XII.
Aber wie verführerisch Nietzsches geschichtsphilosophische Umkehrung der gesellschaftlichen Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Kapital und Kapitalklientel der letzteren auch immer vorkommen und wie sehr sie ihr als Chance einleuchten mag, die neue unverhohlen-zynische Anpassung des Bildungsbürgers mit der alten unverdrossen-kritischen Distanz des bürgerlichen Intellektuellen zu vermählen – sie bleibt eine Phantasmagorie und wäre bei all ihrer unendlichen Attraktivität doch am Ende außerstande, sich gegen die Realitätsprüfung der Betroffenen durchzusetzen, käme ihr nicht die politische Wirklichkeit zu Hilfe und erlaubte ihr als die Maske, in die sie zu schlüpfen vermag, sich einen Anschein von Realismus zu geben und mit einem Anflug von Faktizität aufzutreten. Diese politische Wirklichkeit ist die traditionelle Staatsmacht, die, um der nachhinkenden ökonomischen Entwicklung der im Prozess der politischen Einigung begriffenen deutschen Gebiete Beine machen und gleichzeitig damit einhergehende Sozialkonflikte in Zaum halten beziehungsweise sie im Sinne eines gedeihlichen industriekapitalistischen Fortschritts schlichten zu können, sich in offensiver Auslegung des ihr vom Kapital bereits übertragenen politischen Mandats in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als der ebenso sehr über den Parteien stehende wie klassenübergreifende Inbegriff des Gemeinwesens etabliert und das Ansehen eines alle Intentionen auf sich zu lenken und alle Kräfte an sich zu binden entschlossenen höchsten Guts des Reproduktionsprozesses der bürgerlichen Gesellschaft und letzten Zwecks ihres ganzen politisch-ökonomischen Treibens gibt. Als das in korporativer Einheit und exekutiver Geschlossenheit bessere Selbst und wahre Urbild der zerrissenen bürgerlichen Gesellschaft, als der aus der Welt der Klassenkämpfe und des Parteiengezänks sich erhebende parmenideische Kosmos oder leviathanische Koloss, als der er sich geriert, kann dieser starke Staat, wie er sich nach der Mitte des Jahrhunderts unter preußischer Ägide in Deutschland herausbildet, den seine bloße Funktionalität, sein Wirken im Dienste einer gedeihlichen industriekapitalistischen Entwicklung, vergessen machenden Eindruck eines gesellschaftlichen Ideals und Telos, eines die bürgerliche Gesellschaft ebenso sehr transzendierenden wie als sein bloßes Mittel oder subsistenzielles Organ rekrutierenden höheren Zwecks der ganzen Veranstaltung erwecken und damit den bürgerlichen Intellektuellen vom Schlage Nietzsches gleichermaßen als Plausibilisierungsfolie und Projektionsfläche für ihre auf die eigene Schicht bezogenen konsumaristokratischen Phantasien von einer klassentranszendierenden virtuos-ästhetischen Elite dienen.
Indes, auch wenn der Nietzsche-Adept im Phänomen des starken Staats einen Topos antrifft, der mindestens topologisch seinen Vorstellungen von einer über der bürgerlichen Gesellschaft stehenden Herrenschicht einen Anschein von Realismus verleiht und nämlich den gesellschaftlichen Ort anzeigt, an dem die neue Herrenschicht anzusiedeln wäre, bleibt doch die faktische Diskrepanz zwischen dem virtuos-ästhetischen Charakter der als Konsumaristokratie imaginierten Herrenschicht und dem souverän-bürokratischen Zuschnitt der als starker Staat etablierten leviathanischen Macht zu eklatant, als dass sich bloß von der Projektion der ersteren auf die letztere eine wirkliche und das heißt, inhaltlich nachvollziehbare Plausibilisierung der von Nietzsche propagierten Phantasmagorie einer Umkehrung des gesellschaftlichen Machtverhältnisses zwischen der industriell produktiven Kapitalmacht und dem als Kapitalklientel konsumtiv nutznießenden Bildungsbürgertum erhoffen ließe. Dass der in solcher Phantasmagorie sich austobende Größenwahn Nietzsches hinlänglich Überzeugungskraft beweist, um tatsächlich über die Realitätskontrolle der Adepten triumphieren zu können, verdankt er deshalb am Ende einem Anschein von ökonomischer Berechtigung, den er zusätzlich zu seiner unbedingten psychologischen Opportunität und zu seiner ansatzweisen politischen Plausibilität für die von ihm Angesprochenen gewinnt.
Dieser Anschein von ökonomischer Berechtigung liegt in der Konsumentenrolle beschlossen, die dem Bildungsbürgertum als dem primären Nutznießer der materialen Segnungen des Kapitalprozesses zufällt. Zwar handelt es sich bei diesen materialen Segnungen, den industriell produzierten Waren, systematisch betrachtet, eher um eine Begleiterscheinung oder ein Abfallprodukt, als um den wesentlichen Zweck oder das zentrale Anliegen des auf die kapitale Wertbildung abgestellten industriellen Produktionsprozesses, und so gesehen kommt denn auch der Konsumentenrolle der bildungsbürgerlichen Kapitalklientel nur die Bedeutung eines entsprechend sekundären oder marginalen Verhaltens, um nicht zu sagen eines bloßen Abfallbeseitigungsunternehmens zu. Aber empirisch betrachtet oder, zynisch ausgedrückt, von der unaufhebbar kontingenten Bedingung des kapitalen Wertbildungssystems, sprich, von der menschlichen Bedürfnisstruktur her gesehen, bleibt jene Konsumentenrolle eine conditio qua non, eine unverzichtbare Voraussetzung aller Wertbildung. Auch in seiner systematischsten, selbstbetriebsam entwickeltsten Form bleibt der Prozess der kapitalen Verwertung menschlicher Arbeitskraft an die empirisch-kontingente Bedingung geknüpft, im Dienste der gesellschaftlichen Reproduktion zu stehen, pro domo der natürlich-kultürlichen Subsistenz der Mitglieder der Gesellschaft stattzufinden. Er bleibt mit anderen Worten daran geknüpft, Produkte hervorzubringen, die ihre Wertnatur in die Gestalt von Subsistenzmitteln kleiden, die Wertträger, Waren, nur sind, insofern sie ebenso wohl und im nestorianisch engen Verbund Gebrauchsgüter darstellen.
Zwar haben, wie bekannt, die Veranstalter des kapitalen Verwertungsprozesses nichts Eiligeres zu tun, als dieses die Wertnatur umschließende Gebrauchsgut, diesen subsistenziellen Träger des Werts wieder loszuwerden und das heißt, auf dem Markt gegen reinen Wertkörper, gegen die wahre Ware, kurz, gegen Geld auszutauschen, aber dafür braucht es die aufgrund ihrer Bedürfnisstruktur an der subsistenziellen Gebrauchsseite des Produkts Interessierten, die Konsumenten, und insofern zollt mit jedem dieser als Wertrealisierung bestimmten zirkulativen Akte das kapitale Verwertungssystem seiner in der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse bestehenden kontingent-empirischen Existenzbedingung nolens volens Tribut. Und diese Abhängigkeit des kapitalen Verwertungssystems von der Voraussetzung konsumtionsbereiter menschlicher Subjekte wird mit der fortschreitenden extensiven, auf die Herstellung eines Weltmarkts gerichteten, und intensiven, auf ein Maximum an Wertbildung zielenden, Entfaltung des Systems nicht etwa geringer, sondern immer nur größer. Je mehr die kapitale Wertproduktion alle Bereiche der gesellschaftlichen Arbeit erfasst und durchdringt und je mehr sie die in toto ihrer Regie unterstellte gesellschaftliche Produktionssphäre durch Ausbeutung der Lohnarbeit und Erhöhung der Arbeitsproduktivität zu Höchstleistungen in der Wertbildung treibt, um so mehr Gebrauchsgegenstände setzt sie zugleich in die Welt und um so stärker ist sie darauf angewiesen, diese als Wertträger fungierenden Gebrauchsdinge im Austauschakt an den Mann oder die Frau zu bringen und sich von letzteren dafür in jener als allgemeine Wertform kursierenden Münze bezahlen lassen, die Passepartout aller in der Lohnarbeit effektuierten Verwandlung von Arbeit in Kapital, sprich, aller weiteren kapitalen Wertbildung ist.
Und nicht genug damit, dass durch die fortlaufende Vergrößerung der unmittelbar als Anhäufung von Gebrauchsgütern erscheinenden Warensammlung die kapitale Wertproduktion ihre Abhängigkeit von der als Bedürfnisbefriedigungsveranstaltung funktionierenden Konsumtion ebenso fortlaufend verstärkt, sie sorgt zugleich dadurch, dass sie sich wesentlich in der privatkapitalistisch-konkurrenzgesellschaftlichen Form der Profitmaximierung vollzieht, quasi eigenhändig dafür, dass der als Wertrealisierung auf dem Markt zu vollbringende Absatz der Gebrauchsgüter an die Konsumenten immer schwieriger und insofern denn aber jene Abhängigkeit vom Konsum immer drückender und für das kapitale System bedrohlicher wird.
Um sich im konkurrenzgesellschaftlich strukturierten kapitalen Wertbildungsprozess dort behaupten zu können, wo per Wertrealisierung über die Umwandlung der unmittelbar als Gebrauchsgüter erscheinenden Waren in allgemeine Wertform als in den Generalschlüssel zu neuer kapitaler Wertbildung entschieden wird, nämlich auf dem Markt, müssen die atomistisch einzelnen, antagonistisch privaten Agenten der Wertbildung ihre Waren den Konsumenten möglichst preisgünstig, will heißen, mit einem Wertabschlag feilbieten, der den der Konkurrenten übersteigt. Nur wenn sie billiger verkaufen, können sie sicherstellen, dass sie die durch die Rücksicht auf die menschliche Bedürfnisbefriedigung aufgebaute Hürde der Wertrealisierung überwinden und nicht auf ihren als solche wertlosen Gebrauchsgütern sitzen bleiben. So gesehen, erweist sich die qua Konsumtion zu vollbringende Beseitigung der Naturalseite der in Warenform geschaffenen Werte nicht nur als generelle conditio sine qua non des kapitalen Wertbildungssystems, sondern gleichzeitig auch als ein die tüchtigsten Wertbildner unter den weniger tüchtigen auszulesen geeigneter wirtschaftlicher Zuchtwahlmechanismus. Im Sinne einer konkurrenzfähigen Preisgestaltung tüchtig nämlich können sich die einzelnen Agenten der Wertbildung nur in dem Maß zeigen, wie ihnen gelingt, das Verhältnis zwischen dem Anteil, der vom realisierten Wert der Waren als Mehrwert dem Kapital verbleibt, und dem Anteil, den als Lohn für ihre Arbeit die Produzenten der Waren erhalten haben, zu Gunsten des Kapitals zu verändern. Nur insofern die Agenten des Kapitals es fertig bringen, den Mehrwert oder kapitalen Zugewinn aus der Produktion relativ zu dem als Lohn oder variables Kapital firmierenden Wertanteil zu vergrößern, können sie die produzierte Ware billiger verkaufen, ohne dadurch die für die kapitale Wertbildung als eine Selbstverwertung von Wert konstitutive Profitperspektive in Frage zu stellen, ohne also mit anderen Worten Gefahr zu laufen, der durch das konkurrenzspezifische Erfordernis einer sicheren Wertrealisierung bedingten Preispolitik das Prinzip der mittels Mehrwertschöpfung kontinuierlichen Akkumulation von Kapital, sprich, den dynamischen Kern aller kapitalen Wertbildung aufzuopfern.
Die Doppelstrategie, mittels deren diese Verschiebung der Proportion zwischen Mehrwert und Lohn angestrebt und erreicht wird, sind die oben thematisierten beiden Mechanismen einer extensivierten Ausbeutung der Arbeitskraft durch Erhöhung der subjektiven Arbeitsleistung und einer intensivierten Ausbeutung der Arbeitskraft durch Erhöhung der objektiven Produktivkraft der Arbeit. Indem sie teils den um Arbeit miteinander konkurrierenden Lohnarbeitern härtere Arbeitsverträge abpressen, teils die sächlich-technischen Bedingungen des Arbeitsprozesses selbst umgestalten, gelingt den Agenten des Kapitals, zum gleichen oder gar reduzierten Lohn eine größere Wertmenge produzieren zu lassen und dementsprechend den als Mehrwert zum konstanten Kapital hinzutretenden Wertanteil gegenüber dem an die Produzenten abzutretenden, variablen Kapitalanteil relativ zu vergrößern. Was die einzelnen Kapitalagenten damit allerdings nicht erreichen, jedenfalls nicht auf längere oder auch nur mittlere Sicht, ist ihr eigentliches Ziel: das Ziel einer durch die Verbilligung ihrer Waren effektuierten Verbesserung ihrer Konkurrenzsituation auf dem Markt, sprich, einer Festigung und Stärkung ihrer Position beim Wertrealisierungsgeschäft. So wahr ihnen nämlich kraft eines der beiden Mechanismen zur Steigerung des Verwertungsgrads der Arbeit oder kraft einer Kombination aus beiden gelingt, den Gewinnanteil des konstanten Kapitals, den Mehrwert, proportional zu erhöhen, und so wahr ihnen das kurzfristig ermöglicht, durch Verwohlfeilerung ihrer Waren den Konkurrenten bei der Wertrealisierung den Rang abzulaufen, so wahr zwingen sie dadurch die Konkurrenten bei Strafe der Verdrängung vom Markt oder des ökonomischen Untergangs, es ihnen in dieser Hinsicht gleichzutun oder sie womöglich sogar zu übertrumpfen, will heißen, durch eine entsprechende oder sogar weitere Erhöhung des Ausbeutungsgrades der Arbeit für eine entsprechende oder sogar weitere Verwohlfeilerung der von ihnen zu Markte getragenen Waren zu sorgen und so ihre Position beim Wertrealisierungsgeschäft zurückzugewinnen, wo nicht den Spieß umzudrehen und sie auf Kosten des anderen zu verbessern.
Was demnach im Rahmen der kapitalistischen Konkurrenz auf dem Markt der einzelne Kapitalagent durch seine auf die Strategie einer proportionalen Mehrwertvergrößerung gegründete Preispolitik mittel- und langfristig gewinnt, ist von dem weit entfernt, was er zu gewinnen hoffte: Nicht etwa mehr Sicherheit im Blick auf die Realisierung des Werts, sprich, den Absatz, seiner Waren tragen ihm seine Bemühungen ein, sondern neue und größere Unsicherheit, die ihn zu neuen und verstärkten Bemühungen um mehr Sicherheit zwingen. Statt den Triumph über die Konkurrenten zu garantieren, löst dieser Mechanismus der Absatzsicherung durch eine auf der Steigerung der Mehrwertproportion basierende Preispolitik bloß einen circulus vitiosus der zwischen den Konkurrenten abwechselnden und ad infinitum erfochtenen Pyrrhussiege aus, der am Ende nur einen eindeutigen Gewinner kennt: die bereits oben bei der allgemeinen Betrachtung der Strategien zur Mehrwerterhöhung als deren eigentlicher Nutznießer angegebene und sei's als Werk der Vorsehung zu preisende, sei's des blindwütigen Automatismus verdächtige Logik einer Entfaltung der Produktivkraft der Arbeit.
Welchem Zweck aber auch immer jene konkurrenzkampfbedingte und durch die eine oder andere Strategie durchgesetzte Erhöhung des Mehrwertanteils proportional zu dem der Arbeitskraft als variables Kapital oder Lohn überlassenen Wertanteil dient, sie beschwört in bezug auf die Wertrealisierung als ganze, in bezug auf das durch die unmittelbare Naturalgestalt der Werterscheinungen, die Gebrauchsgüterform der Waren bedingte zirkulative Absatzerfordernis ein in seiner Offensichtlichkeit quasi-logisches Problem herauf, das geeignet scheint, die ganze Absatzsicherungsstrategie nicht nur in specie der individuellen Interessen der konkurrierenden Kapitalagenten zu vereiteln und zu einer unendlichen Folge von Pyrrhussiegen werden zu lassen, sondern mehr noch und vor allem ad absurdum einer dem kapitalen Verwertungsinteresse in genere verderblichen Fehlentwicklung zu führen. Während nämlich kraft der beiden genannten Ausbeutungsmechanismen, des auf die extensive Erhöhung des subjektiven Arbeitsquantums ebenso wie des auf die intensive Steigerung der objektiven Arbeitsleistung gerichteten, immer mehr Wert in Naturalgestalt oder Gebrauchsgüterform auf dem Markt erscheint, bleibt dank der mittels der beiden Mechanismen verfolgten und dem Zweck der Absatzsicherung durch Preispolitik verpflichteten Strategie einer proportionalen Vergrößerung des Mehrwerts zu Lasten des Lohns verhältnismäßig immer weniger Wert in den Händen der Produzenten, um die von ihnen geschaffenen Gebrauchsgüter auf dem Markt einlösen und mithin die ihnen in ihrer Eigenschaft als Konsumenten zufallende Aufgabe der Wertrealisierung, um deren Sicherung es ja eigentlich geht, erfüllen zu können. Nicht nur hat die dem Mehrwert eingeschriebene Tendenz, sich in Kapital zu verwandeln und weitere Produktionsprozesse zu initiieren, die Konsequenz, dass absolut immer mehr Wert in der naturalleiblichen Gestalt von Gebrauchsgütern auf dem Markt erscheint und seine Erlösung vom Naturalleib, seine Einlösung in die allgemeine Wertform Geld, seinen Absatz, bei anderen als seinen Produzenten reklamieren muss, die geschilderte konkurrenzspezifische Strategie einer zur Absatzsicherung durch Preispolitik durchgesetzten Verschiebung der Proportion zwischen Mehrwert und Lohn sorgt außerdem auch dafür, dass von dem absolut vermehrten Wert, der in Gebrauchsgüterform auf dem Markt erscheint, die Produzenten mit ihrem Wertanteil, ihrem Lohn, relativ immer weniger einlösen können, so dass diese nicht einmal in ihrer individuellen Zielsetzung erfolgreiche Absatzsicherungsstrategie in kollektiver Hinsicht tatsächlich ihr genaues Gegenteil bewirkt und die Realisierung der wachsenden Wertmenge auf dem Markt, den Absatz der immer ungeheureren Warensammlung, in nicht sowohl linearer Verschärfung als vielmehr geometrischer Zuspitzung für die Kapitalagenten zum Problem werden lässt.
Es ist diese dilemmatische ökonomische Situation des Kapitals, die – um endlich zu unserem ideologiekritischen Problem in Sachen Herrenmensch zurückzukehren! – dem Größenwahn à la Nietzsche zumindest in den Augen der interessierten bildungsbürgerlichen Schicht eine Art von Plausibilität verleiht und die also die von Nietzsche phantasierte Verkehrung des Machtverhältnisses zwischen Kapitalagenten und Kapitalklientel, will heißen, die Verwandlung der letzteren in eine kraft ästhetischen Virtuosentums zur Herrschaft berufene neue Aristokratie und die Degradierung der ersteren zum dienenden Faktotum der neuen ästhetischen Herren und virtuosen Meister als eine durch die politisch-ökonomische Entwicklung in den Bereich des Möglichen rückende Perspektive erscheinen lässt. Schon überhaupt die Entstehung der bildungsbürgerlichen Schicht als einer politisch oder in ihrem Anspruch auf öffentliche Macht ebenso sehr durch den traditionellen Staat und seinen Apparat ausgebooteten wie ökonomisch oder in ihrem Bedürfnis nach privatem Wohlstand befriedigten Klientel des Kapitals verdankt sich ja wesentlich bereits dem ungeheuren Wertzuwachs in Gebrauchsgüterform, den im 19. Jahrhundert die industriekapitalistische Reorganisation der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft hervortreibt. Jene ungeheure Warensammlung, mit der die industriekapitalistisch eskalierende Produktivität der Arbeit den Markt überschwemmt, zu konsumieren und sie mithin, systemimmanent gesprochen, mittels des Austauschakts Ware gegen Geld ihres in der Gebrauchsgüterform steckenden Werts zu überführen – das ist die primäre Aufgabe und in der Tat der wesentliche Existenzgrund des im 19. Jahrhundert neuentstehenden Bildungsbürgertums.
Und nur um diese Aufgabe erfüllen, diesem Existenzgrund genügen zu können, sieht sich die neue Schicht mit allgemeiner Wertform, reinem Wertkörper, Geld versorgt, mag das Geld aus dem vorkapitalistischen Ausbeutungszusammenhang agrarischer Renten oder aus der direkten Beteiligung am industriellen Kapitalertrag oder als steuerlicher Anteil am Kapitalertrag beziehungsweise als Teil der dem Wertzuwachs des Sozialprodukts entsprechend vergrößerten Geldmenge aus der Staatskasse stammen, mag es sich bei den Empfängern also um Rentiers oder um Kapitaleigner oder um Staatsdiener handeln. So oder so stellt diese Schicht die vom Kapital primär begünstigte Klientel dar, die als Gegenleistung dafür, dass sie, ohne an der industriellen Wertschöpfung eigenhändig beteiligt zu sein, aus einer der drei genannten Quellen mit allgemeinem Wertäquivalent, Geld, versorgt wird, dieses Äquivalent auf den Markt trägt, um es dort in Gebrauchsgüter, Konsumartikel, umzusetzen, systemimmanent gesprochen, es für die Wertrealisierung zu verwenden. Beiden Beteiligten, dem Kapital selbst und seiner qua Bildungsbürgertum etablierten Klientel, gereicht diese Beziehung zum Vorteil und verhilft ihnen zu dem jeweils ihren: Das Kapital sieht sich um jenen Wertteil vermehrt, der aus der naturalleiblichen Warengestalt erlöst werden muss, in die ihn die aller Produktion eingeschriebene heteronome Bedürfnisbefriedigungsrücksicht unmittelbar bannt, und sieht sich kraft dieses, seiner wahren Gestalt als Geld überführten Mehrwerts zu neuen produktiven Großtaten aufgelegt, während das Bildungsbürgertum sich als primärer Nutznießer der materialen Segnungen der industriekapitalistischen Produktion wiederfindet und auf der Basis solcher Segnungen seinen als quasi-politische Alternative zum sozialdarwinistischen Tierreich der bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft wohlverstandenen ästhetisch-kontemplativen Lebensstil pflegen kann. Wenn bei dieser für beide Seiten vorteilhaften Zweckgemeinschaft überhaupt ein Bewusstsein der Abhängigkeit oder ein Dienstbarkeitsgefühl aufkommt, so auf Seiten des Bildungsbürgertums, zumal wenn dieses sein Wertäquivalent aus der zweiten Quelle, dem Zins des Industriekapitals selbst, bezieht: Die bildungsbürgerliche Schicht weiß oder ahnt zumindest, dass sie ihren Wohlstand dem Ausbeutungssystem kapitaler Wertbildung verdankt und dass ohne dieses System sie als gesellschaftliche Gruppe überflüssig und in der Tat gar nicht existent wäre, wohingegen das System die ohne Frage zentrale konsumtive Wertrealisierungsaufgabe, die sie erfüllt, im Notfall auch mit Hilfe des Staats anderen gesellschaftlichen Gruppen übertragen könnte. Soweit das Bildungsbürgertum seine sozioökonomische Stellung nicht einfach als naturgegeben erfährt und als etwas Selbstverständliches hinnimmt, verhält sie sich deshalb als Kapitalklientel, das heißt, sie singt das Lied der ökonomischen Macht, deren Brot sie ißt, oder preist, besser gesagt, den Namen des Herrn, dessen Geld sie empfängt, um ihm sein Brot abzukaufen.
Genau das aber ändert sich in dem Maß, wie die Produktivität unaufhörlich weiterwächst und sich in einem immer größeren Warenangebot auf dem Markt niederschlägt. Wegen des oben beschriebenen Mechanismus der vom Kapital betriebenen relativen Vergrößerung des Mehrwerts und entsprechenden Pauperisierung der Lohnabhängigen sieht sich das nicht-lohnabhängige Bildungsbürgertum in der ihm ohnehin zugewiesenen Rolle des für die Wertrealisierung zuständigen Konsumenten immer stärker gefordert. Oder besser gesagt sieht es sich immer mehr umworben, weil ja anders als beim Kapital, dessen Hunger nach Mehrwert aus konkurrenzspezifischen ebenso wie aus konstitutionslogischen Gründen unersättlich ist, der dieser Kapitalklientel eigene Appetit nach Gebrauchsgütern keineswegs unstillbar ist oder jedenfalls stets neu an die als natürliche erfahrenen Grenzen des historischen Herkommens und der kulturellen Gewohnheiten stößt. Mag also auch das Industriekapital mit seinem ökonomischen Altvorderen, der Grundrente, und seinem politischen Profoss, dem Staat, das Bildungsbürgertum noch so großzügig mit Wertäquivalent versehen – dass dieses Wertäquivalent auch tatsächlich auf den Markt getragen und dem Wertrealisierungsgeschäft zugeführt wird, ist keineswegs selbstverständlich und am Ende abhängig davon, ob es dem Kapital gelingt, seinen Abnehmer vom Dienst und Hauptkonsumenten aller Übersättigung und allem konsumtiven Überdruss zum Trotz bei der Stange seiner quasi von Berufs wegen geübten Konsumtionstätigkeit zu halten. Mit anderen Worten, das Kapital muss versuchen, bei seiner Klientel neue, ausgefallenere Bedürfnisse zu wecken oder alte Bedürfnisse durch Modifizierung beziehungsweise Raffinierung neu zu erregen, muss Gebrauchsgüter anbieten, die durch veränderte Formen oder neue Funktionen das ermüdete Interesse wieder zu fesseln vermögen, muss, kurz, das Bildungsbürgertum durch die Offerte ausgesuchter Sinnesreize und erlesener Geistesgenüsse umwerben und zu ködern suchen.
Das Resultat dieser Bemühungen des Kapitals um die Erhaltung der Kaufwilligkeit seiner Klientel, das heißt, um die Bereitschaft des als primärer Nutznießer der materialen Segnungen der industriekapitalistischen Entwicklung etablierten Bildungsbürgertums, sein Wertäquivalent als Wertrealisierungsmittel auf dem Markt zu Verfügung zu stellen, ist die Luxusproduktion des Fin de siècle, eine Produktion, die in dem Maß, wie sie dem Bildungsbürgertum den Eindruck einer maßgeschneiderten Versorgung und ins Detail gehenden Zuwendung vermittelt und die Avancen eines ihn, den Kunden, als den König des Konsums inthronisierenden aparten Lebensstils macht, ihm das irrige Gefühl gibt, politisch-ökonomischer Herr der Lage zu sein, und ihm auf Kosten des Bewusstseins seiner abhängigen Funktion als Wertrealisierer vom Dienst zu dem Wahn verhilft, der konsumaristokratische Herr des konkurrenzbürgerlichen Faktotums Kapital oder der geschichtsphilosophisch letzte Zweck und legitime Erbe der durch die industriekapitalistische Entwicklung ineins betriebenen Verwertung der proletarischen Arbeit und Entfaltung der gesellschaftlichen Produktivkräfte zu sein. Nichts anderes als dieses irrige Gefühl, dieser artifiziell erzeugte Wahn findet am Ende in Nietzsches größenwahnsinniger Verkehrung des tatsächlichen Machtverhältnisses zwischen Kapital und Kapitalklientel und in der Erhebung der letzteren zu einer auf dem Rücken des dienstbaren ersteren ihren ästhetisierend-virtuosen Lebensstil zelebrierenden Herrenmenschenschicht seinen Niederschlag. Von einem Kapital, das kraft seiner Strategie einer Steigerung des relativen Mehrwerts mittels forcierter Entwicklung der Produktivität zunehmend in die Klemme der von ihm selber eskamotierten Kaufkraft gerät und sich von Absatzkrisen bedroht sieht – von diesem Kapital auf Händen getragen und mit Luxusgütern überschüttet, nur damit es in seinem Konsumeifer nicht erlahme und nicht aus schierer Übersättigung das ihm übertragene Wertrealisierungsgeschäft an den Nagel hänge, hält sich also das Bildungsbürgertum für den Nabel der industriekapitalistischen Welt und wähnt gar, in seinem Patron und Meistbegünstiger nichts als einen diensteifrigen Domestiken und selbstlos zuarbeitenden Geist aus der Flasche vor sich zu haben.