänomen, eine als soziales Leiden begreifliche Ansteckung der Seele mit Gemeinsinn und Vergiftung des Geistes mit Moral ist, so wahr lässt sich hoffen oder auch prophetisch beschwören, dass sie die Krankheit überwindet und sich in ihrer herrschaftlich-privilegierten Stellung erneut zu bejahen und zu behaupten lernt.

Dabei ist diese neue Selbstbehauptung und Bejahung der eigenen privilegierten Existenz dann allerdings in ihrem Charakter und in ihren Ausdrucksformen wesentlich geprägt durch die Verinnerlichung und Individualisierung, die geistige Differenzierung und größere psychische Komplexität, die Erbteil jener als moralische Krise und Zusammenbruch der Ich-Organisation durchlittenen und überstandenen Krankheit des Willens ist. Wie der zum neuen höheren Menschen genesene Bildungsbürger über mehr Innenleben, raffiniertere Willensregungen und sublimere Behauptungstechniken verfügt als der Aristokrat alter Schule, so weisen auch seine Entfaltungsbedürfnisse und Selbstdarstellungsansprüche größere Differenzierung und mehr Raffinement auf. Nicht mehr einfache Körpertüchtigkeit, offene Gewaltbereitschaft und geradlinige physische Durchsetzungskraft zeichnen den Aristokraten neuer Prägung aus, sondern hochentwickelte geistige Beweglichkeit, die Fähigkeit, objektiven Druck und heimlichen Terror auszuüben, und die Beherrschung komplizierter psychischer Manipulationsmechanismen. Und dementsprechend umfangreich und detailliert ist auch die Palette der vom Aristokraten neuer Prägung in Anspruch genommenen Macht- und Darstellungsmittel, das Spektrum der Dinge und Verhältnisse, deren er sich bedient, um seinem untrennbar zwieschlächtigen Bedürfnis nach Selbstentfaltung und Unterwerfung anderer Genüge zu tun. Wo der Herrenmensch alter Schule nur sich selbst und seine Waffen hat, um über andere zu triumphieren und damit seiner Selbstbejahung und Selbstentfaltung zu frönen, da wird dem Herrenmenschen neuer Fasson die ganze Welt ineins zur Bühne und zur Waffe, um gleichermaßen auf und mit ihr seine als sublimes psychologisches Kräftemessen und virtuose intellektuelle Spiegelfechtereien zelebrierten Machtspiele auszutragen.

Kurz, der Aristokrat neuen Zuschnitts genügt in seiner vielschichtigen Persönlichkeit, vielseitigen Bedürftigkeit und vielfältigen Reizbarkeit perfekt der Konsumentenrolle, die von der eskalierenden Industriegüterproduktion den bildungsbürgerlichen Schichten zugewiesen wird und dank deren die letzteren zu bevorzugten Nutznießern des im unwillkürlichen Reflex der kapitalen Verwertung von Arbeitskraft angehäuften materialen Reichtums avancieren. Aus dem einstigen Helden der Kriegsschlacht ist ein Held der Konsumschlacht geworden, den seine Lebenslust und Genusssucht zum großen Potlatch, zur Rolle des großen Verschwenders, prädestiniert. Der neue Aristokrat, zu dem der von seiner moralischen Krankheit genesene und als gesunder Egoist wiedererstandene Bildungsbürger sich gemausert hat, frönt reuelosem Genuss, treibt auf der ganzen Linie seiner reizbar-sinnlichen Existenz Konsum, aber nicht als ein ambitionsloser Hedonist, nicht als einer, der nichts weiter will, als es sich tierisch wohlsein, säuisch gutgehen zu lassen, sondern als der Herrenmensch, der er ist, der Machtmensch, dem die ganze Sphäre gesellschaftlichen Reichtums, über die er privilegiert verfügt, nur als ein Mittel gilt, seine eigentliche Natur, seinen untrennbar zwiefachen Drang nach der Unterwerfung anderer und nach der Erhöhung seiner selbst auszuleben.

Mit dieser seiner Propagation einer Konsumexistenz, die keineswegs Selbstzweck ist, sondern die eine gesellschaftliche Funktion erfüllt und nur insoweit Bedeutung und Berechtigung hat, bleibt Nietzsche durchaus in der von Schiller begründeten ästhetischen Tradition: Auch für ihn geht es nicht um den Konsum als solchen, sondern um eine darauf aufbauende und als paradigmatisch deklarierte Lebensform, nicht um den Sinnengenuss, ums unmittelbar leiblich-seelische Wohl, sondern um Ästhetik, um den gesellschaftlichen Wert von Erfahrungsweisen und Verhaltensformen, für die das leiblich-seelische Wohl und seine Befriedigungsmittel bloß äußere Voraussetzungen beziehungsweise Schauplatz und Entfaltungsraum sind. Wie Schiller und die anderen hält auch Nietzsche daran fest, dass die Konsumexistenz der bildungsbürgerlichen Schichten ein Politikum, ein öffentlich interessierendes Phänomen, nicht nur ein factum brutum der Ökonomie, keine bloße Privatsache sei. Nur schreibt Nietzsche dieser konsumtiv ästhetischen Lebensform weder wie Schiller Vorbildlichkeit im Sinne eines gesellschaftlichen Bildungs- und Erziehungsinstituts zu, noch betraut er sie wie Schopenhauer mit der exoterischen Aufgabe, eine intellektuelle Distanzierung vom bürgerlichen Konkurrenzgetriebe zu ermöglichen, und mit dem esoterischen Geschäft, für die Unmöglichkeit jeder praktischen Alternative zum bürgerlichen Konkurrenzgetriebe einzustehen, noch überträgt er ihr etwa wie Feuerbach die widersprüchliche Funktion, sich denen als Emanzipationsmodell anzubieten, die primär die Opfer der Praktizierung und Aufrechterhaltung dieser Lebensform sind. Vielmehr setzt Nietzsche die paradigmatische Bedeutung der konsumtiv ästhetischen Lebensform darein, dass sie bar jeder Vorbildlichkeit oder beispielgebenden Funktion höchste Ausprägung und Entwicklung der menschlichen Art, nämlich Verwirklichung jenes Typus Mensch ist, dessen Hervorbringung und Erhaltung die ganze restliche Menschheit dient, weil in seiner Existenz und Entfaltung der natürliche Sinn ihres artlichen Daseins, ihr eigenes, darwinistisch gefasstes biologisches Telos beschlossen liegt.

Paradigmatisch ist mit anderen Worten jene Lebensform deshalb, weil es der unhinterfragbar natürliche Sinn wie der lebendigen Organismen in genere, so auch der als lebendiger Organismus gefassten menschlichen Gesellschaft in specie ist, ein vom Willen zur Macht beseeltes, nach Macht über die anderen strebendes Selbstreflexiv oder herrschaftliches Subjekt hervorzutreiben und freizusetzen und dieses Subjekt in seinem Streben nach Macht alle menschlichen Kräfte mobilisieren, alle intellektuellen Register ziehen, alle seelischen Kapazitäten ausschöpfen zu lassen. Nicht maßgebende Vorbildlichkeit, sondern beispiellose Virtuosität, nicht avantgardistisch-vorauseilende Modellbildnerei, sondern aristokratisch-elitäres l'art pour l'art, nicht das ebenso sehr zur Nachahmung empfohlene wie beispielgebende Streben nach der Entfaltung und Verwirklichung eines ästhetisch gefassten Humanum, sondern die Entfaltung dieses ästhetisch gefassten Humanum in einem ebenso sehr auf die Unterdrückung der anderen wie auf die Selbsterhöhung programmierten naturgegebenen Streben nach Selbstverwirklichung – das ist es demnach, was jene Lebensform verkörpert und wofür ihre Repräsentanten ihre herrschaftliche Stellung und den Genuss ihre konsumtiven Privilegien legitimerweise – will heißen, nach Maßgabe der zur Legitimation klassengesellschaftlicher Verhältnisse ausgeschlachteten darwinistischen Naturgesetzlichkeit in der Entwicklung biologischer Arten – beanspruchen können.

Mit klassenkämpferischem Zynismus also begegnet Nietzsche der seiner gesellschaftlichen Gruppe, der bürgerlichen Intelligenz oder bildungs- bürgerlichen Schicht, drohenden Gefahr, in den eskalierenden Konflikt zwischen Kapital und Arbeit hineingezogen und von der Partei der Arbeit auf der Seite des Kapitals geortet und als Schmarotzer von Gnaden des letzteren arretiert zu werden. Klassenkämpferisch zynisch reagiert Nietzsche – allerdings nicht offen und unverblümt zynisch. Das heißt, seine Reaktion besteht nicht darin, sich zu der Nutznießerrolle seiner Schicht im Blick auf die materialen Segnungen der industriekapitalistischen Entwicklung umstandslos zu bekennen und diese Rolle, weil sie sich aus sozialen Funktionen und realen Leistungen seiner Schicht partout nicht begründen lässt, als ein der blinden Laune des historischen Fatums entspringendes und seiner Schicht ebenso bekömmliches wie anderen Teilen der Gesellschaft beschwerliches factum brutum kurzerhand unbegründet zu lassen. Soviel Unverblümtheit überforderte das intellektuelle Selbstwertgefühl, das mit dem Nachweis irgendeiner Form von gesellschaftlicher Funktion beziehungsweise historischer Bestimmung steht und fällt. Vielmehr versteckt sich der Zynismus hinter der als Umwertung aller Werte propagierten ideologischen Verkehrung der wirklichen gesellschaftlichen Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse und phantasmagorischen Einführung einer neuen hierarchischen Ordnung, die in dem Maß, wie sie mit Hilfe einer sozialdarwinistischen Lehre von der Geschichte als natürlicher Zuchtwahlveranstaltung die Reichtum konsumierende bildungsbürgerliche Schicht der Gegenwart, den materialiter nutznießenden gesellschaftlichen Anhang der industriekapitalistischen Verwertung, zum Erben einer Tradition vorbürgerlich elitären Herrenmenschentums erklärt und in den Rang einer als höchster Zweck der Gesellschaft firmierenden neuen Aristokratie erhebt, umgekehrt den eigentlichen – wenn auch nicht eigentlich menschlichen – Herrn der bürgerlichen Gegenwart, das Industrie- und Finanzkapital, in einen dienstbaren Geist, ein Aladin-Faktotum jener modernen Konsumaristokratie uminterpretiert.

Mit objektiv ebenso lächerlicher wie subjektiv ernsthafter Hochfahrenheit zieht Nietzsche gegen die Geldsäcke seiner Zeit vom Leder, gegen ihren buchhalterischen Krämergeist, ihre Borniertheit und Einfalt, ihre Kleinkariertheit und fehlende aristokratische Größe, und will die also gescholtenen Kapitalverwalter höchstens und nur in der Stellung und Funktion von Leuten gelten lassen, die kraft ihres ebenso unermüdlichen wie geistlosen Schaffensdrangs und Erwerbstriebs für die materialen Mittel und die sächliche Ausstattung, kurz, für die realen Milieubedingungen sorgen, deren seinesgleichen, die wahre Aristokratie bedarf, um ihre paradigmatisch elitäre Lebensform zu entfalten, ihren beispiellos virtuosen Lebensstil zu pflegen. In einen Topf geworfen finden sich auf diese Weise die Agenten des Kapitals, die industriekapitalistischen Unternehmer und Bankiers, mit den Produzenten des Kapitals, der breiten Masse der Lohnabhängigen, dem Proletariat; beide verschwimmen für Nietzsche zu jener von ihm als Plebs, als Gemeine wahrgenommenen und als sklavische Seelen, als Menschen minderen Werts, als Kreaturen ohne Größe und Emotion beschimpften Masse, die deckungsgleich ist mit dem Gros der bürgerlichen Gesellschaft, der Gesamtheit der Handel- und Gewerbetreibenden, kurz, der in der einen oder anderen Funktion am Kapitalprozess beteiligten arbeitenden Bevölkerung, die als die Totalität, die sie ist, ihre einzige und ausschließliche Existenzberechtigung daraus schöpft, dass sie den wertvollen Menschen der Konsumaristokratie, den herrischen Naturen der virtuosen Ästhetenschicht die Mittel für ihr ebenso aufwendiges wie spektakuläres und ebenso verschwenderisches wie demonstratives Leben verschafft.

Derart hanebüchen ist angesichts der tatsächlichen Machtverhältnisse diese Umstülpung der gesellschaftlichen Abhängigkeiten und Mittel-Zweck-Relationen, derart halluzinatorisch die Erhebung der die materialen gesellschaftlichen Reichtümer konsumierenden bildungsbürgerlichen Schicht zur kraft virtuosen Ästhetentums herrschenden Aristokratie und eigentlichen gesellschaftlichen Elite und die korrespondierende Degradierung der realen gesellschaftlichen Macht, des sich verwertenden Industriekapitals, zu einem in toto seines Produktionsapparats hirnlosen Faktotum und nützlichen Idioten, dass sich die Frage aufdrängt, wie Nietzsche mit dieser phantasmagorischen Umdichtung der bildungsbürgerlichen Schicht aus einem gefolgschaftlichen Schmarotzer, der die im Zuge des kapitalen Verwertungsprozesses abfallenden materialen Segnungen genießen darf, in einen herrschaftlichen Nutznießer, in dessen Diensten und zu dessen Gunsten sich der ganze kapitale Verwertungsprozess überhaupt nur zu entfalten hat, selbst bei den eigenen bildungsbürgerlichen Artgenossen Glauben finden, geschweige denn auf begeisterte Zustimmung stoßen kann. Eben dies ist aber der Fall: Praktisch von Anfang seines Wirkens an und bis zum heutigen Tag entdecken bürgerliche Intellektuelle in Nietzsches unter dem Motto einer Umwertung aller Werte vorgetragenen Kritik an der verkehrten gesellschaftlichen Zielorientierung und vorgeschlagenen politisch-moralischen ebenso sehr wie ständisch-hierarchischen Neuordnung der Gesellschaft das Nonplusultra geschichtsphilosophischer Tiefe und gesellschaftskritischen Durchblicks.

Der gute – oder vielmehr böse – Grund für diese bleibende Attraktivität der Phantasterei Nietzsches liegt darin, dass sie nicht nur der persönlichen Eitelkeit der Betroffenen schmeichelt, indem sie ihnen, wenn schon keine gesellschaftliche Funktion, keine reale Rolle, so doch eine herrschaftliche Stellung, einen sozialen Rang zuspricht (das allein, so sehr es den angesprochenen Intellektuellen gefallen mag, würde nicht ausreichen, ihre durch das Phantastische der Phantasterei arg strapazierte Realitätskontrolle außer Kraft zu setzen), sondern dass sie auch und vor allem ein intellektuelles Desiderat erfüllt, indem sie die im Begriff der Umwertung aller Werte vorgenommene generelle Reaffirmation der industriekapitalistisch-konkurrenzgesellschaftlichen Verhältnisse mit einer gleichzeitig vorgetragenen speziellen Negation dieser Verhältnisse zu verknüpfen erlaubt und auf diese Weise dem sich durchhaltenden Grundcharakter des bürgerlichen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts, seiner der gesellschaftlichen Funktionslosigkeit, in der er sich befindet, korrespondierenden kritischen Distanz zur bestehenden Macht und herrschenden Ordnung, Rechnung trägt und Kontinuität verleiht. Diese als Grundzug der Intellektuellenphysigonomie des 19. Jahrhunderts figurierende kritische Distanz zur gesellschaftlichen Macht und zur durch sie bestimmten Sozialstruktur ist ja, angefangen von Schillers Notstaatsbegriff über Schopenhauers Panoptikum der leibhaftig konkurrierenden Willen bis hin zu Feuerbachs Schelte über den unsinnlich-abstrakten, "jenseitsorientierten" Geist seiner Zeit, allen einschlägigen bürgerlichen Theoriebildnern gemeinsam; sie ist zugleich unverbrüchliche Basis der um die Kategorie des Ästhetischen zentrierten Vorstellungen von einer reformierten Seinsweise und neuen Lebensform, die, mit welchen erklärten praktischen Zielen und unerklärten ideologischen Aufgaben auch immer, die Betreffenden jedenfalls doch als Gegenmodell zur gegebenen Wirklichkeit, als Alternative zur bestehenden Ordnung entwerfen.

Wie könnte da Nietzsche diese kritische Intellektuellenposition so einfach räumen und unter dem Eindruck des von unten gegen die bildungsbürgerliche Schicht als ganze erhobenen Vorwurfs einer ebenso schmarotzer- wie komplizenhaften Nähe zur herrschenden Macht und Abhängigkeit von ihr sich zynisch zu diesem Schmarotzer- und Komplizentum bekennen? Wie könnte er unter Beibehaltung und Kontinuierung des Anspruchs auf eine bei ihm als ästhetische Virtuosität figurierende alternative Lebensform deren argumentative Basis, die kritische Distanz zur bürgerlichen Gesellschaft und zu ihren verhaltensprägenden Wertvorstellungen, einfach fallen lassen? Wie könnte er dies ausgerechnet in einem Augenblick tun, in dem kleine Teile der bildungsbürgerlichen Schicht, einzelne Gruppen von Intellektuellen, unter dem Eindruck des durch die industriekapitalistische Entwicklung heraufbeschworenen Elends die bei aller kritischen Intellektuellendistanz bis dahin gewahrte und von Schiller bis Feuerbach zielstrebig durchgehaltene Blindheit gegenüber dem dynamischen Kern der kritisierten gesellschaftlichen Verhältnisse und Bereitschaft zum alibiträchtigen Aufbau von Popanzen kurzerhand durchbrechen und eine auf jenen dynamischen Kern, auf die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft, gerichtete Kapitalkritik aus der Taufe heben? In just dem Augenblick die kritische Distanz zur als bürgerliche Konkurrenzgesellschaft äußerlich wahrgenommenen kapitalistischen Verwertungsgesellschaft aufzugeben, in dem Marx und seinesgleichen diese kritische Distanz aus einem zwischen Eskapismus, Selbstvereitelung und heimlicher Affirmation schwankenden praktischen Verhalten in eine dem Gegenstand der Kritik auf den Grund gehende, theoretisch entschiedene Negation überführen, hieße das nicht den Vorwurf des komplizenhaften Schmarotzertums in einer Weise bestätigen, wie nicht einmal der abgebrühteste Zynismus es verkraftbar macht.

Genau in diesem Punkte übt Nietzsches halluzinatorische Umwertung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse, die das nutznießende Bildungsbürgertum zur aristokratisch herrschenden Klasse der Gesellschaft erhebt, während sie das Arbeit verwertende Industriekapital zum kleinkrämerisch dienenden Faktotum degradiert, auf die bildungsbürgerliche Schicht einen schier unwiderstehlichen Reiz aus. Weit entfernt davon, als bloße, schmarotzerhaft affirmative Gegenversion zur gerade sich artikulierenden sozialistischen Kritik an der industriekapitalistisch verfassten bürgerlichen Gesellschaft firmieren zu müssen, kann sich Nietzsches ästhetisch-virtuoses Herrenmenschenkonzept vielmehr als Steigerungs- und Aufhebungsform jener sozialistischen Kritik, als förmliche Hyperkritik aufspielen. Auch sub specie der auf den neuen, höheren Menschen gerichteten Perspektive Nietzsches gerät die kapitalistische Verfasstheit der bürgerlichen Gesellschaft ins Kreuzfeuer der Kritik, nur eben nicht in parte des mit dem Kapitalprozess einhergehenden Zerfalls der bürgerlichen Gesellschaft in Klassen und Ausbeutung der einen durch die andere Klasse, sondern in toto der gesamtgesellschaftlichen und das heißt, alle am Kapitalprozess beteiligten Klassen umfassenden Fehlorientierung, die der zum Selbstzweck erhobene Kapitalprozess als solcher darstellt. Auch Nietzsches geschichtsphilosophischer Impetus richtet sich gegen die herrschende Macht der bürgerlichen Gesellschaft, zielt auf eine Entmachtung des Kapitals, aber nicht bloß, um in der Absicht einer gründlichen Novellierung des Systems diese Macht systemimmanent anders zu verteilen, sondern um mehr noch mit dem Anspruch einer grundlegenden Neuorientierung des Systems eine systemtranszendent andere Macht, die neue Intellektuellenaristokratie, ins Spiel zu bringen und der bürgerlichen Gesellschaft als den irrational letzten Sinn und das bedingungslos absolute Telos ihres qua Kapitalprozess systematischen Bestehens vorzusetzen.

Mit seiner streitbaren Verwerfung der fundamental falschen Werte und von Sklavenmoral gezeichneten kleingeistigen Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft und mit seiner Forderung nach einer als Umwertung aller Werte verstandenen, gleichermaßen ständehierarchischen Umwälzung und zielstrategischen Revision dieser Gesellschaft kann sich also der in Nietzsches Fußstapfen wandelnde bürgerliche Intellektuelle gesellschaftskritischer und kulturrevolutionärer gerieren als der entschlossenste Kapitalkritiker, kann er radikaler als jener die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft zu sezieren und in Frage zu stellen meinen und kann er insofern die Annehmlichkeit einer ins Aristokratisch-Heroische gewendeten Versöhnung mit seiner nutznießenden Konsumentenexistenz mit dem sentimentalisch-pathetischen Gefühl verknüpfen, der Rolle eines in Distanz zur bürgerlichen Ordnung perennierenden Gesellschaftskritikers, mit der er sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts, seit seiner Abdankung als politischer Repräsentant seiner Klasse, als mit dem Verstand seines wohlhäbigen Daseins identifiziert, treu zu bleiben. Was Wunder, dass diese in Nietzsches Kritik der bürgerlichen Gesellschaft erreichte glückliche Verbindung von die eigene soziale Lage affirmierender Versöhnung und das intellektuelle Selbstwertgefühl garantierendem Protest die bürgerlichen Intellektuellen immer wieder bezaubert und in ihren Reihen bis zum heutigen Tage als eine angebliche Form radikalisierter Gesellschaftskritik Adepten findet.

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