VIII.

Dass Schopenhauer gegen alles Schillersche Humanisierungspathos den leibgewordenen Willen, das bürgerliche Klassensubjekt, als die letzte, unüberbietbare Wahrheit in Raum und Zeit, als das ebenso unverbesserliche wie unwandelbare factum brutum der sublunaren Welt beschwört und jeden praktischen Versuch, an diesem Subjekt zu rütteln oder es über sich selbst hinauszutreiben, als letztlich selber im Konkurrenz- und Selbstbehauptungsgestus dieses Subjekts befangen bleibende Bestrebung oder Willensäußerung denunziert, entspringt dabei nicht etwa der Einsicht in die gesellschaftspolitische Unwirksamkeit und ideologische Augenwischerei des Schillerschen ästhetischen Programms, das, wie gesagt, Reaktionsbildung auf den tatsächlichen Ausschluss der bürgerlichen Intellektuellen von aller staatlichen Repräsentation und politischen Verantwortung ist und mit dem die Intellektuellen in Wirklichkeit nichts weiter gewinnen können als die Möglichkeit, gute Miene zum bösen Spiel des zwischen ihrer Klasse und dem traditionellen Staat auf ihre Kosten abgeschlossenen Gesellschaftervertrags zu machen und mit dem guten Gewissen dessen, der gleichermaßen die höhere Einsicht zu haben und die bessere Politik zu treiben beansprucht, die bescheidenen Pensionen und Renten, die ihnen zur Entschädigung für ihre Funktionslosigkeit die eigene Klasse gewährt, weiter in Empfang zu nehmen. Vielmehr hat diese Schopenhauersche Abdankung jeglicher mit der Ästhetik verknüpften praktischen oder allgemeinpolitischen Intention ihren Grund in der als sozialreformerische Unfunktionierung sich darbietenden Repolitisierung, die dem Schillerschen Konzept durch eine in der Zeit zwischen dem Beginn der Restauration und den Unruhen von 1848, im sogenannten Vormärz, unter den bürgerlichen Intellektuellen grassierende linksliberale Bewegung widerfährt, durch jene Vormärzlerbewegung, die in Ludwig Feuerbach einen ihrer wesentlichen Theoretiker und Sprecher findet.

Was Feuerbach in einer für den ganzen Vormärz paradigmatischen Weise vollzieht, ist die Verwandlung der Schillerschen Ästhetik aus einem Erziehungs- und Läuterungsprozess in ein Aufklärungs- und Entscheidungsverfahren oder, anders gesagt, ihre Umwertung aus einem Besserungsinstitut in ein Instrument der Parteinahme. Die Schillersche Hoffnung, das als Menschengeschlecht apostrophierte bürgerliche Klassensubjekt mittels der "höheren Politik" eines ästhetischen Erziehungsprogramms zu veredeln und über seine konkurrenzgesellschaftliche Empirie hinauszutreiben, müssen die bürgerlichen Intellektuellen um Feuerbach angesichts der Entfaltung eben dieser konkurrenzgesellschaftlichen Empirie zur allumfassenden Norm und angesichts der ökonomischen Verarmung und sozialen Verelendung der unteren Klassen der Gesellschaft, die mit solcher Entfaltung Hand in Hand geht und die allen sozialen Zusammenhang definitiv zu zerreißen und alle politische Gemeinsamkeit irreparabel zu zerstören droht, rasch begraben. Sie reagieren auf ihre Desillusionierung damit, dass sie die Schillersche Ästhetik gleichermaßen umbenennen und umwidmen und als die nicht der Abstraktion eines vermeintlich höheren Strebens erliegende sinnliche Gewissheit, als den Materialismus derer, die auf dem Boden der Notdurft und der Tatsachen bleiben, statt sich in erdichteten Reichtümern und erträumten Vollkommenheiten zu verlieren, zum Erbteil jener nicht aktiv am bürgerlichen Konkurrenzkampf beteiligten, sondern im Gegenteil als seine Leidtragenden und Opfer erscheinenden unteren Klassen erklären.

Diese Feuerbachsche Überführung der Ästhetik in Materialismus und Ersetzung der Schillerschen schönen Bürgerseele, die sich am Sinnenschein erbaut, durch das Körperwesen Mensch, das sich an der Sinnenwelt befriedigt – sie impliziert tatsächlich eine Art Subjektwechsel, kraft dessen die gesellschaftliche Funktion der Intelligenz sich aus ihrer Abhängigkeit vom bürgerlichen Klassensubjekt zu befreien und die Partei derer zu ergreifen beansprucht, die sie durch die konkurrenzsüchtigen Umtriebe des bürgerlichen Klassensubjekts in ihrer sinnlich-natürlichen Entfaltung beeinträchtigt und in ihrer individuellen Entwicklung geschädigt sieht. Statt sich noch länger darauf zu versteifen, ihrer Idee von abstraktions- und machtkampffeindlicher sinnlicher Unmittelbarkeit und Selbstgenügsamkeit die Geltung eines gesellschaftlichen Erziehungs- und Reformprogramms zu verschaffen und mit ihr das bürgerliche Klassensubjekt, will heißen, einen Sozialtypus zu traktieren, der erwiesenermaßen in nichts anderem besteht als in zweckrationaler Abstraktion von der sinnlichen Erscheinungswelt und der im entfremdeten Konkurrenzkampf mit seinesgleichen regelrecht aufgeht – statt sich noch länger auf diesen Sozialtypus zu kaprizieren, erklären die bürgerlichen Intellektuellen des Vormärz ihre Vorstellungen von ästhetischer Unmittelbarkeit oder materialistischer Sichselbstgleichheit jetzt vielmehr zur Sache jener nichtbürgerlichen Schichten, die sich durch die bürgerliche Abstraktion zum Spielball fremder Zwecksetzungen und durch den bürgerlichen Konkurrenzkampf zu Leidtragenden schicksalhaft äußerer Mechanismen degradiert finden: ihnen dienen sie ihre unter dem Titel eines Materialismus reorientierte Ästhetik als repräsentatives Verhaltensmuster an und erklären den so bestimmten Materialismus zugleich zum normativen Weltverhältnis einer vom Konkurrenzdenken befreiten und zur Konkretion sinnlicher Unmittelbarkeit restituierten zukünftigen Gesellschaft.

Und diese im Begriff des Materialismus beschriebene Repolitisierungsbewegung, kraft deren die linken bürgerlichen Intellektuellen die Ästhetik in der ihr von Schiller zugedachten Rolle eines Programms zur Sublimierung und Humanisierung der bürgerlichen Gesellschaft als ganzer fallen lassen und sie statt dessen zum Selbstdarstellungs- und Emanzipationsinstrument der durch die Abstraktheit und das Konkurrenzdenken der bürgerlichen Klasse um ihre leiblich-seelische Entfaltung und um ein human erfülltes Sein gebrachten unbürgerlich-proletarischen Schichten erheben – diese Repolitisierungsbewegung ist es, was dem rechten bürgerlichen Intellektuellen Schopenhauer Kopfschmerzen macht und was ihn veranlasst, der Ästhetik als solcher jede allgemeine Verbindlichkeit und politische Relevanz abzusprechen. Indem er einerseits den unter der Maske der Erscheinungswelt tobenden abstrakten Machtkampf der bürgerlichen Willenssubjekte und ihr egoistisches Konkurrenzdenken als ein Anthropologikum behauptet, von dem kein Mensch, geschweige denn eine soziale Schicht, ausgenommen sein soll, und andererseits die ästhetische Alternative, das vom Machtkampf freie, sinnlich-konkrete, beschaulich-affirmative Weltverhältnis des bürgerlichen Intellektuellen, für eine aller Vorbildlichkeit und moralisch-sozialen Implikation bare Attitüde nimmt, die nur und ausschließlich dem Intellektuellen selbst, der gesellschaftlichen Intelligenzfunktion als solcher, zu einer nicht einmal dauerhaften, sondern bloß zeitweiligen Emanzipation vom abstrakten Umgetriebensein des bürgerlichen Klassensubjekts, zu einem befristeten Urlaub vom sinnlos allgemeinen Konkurrenzkampf verhilft – indem er dies beides tut, bemüht er sich, jene als politische Perspektive bedrohliche Beziehung zu unterlaufen, die im Begriff des Materialismus die linke Intelligenz à la Feuerbach zwischen ihrer qua Ästhetik kultivierten reservatio mentalis oder besser sensualis gegenüber dem abstrakten Tun und konkurrenzhaften Treiben des bürgerlichen Klassensubjekts einerseits und andererseits der gesellschaftlichen Existenz der an diesem Tun und Treiben nicht aktiv beteiligten, sondern ihm vielmehr als passives Objekt und Opfer ausgelieferten unbürgerlich-proletarischen Schichten herzustellen sucht. Dem Versuch der "linken" Intellektuellen, die Ästhetik aus der bürgerlichen Reformperspektive à la Schiller herauszulösen und in ein antibürgerliches Programm zur Emanzipation der Unterdrückten und Erneuerung der Gesellschaft im Namen der proletarischen Unterschicht umzufunktionieren, begegnet also der "rechte" Intellektuelle Schopenhauer mit der Doppelstrategie teils einer systematischen Verleugnung dieser außer- oder unterhalb des bürgerlichen Konkurrenzkampfs existierenden Schicht von Unterdrückten oder Sphäre unbürgerlich-proletarischer Opfer, teils einer prinzipiellen Bestreitung jedes mit der Ästhetik verknüpften allgemeinmoralischen Vorbildcharakters oder gesellschaftspolitischen Orientierungsanspruchs.

Solche Doppelstrategie ist immerhin einleuchtend genug, um für das Bildungsbürgertum um die Mitte des letzten Jahrhunderts Schopenhauer zum philosophus gratus und zum Garanten ihres aus Verleugnung der gesellschaftlichen Realität und pessimistischem Ästhetizismus gemischten Lebensgefühls werden zu lassen. In dem Maß, wie die hekatombisch-proletarischen Opfer der bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft sichtbarer und die sozialen Anklagen und Appelle der "linken" Intelligenz zugleich larmoyanter und dringlicher werden, wirft sich das Bildungsbürgertum dem der falschen Totalisierung der condition bourgeoise abgewonnenen Schopenhauerschen Pessimismus in die Arme, der ihr erlaubt, vor dem entscheidenden Faktum und Stigma der bürgerlichen Gesellschaft, dem Klassenkonflikt, die Augen zu verschließen und den spezifischen Anstoß, den sie an der Lage der arbeitenden Klassen nehmen müsste, in ein universales Leiden an der konkurrenzsüchtigen Welt zu verkehren, und der ihr gleichzeitig gestattet, ihren intellektuellen Politikersatz, die Ästhetik, sich unter dem Vorwand einer durch sie gewährten distanzierend-desillusionierenden Aufklärung über die Scheinhaftigkeit der vom Konkurrenzkampf zerrissenen Erscheinungswelt als ein jeder moralischen Intention oder politischen Programmatik bares privates Befreiungsmittel oder zeitweiliges Rückzugsgebiet zu erhalten.

Wäre es der in Schopenhauers Fußstapfen wandelnden "rechten" Intelligenz nicht wesentlich darum zu tun, sich die Wahrnehmung des die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts beherrschenden Klassenkonflikts überhaupt vom Leibe zu halten und in der wie immer pessimismusgetönten, sicheren Grundstellung eines subsistenziell ebenso sehr aufs bürgerliche Klassensubjekt bauenden und von ihm profitierenden, wie sich funktionell über es erhebenden und von ihm distanzierenden intellektuellen Privatiers und gebildeten Rentiers zu verharren, sie müsste an der im Begriff des Materialismus vollzogenen Repolitisierung, kraft deren die "linke" Intelligenz bestrebt ist, die Ästhetik den nichtbürgerlich-proletarischen Schichten als gesellschaftsprogrammatisches Reflexionsinstrument und lebenspraktisches Selbstverständigungsmittel zuzuwenden, vielleicht gar nicht so großen Anstoß nehmen. Mag nämlich Feuerbach seine Ästhetik unter dem Eindruck der größeren Lebensnot und der krasser leiblichen Bedürfnisse derer, denen er sie schmackhaft zu machen sucht, auch Materialismus nennen – was er, der intellektuelle Nothelfer aus adligem Haus, den proletarischen Bedürftigen anpreist, ist im Prinzip nichts anderes als die zwischen Hedonismus und Empirismus, zwischen Konsumtion und Kontemplation, zwischen Sinnlichkeit und Besinnlichkeit changierende rezeptiv-passive Haltung der aus den bürgerlichen Intellektuellen bestehenden gesellschaftlichen Schicht, der er selber geradeso wie ein Schiller oder Schopenhauer angehört, jener bildungsbürgerlichen Schicht also, die ihre erwähnte politische Entmachtung und Dysfunktionalisierung mit relativer ökonomischer Wohlhäbigkeit und Sicherheit versüßt bekommt und die sich durch die finanziellen Zuwendungen, die sie in dieser oder jener öffentlichen oder privaten Form – in Form von Gehältern, Honoraren, Tantiemen, Unterstützungen, Pfründen, Pensionen, Leibrenten usw. – empfängt, in die Lage versetzt findet, ein nicht zwar unbedingt als Leben im Überfluss, jedenfalls aber als gedeihlich-auskömmliche Existenz beschreibbares und der ebenso unmittelbaren wie umfänglichen, ebenso selbstverständlichen wie vielseitigen Befriedigung leiblich-seelischer Bedürfnisse gewidmetes Rentiers- und Privatiersdasein zu führen.

Hauptcharakteristikum dieses bildungsbürgerlichen Daseins ist, wie gesagt, seine rezeptiv-kontemplative Grundeinstellung, seine von jeder produktiven Tätigkeit entfernte passiv-konsumtive Perspektive. Weil sie gesellschaftlich wesentlich dysfunktionalisiert, bar allen politischen Auftrags und sozialen Verwirklichungsanspruchs ist und weil sie aber als ein der bürgerlichen Klasse zugehöriger Teil zugleich mit genug Wertäquivalent, Geld, versehen ist, um auch ohne produktiven Beitrag, ohne gesellschaftsgestaltende oder gesellschaftserhaltende Leistung an den Früchten der gesellschaftlichen Arbeit, am gesellschaftlichen Reichtum, partizipieren zu können, erscheint dieser bildungsbürgerlichen Schicht, den bürgerlichen Intellektuellen im weitesten Sinn, die Welt wesentlich aus der Konsumentenperspektive, das heißt, sie präsentiert sich ihnen als ein unmittelbar gegebenes, umstandslos zur Verfügung gestelltes Ensemble von Dingen, Verhältnissen und Bezügen, an denen sie, die Adressaten solcher unmittelbaren Erscheinung, aufgefordert sind, sich auf die vielfältigste Weise genießend zu betätigen und nämlich körperliche, seelische oder geistige Befriedigung der unterschiedlichsten Art zu finden.

Gleichzeitig aber zeigt sich diese konsumtive Grundeinstellung oder passive Genusshaltung der bildungsbürgerlichen Schicht von einem eigentümlichen Aktivismus durchdrungen und mit einem merkwürdigen Produktionspathos aufgeladen. Weit entfernt davon, sich mit ihrer Konsumentenperspektive als mit einem der Trennung von aller politisch verantwortlichen Tätigkeit oder gesellschaftlich nützlichen Arbeit geschuldeten einfachen Reduktionsphänomen abzufinden, nehmen die bürgerlichen Intellektuellen diese Perspektive vielmehr als etwas wahr, das für die verloren gegangenen Möglichkeiten Kompensation zu bieten oder im Doppelsinn des Wortes Satisfaktion zu gewähren vermag. Jene produktiv-gestaltende Funktion und objektiv-richtungweisende Aktivität, die sie im politisch-gesellschaftlichen Raum, im Bereich der bürgerlichen Öffentlichkeit und des staatlichen Handelns, nicht mehr ausüben, geschweige denn entfalten darf, lässt die bildungsbürgerliche Schicht nicht einfach fahren, sondern nimmt sie quasi mit sich in die Sphäre persönlichen Genusses und privaten Konsums zurück, um sie in dieser, eigentlich durch die genau entgegengesetzten Bestimmungen, nämlich durch rezeptives Laissez-faire und durch selbstzufriedene Passivität, gekennzeichneten Sphäre eine neue Realität und spezifische Wirkkraft, will heißen, den oben als das Schibboleth der Intellektuellen des 19. Jahrhunderts vorgestellten Charakter eines wesentlich ästhetischen Umgangs mit der Welt annehmen zu lassen. Indem der aus dem politischen Raum verbannte bürgerliche Intellektuelle das Verlorene, die gesellschaftliche Tat, mit dem Gewonnenen oder ihm Gebliebenen, dem privaten Genuss, im Rahmen seiner persönlichen Existenz vermählt oder, besser gesagt, den gegebenen Genuss mit der verhinderten Tat auflädt und durch sie überdeterminiert, macht er aus dem, was sonst bloßer Hedonismus, bloße Befriedigung der Sinne, bloßer Konsum wäre, eine besondere Form der individuellen Entfaltung, eine spezifische Disziplin leiblich-seelischer Verwirklichung, eine eigene condition humaine, sublimiert er, kurz, den Sinnengenuss zur Sinneserfahrung, das praxislose Wohlleben zur besseren Lebenspraxis und lässt damit aus der Not der ihm abhanden gekommenen realpolitischen Perspektive und Betätigung die Tugend einer ihm zugewachsenen idealgesellschaftlichen Sicht- und Verhaltensweise werden.

Nichts anderem als dieser – den passiven Genuss und rezeptiven Konsum zur aktiven, kulturellen Lebensform und innovativen, quasi-politischen Praxis erklärenden und nach Maßgabe seiner Überführung in einen reflexiven Demonstrations- oder repräsentativen Darstellungsgestus mehr noch erhebenden – kompensatorischen Strategie entspringt die für das soziale Lebensgefühl und das moralische Existenzrecht der bürgerlichen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts maßgebende Dimension des Ästhetischen, verdankt sich jener vom Intellektuellen ebenso sehr als öffentliches Ereignis zelebrierte wie als sein persönliches Anliegen reklamierte intuitiv-unmittelbare Zugang zur Welt und kontemplativ-konkrete Umgang mit ihr, den die Kategorie des Ästhetischen meint. Welche gesellschaftspolitische Funktion die bürgerlichen Intellektuellen diesem ihnen allen gemeinsamen, den konsumtiven Genuss zum eigenen kontemplativen Erfahrungsmodus aktivierenden und totalisierenden, kurz, ästhetischen Zugang zur Welt hiernach beimessen, ist nach historischem Ort und das heißt nach politisch-ökonomischer Interessen- und sozialer Konfliktlage verschieden. Schiller, wie gesagt, will den ästhetischen Umgang mit der Welt als ein zur Erziehung des Menschengeschlechts taugliches modellhaftes Verhalten verstanden wissen, als ein Paradigma, das geeignet ist, die bürgerliche Konkurrenzgesellschaft und ihre Notstaatsordnung der blinden Mechanik und dem abstrakten Atomismus, von denen sie beherrscht sind, zu entreißen und in ein von konkreter Zweckmäßigkeit und organischem Zusammenleben bestimmtes Ganzes zu überführen. Demgegenüber sieht Schopenhauer in der ästhetischen Weltsicht nurmehr eine ganz und gar unvorbildliche, völlig private Rückzugsposition, eine dem bürgerlichen Intellektuellen sich eröffnende Möglichkeit, Abstand von der blinden Mechanik und vom abstrakten Atomismus seiner Klasse zu gewinnen und zeitweilig Aufenthalt in einer nicht etwa als alternative Lebenspraxis, sondern als Freiheit vom Zwang allen praktischen Lebens definierten Sphäre aufgeklärter Indifferenz zu nehmen – eine Emanzipation, die aber deshalb, weil sie keiner positiv anderen Praxis, sondern nur negativer Praxisabstinenz entspringt, weil der bürgerliche Intellektuelle sie also nicht durch eine reale Veränderung seines Klassencharakters, sondern bloß durch eine pauschale Verweigerung aller gesellschaftlichen Funktion ins Werk setzt, auch nie von Dauer sein kann und den chronischen Rückfall in beziehungsweise zynischen Rückgriff auf die verworfene Klassenpraxis zwangsläufig impliziert – weswegen Schopenhauer als letzten Ausweg eine gegen die Existenz des Intellektuellen als solche sich richtende selbstverneinende Askese propagiert, welche "Lösung" wiederum nicht etwa dazu da ist, in die Tat umgesetzt zu werden, sondern höchstens und nur die doppelte ideologische Funktion erfüllt, einerseits durch den Vorweis einer selbstzerstörerisch absurden Gegenpraxis den monopolistischen Praxisanspruch des bürgerlichen Klassencorpus zu reaffirmieren und andererseits ein symptomatisches Ventil für den Selbsthass zu schaffen, von dem der Intellektuelle Schopenhauerscher Prägung immer wieder erfasst wird, wenn er beim Rückfall in die Klassenpraxis erkennen muss, dass die von ihm selber als große Befreiung von der Klassenpraxis gefeierte ästhetische Weltsicht in Wahrheit nur ein auf dem Mist jener Praxis gewachsenes und von ihr ausgehaltenes Begleit- und Komplementärphänomen ist.

Mit seiner Konzeption der ästhetischen Weltsicht als eines privaten, jeder politsch-moralischen Vorbildlichkeit baren Rückzugsgebiets für die bildungsbürgerliche Schicht selbst reagiert Schopenhauer auf den als Repolitisierung der Ästhetik charakterisierten Versuch der linksliberalen bürgerlichen Intelligenz, diesen ästhetischen Zugang zur Welt als ein programmatisches Neuorientierungsmittel in den Dienst der unteren Klassen zu stellen und zum Vehikel einer gleichermaßen kulturell-religiösen und politisch-sozialen Aufklärungs- und Befreiungsbewegung zu machen. Unter dem Eindruck der grenzenlosen Pauperisierung, der das von egoistischem Konkurrenzdenken und abstrakter Zweckrationalität beherrschte ökonomische Treiben der bürgerlichen Klasse die unteren Schichten aussetzt, und der heillosen Dichotomisierung, der es damit die Gesellschaft als ganze unterwirft, macht diese linksliberale Intelligenz ihre eigene, vom Bewusstsein geselligen Genusses und von konkreten Konsumgewohnheiten geprägte sinnlich-geschmackliche, kurz, ästhetische Haltung als ein Paradigma, ein Verhaltensmodell geltend, das den Alternativcharakter, in dem es sich gegenüber dem Egoismus und der Abstraktheit des bürgerlichen Klassencorpus behauptet, mit dem Anspruch auf eine ebenso maßgebende Repräsentativität wie richtungweisende Vorbildlichkeit für die von letzterem unterdrückten und ausgebeuteten unteren Schichten verbindet. Mag indes diese linksliberale Intelligenz dem von ihr propagierten ästhetischen Lebensstil noch so viel politische Emanzipationskraft und noch so viel moralischen Gerechtigkeitsimpetus beimessen und mag sie ihn unter dem Panier einer aufklärerisch-materialistischen Parteinahme noch so sehr mit der sozialkritisch verstandenen Bedeutung einer primär auf die Beseitigung irdisch-materiellen Mangels und die Befriedigung sinnlich-natürlicher Notdurft gerichteten gesellschaftlichen Wohlfahrt aufladen – was sie propagiert, bleibt doch allemal jene der bürgerlichen Intelligenz insgesamt und bildungsbürgerlichen Schicht als ganzer eigentümliche auskömmlich-konsumtive, passiv-hedonistische Lebensform, die ihr durch ihre ebenso ökonomisch gutdotierte wie politisch dysfunktionalisierte, ihre ebenso finanziell gesicherte wie funktionell überholte gesellschaftliche Stellung zufällt und die sie quasi kompensatorisch für die verloren gegangene öffentliche Funktion und politische Aufgabe zu einer im konkreten Miteinander eines sinnlich-kontemplativen, eben ästhetischen Umgangs mit der Welt besonderen Lebens- und Erfahrungsform auflädt und totalisiert.

Dass die linksliberalen Intellektuellen diese Lebensform propagieren, heißt dabei nicht unbedingt, dass sie auch selber im Wohlstand leben, einen konsumtiven Lebensstil pflegen, einem apolitisch-hedonistischem Wohlleben frönen. Wie Ludwig Feuerbachs eigenes Beispiel zeigt und wie bei vielen anderen Vertretern dieser Intellektuellenfraktion zu sehen, kann die Propagation einer ästhetischen Lebensform, die auf der Rezeptivität und Saturiertheit einer finanziell gesicherten bildungsbürgerlich-konsumtiven Existenz basiert, ohne weiteres Hand in Hand mit der Bereitschaft gehen, um der kulturkritisch-sozialpolitischen Funktion willen, die diese Propagation erfüllen soll, große ökonomische Entbehrungen und persönliche Nachteile in Kauf zu nehmen und am Ende also die eigene Partizipation an der ästhetischen Lebensform ganz oder teilweise dem Kampf um eine mit dieser Lebensform assoziierte politische Emanzipation und soziale Gerechtigkeit zum Opfer zu bringen. In der Tat führen jene linksliberalen Intellektuellen, ein Heine, Börne oder sonstiger Vertreter des Jungen Deutschland, beispielhaft vor, wie sehr die durch das Klassenschicksal und die kollektive Subsistenzform bestimmte Erfahrung und Weltsicht sich über die Empirie des einzelnen und seine persönliche Biographie hinwegsetzen und als eine hinter dem Rücken des Individuums perennierende Disposition gegen dessen bewusste Parteinahmen und vermeintliche Umorientierungen zur Geltung bringen kann. In völliger, der Aufrichtigkeit ihres Engagements entsprechender, Bewusstlosigkeit lässt diese linksliberale Intelligenz ihre Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft auf eine Verklärung der eigenen ästhetischen Existenz hinauslaufen und erhebt deren Wertvorstellungen und Verhaltensweisen zum organisierenden Zentrum und wesentlichen Inhalt des den nichtbürgerlichen Schichten, zu deren Sachwalter diese Intelligenz sich macht, teils als Status quo unterstellten teils als paradigmatisches Soll nahegelegten alternativen, materialistischen Umgangs mit der Welt. Von der Merkwürdigkeit dieser intellektuellen Vorgehensweise, die den proletarischen Anspruch auf gesellschaftliche Veränderung mittels der bildungsbürgerlichen Lebensform einlösen und befriedigen will, hat am ehesten noch Heine dank seines traditionalistisch-rigorosen Aufklärungspathos und seines romantisch-universalistischen Geschichtskonzepts eine Ahnung; aber selbst bei ihm bleibt es bei der Ahnung und gelangt mit anderen Worten die ansatzweise Einsicht in das Missverhältnis zwischen der eigenen klassenspezifischen Rentiersrolle und dem an ihr festgemachten allgemeingesellschaftlichen Emanzipationsanspruch über eine als unglückliches Bewusstsein bestimmbare ironische – und das heißt: Abstandnahme in der Form der Zuwendung praktizierende oder Kritik in den Dienst der Reaffirmation stellende – Distanzierung nicht hinaus.

Was die auf den Materialismus Feuerbachscher Prägung eingeschworene linksliberale Intelligenz den unterdrückten und ausgebeuteten nichtbürgerlichen Schichten, für die sie Partei ergreift, als Modell eines befreiten Daseins und erfüllten Lebens demnach anpreist und offeriert, ist die eigene ästhetische Existenz, ist der von sinnlicher Konkretion und gemeinschaftlichem Genuss geprägte rezeptiv-kontemplative Zugang zur Welt, den die Intelligenz dadurch gewinnt, dass sie die konsumtiv-passive Unmittelbarkeit zum Markt, worein ihre gesellschaftliche Stellung und die mit dieser einhergehende finanzielle Begünstigung sie versetzen, zum aktiven Realitätsvermittlungs- und Erfahrungszusammenhang, zu einer mit Selbstverwirklichung synonymen beschaulich-reflexiven Lebensform auflädt und totalisiert. So subjektiv ehrlich dieses Angebot an die unteren Schichten ist, so objektiv zynisch ist es auch. Zynisch nicht nur deshalb, weil damit den unteren Schichten etwas als anzustrebendes Dasein und utopische Lebensform vorgeführt wird, wovon sie durch ihre Klassenlage, durch ihren gesellschaftlichen Status als Unterdrückte und Ausgebeutete doch gerade ausgeschlossen sind, und weil also das Angebot bar jeder Rücksicht auf die ökonomischen Macht- und politischen Klassenverhältnisse erfolgt. Sondern objektiv zynisch auch und vor allem deshalb, weil tatsächlich ja jene ihnen als Idealzustand vorgestellte Lebensform ebenso systematisch wie wesentlich daran beteiligt ist, die unteren Schichten im Status von Unterdrückten und Ausgebeuteten festzuhalten und sie daran zu hindern, eine wie immer geartete Veränderung ihrer Lebensverhältnisse, ganz zu schweigen von jener zum Idealzustand erklärten Lebensform selbst, zu erreichen. Wenn, wie oben festgestellt, die ästhetische Existenz ihre gesellschaftliche Grundlage in der besonderen ökonomischen Stellung hat, die das Bildungsbürgertum genießt und durch die es, wie einerseits eine nicht – oder jedenfalls nicht konstitutiv – durch Arbeit vermittelte Verfügung über Wertäquivalent, so andererseits einen ebenso unvermittelten konsumtiven Zugang zum Markt und Zugriff auf den dort in Wertform sich sammelnden gesellschaftlichen Reichtum erhält, dann heißt das im Klartext, dass sie von der als Industriekapitalismus firmierenden spezifischen Wirtschaftsform profitiert, die von der bürgerlichen Gesellschaft in den beiden vorangegangenen Jahrhunderten allmählich ausgebildet worden ist und die sich im 19. Jahrhundert in geradezu atemberaubendem Tempo als herrschender gesellschaftlicher Reproduktionsmechanismus durchsetzt.

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