II.
Eine in aller Form geordnete und bei jedem Schritt als geordnet vorzeigbare Vorgehensweise sowie ein durchgängig referenzielles und in jedem Punkt als gegründet nachweisbares Kontrollverfahren – das ist es, womit im 19. Jahrhundert zumal die Geisteswissenschaft, die sich nicht wie die Naturwissenschaften durch praktisch-experimentelle Erfolge, durch den empirischen Effekt ihres Denkens, über dessen zweifelhafte Objektivität oder schier unwiderstehliche Vorurteilsanfälligkeit hinwegtrösten kann, ihren offenbar mit dem Kainsmal naturhafter Partialität gezeichneten, mit der Erbsünde sachfremder Rücksichtnahme geschlagenen Ansichten und Theorien dennoch Haltbarkeit und Statur zu verleihen sucht. Geradezu besessen von der Angst, in ihrer Vorstellungs- und Reflexionstätigkeit Spielball hinterhältiger Manipulationen und raffinierter Indoktrinationen zu sein, bilden die nicht weniger erkenntnisbeflissenen als angstbesessenen Geistesarbeiter des 19. Jahrhunderts jenen erkenntniskritischen Verhaltenskodex beziehungsweise Verfahrensduktus aus, der unter dem Gütesiegel "wissenschaftliche Methode" bis in den heruntergekommensten Akademismus unserer Tage hinein überdauert und von dem sich seine Erfinder wenn schon keine positive Wahrheitsgarantie, so jedenfalls negativ einen Schutz vor Irreführung und Selbsttäuschung erhoffen. Die Hoffnung indes, so sehr sie als Gestus aufrechterhalten bleibt und in der zum Zwangsapparat routinierten Affirmation des bis heute funktionierenden universitären Betriebes eine formelle Erfüllung findet, ist reell, und das heißt, im Sinn eines über den bloßen szientifischen Beschwörungsgestus hinausgehenden verbindlich-objektivitätsgarantierenden Habitus, nur von verschwindend kurzem Bestand. Noch ehe die Wegbereiter der wissenschaftlichen Methode und der auf sie schwörenden modernen Geisteswissenschaften ihr Werk, einen Schutzwall gegen interessierte Erkenntnis und scheinobjektive Partialität zu errichten, recht haben beginnen können, treten bereits andere Intellektuelle auf den Plan, um teils allgemein den Nachweis der ebenso rettungslosen wie prinzipiellen Verfallenheit des Erkennens an erkenntnisäußere Interessen beziehungsweise objektivitätsferne Rücksichten zu führen, teils im besonderen die ergriffenen wissenschaftlichen Schutzvorkehrungen in eben den Abgrund heteronomer Bestimmtheit und privativer Interessiertheit zu stürzen, vor denen sie eigentlich doch bewahren sollen.
Wie ein Schopenhauer oder Nietzsche erkennen, sind auch und nicht zuletzt die um die systematische Methode und die empirische Quelle zentrierten szientifischen Bemühungen der Intellektuellen, dem Erkennen Objektivität und Sachhaltigkeit zu sichern, integrierender Bestandteil eines den Intellekt als ganzen okkupierenden Verlangens nach etwas völlig anderem als nach Objektivität oder Sachtreue, nämlich Teil eines von beiden Theoretikern als "Wille" bezeichneten quasibiologischen Triebs und subjektiven Strebens nach einem Befriedigungsmittel, einem Gut, das Schopenhauer als "das Leben", Nietzsche hingegen als "die Macht" ausmachen zu können glaubt. "Wille zum Leben" oder "Wille zur Macht" – das ist es, was in der Gestalt des natürlichen Körpers beziehungsweise in der Leibhaftigkeit des physischen Bios, wie hinter allen Vermögen, so auch hinter dem Intellekt steht und was, wie alle menschlichen Handlungen, so auch die intellektuellen Aktivitäten wesentlich motiviert und lenkt. Ziel des Willens ist bei Nietzsche wie bei Schopenhauer im wesentlichen er selbst: ist, dass er selbst sich behauptet, betätigt, durchsetzt, Widerstand überwindet, Macht gewinnt. Während Nietzsche mit seiner Rede vom "Willen zur Macht" diesen tautologischen, gegenstandslosen, von abstrakter Funktionslust stigmatisierten Charakter der als Drahtzieherin hinter den Kulissen geltend gemachten Triebkraft offen ausspricht, scheint auf den ersten Blick Schopenhauer mit seinem Begriff vom "Leben" noch an einem Gegenstandsbezug des Willens festhalten zu wollen, scheint er darauf zu insistieren, dass der Wille mit dem, was er will, etwas anderes wolle als sich selbst. Das erweist sich indes als ein Schein, den Schopenhauer bald schon dadurch aufklärt, dass er die Welt, in der der Wille agiert, als eine Scheinwelt diagnostiziert, nämlich als raumzeitliches Kontinuum, in das der eigentlich ausdehnungslose und ewige Wille – man weiß und erfährt nicht so recht, wie und warum – hineingerät und in dem er sich in scheinbar separate Erscheinungen, in eine Vielzahl von einander fremd gegenüberstehenden Einzelwesen auseinandergerissen findet. Im Brechungsmedium dieses aus Raum und Zeit, aus Ausdehnung und Dauer gebildeten physischen Koordinatensystems zerfällt der als metaphysisches Ding-an-sich subsistierende eine Wille in eine Mannigfaltigkeit von Erscheinungen, von denen jede einzelne, jedes anorganische oder organische Wesen, angefangen vom steinernsten Stein bis hin zum intelligentesten Lebewesen, sich gegen alle anderen als gegen einen vermeintlich äußeren Widerstand, eine scheinbar wesensfremde oder jedenfalls existenziell verschiedene Objektivität zu behaupten und als Macht zur Geltung zu bringen sucht. Weil jede einzelne Verkörperung des Willens sich zu allen anderen Willenserscheinungen wie Agent zu Betätigungsfeld, Subjekt zu Objekt verhält, kann der Anschein eines positiv gegenständlichen, als Objektivierungsverfahren begreiflichen Strebens der einzelnen Willensverkörperung nach etwas, das sie selber nicht ist und das ihr fehlt, entstehen, wird unmittelbar also der mit der Rede vom "Willen zum Leben" suggerierte Eindruck erzeugt, als sei es der einzelnen Willenserscheinung um Kompensation eines Mangels oder Komplettierung eines Unvollständigen, kurz, um so etwas wie Selbstrealisierung zu tun. Indes, die einfache Überlegung, dass aus Sicht jedes einzelnen Moments dieser vermeintlichen Objektivität, das heißt aus der Perspektive sämtlicher anderer Willenserscheinungen, das gleiche Bild sich ergibt und die als Subjekt angenommene Willensverkörperung ihrerseits also Teil der Scheinobjektivität ist, zu der sich auch sämtlichen anderen Willensverkörperungen die übrigen formieren, straft jenen Anschein Lügen und enthüllt die Bewegung als das, was sie ist: als den von aller Zweckmäßigkeit und inhaltlichen Bestimmtheit weit entfernten gegenstandslosen Funktionalismus und fehlleistungshaften Dynamismus eines mit sich selber im Streite liegenden Willens, eines Willens, der mit nichts als mit seinem zur Objektivität entfremdeten Selbst um die Selbstbehauptung kämpft. Wenn die zum Krieg aller gegen alle entfesselte konfrontative Bewegung der in Raum und Zeit auseinandergesprengten Willenspartikel überhaupt noch einen über die abstrakte Selbstbehauptung hinausgehenden Sinn beanspruchen kann, so nicht den einer positiven Selbstverwirklichung in corpore oder in objectu der anderen, sondern ausschließlich den einer negativen Überwindung der eigenen raumzeitlichen Partikularität und Rückkehr in den metaphysischen Status quo ante des einen, einheitlichen Willens jenseits von Zeit und Raum. Das heißt, es lässt sich der Selbstbehauptungsgestus der einzelnen Willensverkörperung notfalls – beziehungsweise sub specie der Schopenhauerschen Prämisse vom Willen als metaphysischem Ding-an-sich sogar zwangsläufig – als Ausdruck des Bemühens begreifen, durch Überwindung, Beseitigung, Annexion, Einverleibung, kurz, durch jede nur denkbare Art einer Tilgung der anderen Willenserscheinungen als anderer in der eigenen Gestalt jenen ganzheitlichen, einheitlichen Willen wiedererstehen zu lassen, der durch die Zersplitterung des Willens im raumzeitlichen Kontinuum verloren gegangen ist. Indes, da sich demnach dieses restitutive Wiederherstellungsbemühen, als das sich der funktionalistische Selbstbehauptungsgestus der einzelnen Willensverkörperung interpretieren lässt, im transzendentalen Rahmen und mit den kategorialen Mitteln eben des raumzeitlichen Kontinuums entfalten muss, das den Verlust des Wiederherzustellenden gerade verschuldet hat, kann sich solches Bemühen im Ergebnis auch nur selber ad absurdum führen und erweist sich jeder formell auf Zusammenführung und Einheitsstiftung zielende Kraft- und Aggressionsakt materiell zugleich als eine in ohnmächtiger Selbstvereitelung das genaue Gegenteil bewirkende und nämlich Entzweiung stiftende oder die Zersplitterung des Willens im abstrakten Selbstbehauptungsgestus seines partikularen Erscheinens reaffirmierende Aktion. In einer unentwirrbaren Mischung aus Unglauben, Abscheu, Ironie und Distanzierungsbedürfnis glaubt der Intellektuelle Arthur Schopenhauer die Welt als ein Panoptikum aus divergierenden Willensbekundungen, als ein geistiges Tierreich des Willens entschlüsseln zu können, dessen unendliche Absurdität es ist, bar jeder objektiven Zielsetzung zu sein, und in dem alle nur mögliche Gewalt und jedes nur denkbare Leiden einzig und allein deshalb zugefügt und erduldet wird, weil in zweifacher Verblendung die einzelne Willensverkörperung ihresgleichen oder vielmehr sich selbst in den anderen Willenserscheinungen nicht erkennt und weil sie die Konfrontation mit den als objektiver Widerstand missverstandenen anderen unter Bedingungen und mit Mitteln zu überwinden und zu beenden sucht, die diese Konfrontation nur zu bestätigen und zu verewigen geeignet sind.
Von dieser tiefen Widersprüchlichkeit, in die sich der einzelne Wille per definitionem seiner verlorenen Dingansichhaftigkeit und seines gnoseologischen Verfallenseins an die sublunare Sphäre von Raum und Zeit verstrickt, weiß Nietzsche nichts mehr. Für ihn ist jener metaphysische Hintergrund, vor dem der physische Willenskampf als absurde Spiegelfechterei durchschaubar wird, hinfällig geworden und verschwunden. Für den ein gutes halbes Jahrhundert jüngeren Schopenhauer-Adepten Nietzsche ist der Wille als reiner Selbstbehauptungsgestus, als erklärter Wille bloß zur Macht das Wesen der Physis selbst und nichts weiter, Inbegriff der Natur, der, weil er als solcher das innerste Gesetz der Natur, ja, die mit Natur synonyme Sache selbst ist, auch keinerlei übernatürlicher Begründung oder metaphysischer Motivation mehr bedarf. Für Nietzsche liegt es in der Natur der Dinge, ist es – genauer gesagt – die Natur der Dinge, der anorganischen im Prinzip nicht weniger als der organischen, verkörperter Wille zu sein, im Streit miteinander darum zu liegen, was gegen was sich durchsetzen, wer über wen die Oberhand gewinnen oder behalten, welches Wesen über welches Macht haben soll. Es ist die Natur der Dinge, Wille zu sein und – was haargenau dasselbe meint – sich gegeneinander behaupten zu wollen; und diese einfache Naturgegebenheit, diese unhinterfragbar ursprüngliche Konstellation macht ein metaphysisches Konstrukt wie das Schopenhauersche, mit dem dieser der ihm schmerzlich bewussten Absurdität und Widernatürlichkeit des Vorgangs Rechnung zu tragen sucht, überflüssig. Nicht, dass Nietzsches Willenskampf um die Macht sinn- und zweckvoller wäre als der Schopenhauersche Kampf ums Leben. Das Moment von Ziel- und Zwecklosigkeit, von selbstgenügsamem Funktionalismus, das schon bei Schopenhauer hervorsticht, hat sich eher noch verstärkt, ist eher noch dominanter. Auch hier will der Wille nichts als sich selbst, und er will es einzig und allein deshalb, weil es seine Natur ist zu wollen. Aber die zusätzliche Absurdität, die bei Schopenhauer dadurch in die Sinnlosigkeit hineinkommt, dass der Wille sich seiner ansichseienden Einheitlichkeit und Einzigkeit entrissen und in einen raumzeitlichen Verblendungszusammenhang hinabgestürzt und zersplittert findet, in dem er unter Bedingungen wollen muss, unter denen er sich ständig nur selbst in die Quere kommt, ständig seine scheinbare Selbstbehauptung als tatsächliche Selbstvereitelung praktiziert – diese Absurdität ist verschwunden. Es ist die unhinterfragbare Natur des Willens, in physikalischer und biologischer Gestalt, in unendlich vielen und unendlich mannigfaltigen Verkörperungen zu existieren, und es ist die Natur dieser Willensverkörperungen, dass zwischen ihnen ein Kampf um die Macht, ein Kampf darum tobt, wer auf wessen Kosten, wer gegen den anderen oder auf seinem Boden, wer statt des anderen oder als sein Herr überleben darf. Die Sinnlosigkeit des Selbstbehauptungskampfs aller gegen alle, der, auch wenn ihm nicht mehr die krasse Absurdität eines heimlichen Selbstvereitelungsunternehmens eignet, doch aber dies hinlänglich absurde Moment behält, dass er ein ziellos reiner Verdrängungs- und Ausschaltungswettbewerb ist, dass in ihm letztlich nichts zu gewinnen ist als das rein Negative, durch Unterwerfung, Dienstbarmachung, Opferung der anderen der von ihnen her drohenden Unterwerfung, Dienstbarmachung und Opferung zu entrinnen, kurz, die Möglichkeit, als einzelne Willensverkörperung zu überleben – diese Sinnlosigkeit ist bei Nietzsche zu einer Naturgegebenheit, einer als solche hinzunehmenden Selbstverständlichkeit geworden. Zu einer Selbstverständlichkeit, die Nietzsche mit Emphase affirmiert, die er mit dem Gestus des großen Aufklärers gutheißt, der beschlossen hat, sich und den anderen keinen blauen Dunst mehr vorzumachen und vielmehr rückhaltlos ja zur Welt in dieser ihrer Sinn- und Morallosigkeit zu sagen.
Eben der pathetische Akzent allerdings, durch den seine Jasagerei charakterisiert ist, beweist, dass es mit der Selbstverständlichkeit auch bei ihm nicht gar so weit her ist. Wie Schopenhauer nimmt eigentlich auch Nietzsche moralisierenden Anstoß am allgemeinen Kampf der ebenso ziel- wie gegenstandslos miteinander konkurrierenden Willen, wie jener möchte insgeheim auch er an diesen Kampf den Maßstab des dem traditionellen Intellektuellen eingefleischten Ideals einer objektiven Zweckmäßigkeit legen und von solchem normativen Kriterium her vernichtende Kritik an ihm üben; eben deshalb aber nimmt die Affirmation der Sinnlosigkeit, die er gegen sein eigenes gewohnheitsmäßiges Normbewusstsein praktiziert und durch die er den ziellosen Machtkampf der Willen zum Naturgegebenen, zum Normalen, zu der des idealischen Scheins enthobenen ungeschminkten Wirklichkeit erklärt, die Überdetermination und das falsche Pathos einer als Quia-absurdum-Bekenntnis konzipierten trotzreaktiven Selbstüberwindung an. Ja sagen zur blutigen Sinn- und leidvollen Ziellosigkeit des naturumspannenden, mit Natur synonymen allgemeinen Kampfs ums nackte Überleben, ja sagen zu einem ins mythologische Bild "dionysischer" Bestialität gebrachten permanenten Existieren in Gewalt und einem ewig gleichen Leben aus Zerstörung – das ist es, was mit der ganzen Emphase eines den eigenen falschen Idealismus, eines die schönfärberische Neigung und sentimentale Verlogenheit des eigenen Intellekts heimsuchenden schonungslosen Offenbarungseids Nietzsche sich und seinesgleichen abfordert.
Und dabei traut am Ende auch er sich nicht einmal, dem Willenskampf aller gegen alle eine wirklich absolute Sinn- und Ziellosigkeit zu attestieren. Einen beschränkten, im Rahmen des zwecklosen Funktionalismus des Geschehens sich behauptenden und durchsetzenden Sinn gewinnt vielmehr auch er dem allgemeinen Kampf der Willenserscheinungen ab. Nicht zwar ein Schopenhauersches Wiedergutmachungsstreben, das – wie immer sich selber ad absurdum seines untauglichen Mittels führende – Bemühen des Willens, sich aus der Zersplitterung zu befreien und in ursprünglicher Ganzheit und Einheit wiederherzustellen, gewahrt Nietzsche im Willenskampf am Werk, wohl aber einen eigenen Perfektionierungsdrang, das heißt, eine den kämpfenden Willen eingeschriebene Tendenz, zwecks besserer Behauptung und erfolgreicherer Durchsetzung im Kampf sich an der Stärke der Gegner immer wieder ein Beispiel zu nehmen und in einem fortlaufenden Lern- und Erfahrungsprozess die eigenen Macht- und Zwangsmittel ständig an die Gegebenheiten neu anzupassen und im Blick auf sie zu vervollkommnen. Quasi in einem automatischen Rüstungswettlauf oder – weniger modernistisch und dem historischen Ambiente Nietzsches angemessener ausgedrückt! – einem evolutionistischen Ausleseprozess gibt so der Willensstreit den streitenden Willen selbst Gelegenheit, ihre als solche gleichbleibende Konkurrenzsituation zu einer instrumentellen Verbesserung des Waffenarsenals und einer funktionellen Hebung der Kampfkraft, kurz, im Sinne einer immanenten Entfaltung und Steigerung des Raffinements und Entwicklungsniveaus der Auseinandersetzung zu nutzen.
Dass diese funktionelle Perfektionierungsbewegung sich nicht auf die einzelne Willensverkörperung beschränken und in ihrem Rahmen abspielen kann, sondern zu ihrer Realisierung ganzer artenförmig typisierter Gruppen und generationenmäßig serialisierter Folgen von Willenserscheinungen bedarf, liegt dabei auf der Hand. Anders als bei Schopenhauer, dem der unmittelbar auf eine Wiederherstellung des Willens in seiner ansichseienden Ganzheit und Einheit aspirierende Kampf wesentlich nur als ein zwischen einzelnen Willensverkörperungen geführter Verdrängungswettbewerb gilt, ist für Nietzsche dieser Kampf als ein statt dessen mittelbar auf die Fortentwicklung der Willen zu fürsichseiender Differenziertheit und Vollkommenheit gerichteter ebenso wesentlich ein zwischen Klassen von Willenserscheinungen geführter Überwindungs- und Unterwerfungskampf. Dass die darwinistisch-evolutionäre Bedeutung, die Nietzsche also im Unterschied zu Schopenhauer dem Konkurrenzkampf der Willen konzediert, etwas mit den gesellschaftlichen Veränderungen des 19. Jahrhunderts, nämlich mit dem Übergang der europäischen Gesellschaften aus wesentlich durch die bürgerliche Einzelkonkurrenz geprägten, kommerzialisiert zirkulativen Kapitalkonzentrationsunternehmen in ebenso wesentlich durch den sozialen Klassenkampf bestimmte, industrialisiert produktive Kapitalakkumulationssysteme, zu tun hat – diese Tatsache wird uns später noch näher beschäftigen und sei hier erst einmal bloß angemerkt.
Für die Beurteilung der Bedeutung des Intellekts und der Intellektuellen, für die Einschätzung der Rolle der Intelligenz gleichermaßen im Sinne eines funktionalen Vermögens und einer sozialen Gruppe hat, wie sich denken lässt, die den beiden Philosophen gemeinsame Rückführung der natürlichen Welt im allgemeinen und der menschlichen Gesellschaft im besonderen auf einen umfassenden Konkurrenzkampf der Willen, ein einziges großes Ringen um Macht und Überleben, die nachhaltigsten Folgen. Von dem durch den Akademismus des 19. Jahrhunderts erhobenen und mittels Methodenrigorismus und Quellenkult substantiierten Anspruch auf eine denkbare Objektivität und Sachtreue des Intellekts, eine mögliche Unvoreingenommenheit und Unabhängigkeit des Geistes bleibt unter diesen Bedingungen keine Spur übrig. Die Intelligenz ist als funktionales Vermögen geradeso wie als soziale Gruppe voll und ganz in den Willenskampf eingespannt, ist in dieses weltweite Ringen sei's als willfähriges Organ, als dienendes Instrument, sei's als eigenwilliger Teilnehmer, als streitbarer Duellant integriert. Wesentlich dienendes Instrument ist sie bei Schopenhauer. Vom avancierten Bios, vom Willen in seinen entwickelteren organischen Erscheinungen ins Spiel gebracht, um im Konkurrenzkampf besser bestehen zu können, ist der als Vorstellungs- und Begriffsvermögen bestimmte Geist praktisches Organ der als Leib gefassten Willensverkörperung, die durch ihn die Möglichkeit erhält, sich von ihrer mit anderen Willensverkörperungen bevölkerten Umgebung, ihrem Schlachtfeld, ein gleichermaßen den realen Gegebenheiten und den formalen Zusammenhängen nach repräsentatives Bild zu machen, quasi ein abstraktes Generalstabsmodell vom Ganzen anzufertigen und mit Hilfe dieses in aller Abstraktheit und Begrifflichkeit naturgetreuen Modells dann das Kampfgeschehen draußen zu antizipieren, experimentell durchzuspielen, zu manipulieren, zu kontrollieren, kurz, im leibhaftig eigenen Interesse zu beeinflussen und zu steuern. Was immer der Geist an begrifflicher Darstellung und kategorialer Ordnung vollbringt, um in scheinbar rein objektiver Orientierung, in vermeintlich bloßer Vergegenständlichungsabsicht die Welt als einen durch den Kausalnexus in seinen vier verschiedenen Hauptformen bestimmten einzigen großen Wirkzusammenhang vorstellig und erkennbar werden zu lassen, er tut es in letzter Instanz pro domo eines qua Leib verkörperten Willens, der mittels dieser Vorstellung oder systematischen Begrifflichkeit sich in der Welt besser orientieren und durchsetzen, besser für sich und seinen Erhalt, für sein leibliches Wohl und seinen Bestand als Wille Sorge tragen kann.
In diesem Punkt der Rücksicht auf die Anforderungen des leiblichen Ergehens und der Dienstbarkeit gegenüber den Bedürfnissen des willensmäßigen Bestehens unterscheidet sich auch der begriffsmächtigste, kategorial verfügendste, kurz, vernünftigste menschliche Geist in nichts vom Bewusstsein der Tiere, das in unmittelbarerer, konkret-anschaulicherer, praktisch-vereinzelterer, kurz, bloß verständiger Form die im Prinzip gleichen Zusammenhänge stiftet und die gleiche als Handlungsanweisung wohlverstandene Orientierungshilfe bietet wie jener. Was der menschliche Geist mit seiner verallgemeinernden Abstraktion und Repräsentation raumzeitlicher Erscheinungen und mit seiner kategorialen Erfassung der von Schopenhauer als Hauptverknüpfungsweisen zwischen den Erscheinungen identifizierten Kausalverhältnisse von Ursache und Wirkung, Reiz und Reaktion, Motiv und Handlung sowie Grund und Folge auf den Begriff bringt, sind einerseits die vielen Arten raumzeitlich gegebener Willensverkörperungen und andererseits die vier empirischen Hauptformen, in denen der in diesen Arten verkörperte Wille sich jeweils äußert und auf seine Äußerungen jeweils antwortet. Und was der menschliche Geist durch diese seine Begriffsarbeit leistet, ist, dass er dem menschlichen Leib, seinem Drahtzieher und Auftraggeber, ein Bild von seiner Umgebung vermittelt, mit dessen Hilfe dieser sich auf die letztere einzustellen, in ihr sich zu verhalten und erfolgreich zu behaupten vermag. Wie überlegen nach Umfang und Reichweite, nach Überblick und Antizipationsmöglichkeit der menschliche Geist den Verhaltensweisen und Überlebensstrategien einfacherer Willensverkörperungen also auch sein mag, in der Hauptsache seiner Dienstbarkeit gegenüber dem Überlebensinteresse des verkörperten Willens unterscheidet er sich durchaus nicht von ihnen, unterscheidet er sich in nichts von den Wirkmechanismen, mit denen die anorganischen Verkörperungen ursächlich äußeren Willensakten begegnen, den sensitiven Reaktionen, mit denen die niederen organischen Verkörperungen auf die als Reiz aufgenommenen Willensäußerungen von draußen antworten, und vollends den verstandesmäßigen Aktionen, mit denen sich die höheren Lebewesen unterhalb des Menschen zu den sie bewegenden Motiven ihrer Umwelt verhalten. An den menschlichen Leib gekettet, ist der menschliche Geist ein im Wortsinn dienstbarer Geist, ist er bis in den letzten Winkel seiner scheinbar rein objektiven Orientierungen, autonomen Begriffsbildungen und selbstverantwortlichen Einsichten vom eigentlich handelnden Subjekt, seinem Herrn, dem im Leib verkörperten Willen, okkupiert und bestimmt.